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2 Jonas
ОглавлениеJonas ist zwanzig Jahre alt, heute ist sein Geburtstag, ein kalter und hungriger Tag, wie fast alle Tage in diesem kargen Winter, ganz oben im Norden Schwedens. Sie schreiben den 26.November, im Jahr 1865.
Die Eltern betreiben einen kleinen Hof, der längst seinen bescheidenen Glanz verloren hat. Der Anstrich ist verblasst, die Fensterläden knarren, die Türen ächzen, es gibt nur einen gemeinsamen Wohnraum, dort wärmt ein Herd das Wasser für alle Bedarfe. Dann sind da noch zwei kleine Räume, die zum Schlafen dienen.
Jonas hat drei Schwestern, kühle Schönheiten, blond mit blauengrauen Augen, alle älter als er und unverheiratet, denn wer heiratet schon gerne arm. Das wird einmal auch für ihn gelten, fürchtet er. Die Mutter hat darauf bestanden, dass die Mädchen die Schule besuchen. Sie waren gute Schülerinnen. Seitdem helfen sie am Hof, es gibt genug zu tun. Eine weitere Ausbildung für Mädchen steht nicht zur Diskussion, denn eines Tages wird schon jemand kommen, der sie zur Frau nimmt.
Alle Kinder haben ihr Aussehen vom Vater geerbt,
seine blaugrauen Augen leuchten heute unter silbernem Haar, der einst drahtige Körper ist von der vielen Arbeit abgenutzt. Er soll einmal ein schöner Mann gewesen sein, sagen die Leute.
Ja und die Mutter, Haare schwarz wie Mohn, eine Haut weiß wie Schnee, und stets einen traurigen Blick, traurig wie ihr Leben.
Der Vater hat sie aus einer für die Zeit wohlhabenden jüdischen Handelsfamilie heraus geheiratet, gegen den Willen aller, gegen den Willen seiner lutherischen Kirche. Hinein in eine Mischehe, in der die Mutter versucht hat, alles Jüdische zu vergessen, und in der sie doch mit jedem Kind, das sie gebar, innerlich daran zerbrochen ist, zu wissen, dass es ein lutherisches Kind sein würde. Die Mutter hatte damals keine andere Wahl, der Vater hatte sie geschwängert. Das war und ist der einzige Grund für ihre Verbindung, wissen die Leute, aber nicht die Kinder.
Von den Großeltern weiß Jonas nur sehr wenig. Väterlicherseits sind da keine mehr. Sie haben sich am Hof in einen frühen Tod geschuftet. Beide Großeltern und deren Vorfahren sollen nie etwas anderes als das Dorf gesehen haben. Ja und vor vielen Jahrhunderten sollen sie aus Finnland eingewandert sein, so die Überlieferung.
Der Großvater und die Großmutter mütterlicherseits leben noch. Jonas kann sich aber nur dunkel an sie erinnern. Sie seien weggezogen, hat die Mutter einmal gesagt, in die große Stadt.
Der Großvater handelt mit allerlei Waren, dafür braucht man das Meer und einen Hafen in der Nähe, das weiß Jonas. Wenn die Kinder fragen, warum man die Großeltern denn nicht öfter besuche, kommt meist die Antwort, weil man dort in der feinen Gesellschaft nicht gerne gesehen sei.
Und dann sind da noch zwei weitere Blondschöpfe mit blaugrauen Augen, aber sie leben auf einem anderen Hof, mit einer anderen Mutter und keinem Vater. Offiziell.
Jonas hat die beiden nie kennengelernt, aber damals in der Schule hat er sie gesehen und die Leute tuscheln gehört. Ein Gesicht hätten sie, sein Gesicht oder besser gesagt, das des Vaters.
Das nächste Dorf ist eine gute halbe Stunde Fußmarsch entfernt, dort arbeitet Jonas, er ist Schneiderlehrling, eine andere Ausbildungsmöglichkeit gibt es nicht, es ist ein kleines Dorf.
Tagein tagaus vermisst er junge, alte, schöne, hässliche, freundliche, widerwärtige und manchmal auch heitere Kunden, die sich alle paar Jahre einen neuen Wintermantel leisten, besser gesagt leisten müssen. Die Arbeit ist so wie das Leben hier oben, eintönig, karg und ohne große Perspektiven.
Und Trinkgeld für den Schneiderlehrling? Was ist das, wer hat das schon. Aber Jonas will nicht klagen. Viele seiner ehemaligen Schulfreunde, die meisten auch Kinder eines Bauern, haben keine Lehrstelle oder Arbeit gefunden.
Er selbst ist nun im dritten Lehrjahr, wird seine Ausbildung bald abschließen und dann, ja dann will er etwas schaffen. Nur was, das weiß Jonas noch nicht so genau. Besser, grösser, aufregender und wohlhabender soll es sein. Bunter, fröhlicher und glücklicher als sein heutiges Leben. Wie, wo und wann das sein kein, das ist offen.
Der Vater hingegen hofft, dass Jonas eines Tages den Hof übernehmen wird. Mindestens einmal die Woche erwähnt er es am Frühstückstisch. Jonas antwortet nie, aber sein Blick sagt alles. Dann lässt der Vater missmutig den alten Löffel in den dampfenden, geschmacklosen Getreidebrei fallen, trinkt den letzten Schluck bitteren Tee, schaut ihn still an, sagt nichts und doch alles, und verlässt die Stube. Zurück bleibt der Rest der Familie, ebenso wortlos, denn was hat man sich schon zu sagen in einem Leben, das jenseits des Hofes nichts kennt.
Bei der Arbeit erzählen die Kunden Jonas von der anderen Welt da draußen, der reichen, der schönen, der lebenslustigen. Nein, nicht hier im Norden Schwedens, man muss südlicher reisen und am besten über das Meer, auf das Festland, ins Reich der Preußen oder Habsburger. Dort gibt es die prunkvollsten Städte, Kultur, Kunst, Musik, wunderschöne Frauen, den besten Kuchen und die Hochburgen der Stoff- und Textilindustrie, von denen auch der Schneider kauft.
Für die Kunden, die es sich leisten können.
Jonas versucht die Arbeit bei solchen Erzählungen immer ein wenig in die Länge zu ziehen, da noch ein Stich, hier noch eine Korrektur. Zu schön ist der Film vor seinen Augen. Eine Reise in eine bessere Welt, eine eigene Schneiderei und eine Familie, der er alles bieten kann.
Meist endet der Traum mit einem harschen Rüffel vom Meister. Er solle nicht rumtrödeln, sonst müsse man ihm etwas vom Lohn abziehen. Und überhaupt sei die Arbeit keine Märchenstunde und das Leben kein Preiselbeerkompott, wie der Meister immer zu sagen pflegt.
Das macht Jonas traurig und er fragt sich, wie denn all die Menschen, die heute ein besseres Leben als er führen, eben dorthin gekommen sind. Nur durch Geburt und Erbschaft? Das glaubt er nicht. Er wird die noble Kundschaft weiter aufmerksam beobachten. Solange bis er herausgefunden hat, was zu tun ist, um selbst ein nobler Herr zu werden.
Und dann ist da dieser eine Tag.
Jonas bahnt sich früh morgens den Weg durch den knietiefen Neuschnee zur Arbeit. Es ist noch dunkel, als er in der Schneiderei ankommt. Zu seinen Aufgaben gehört es, alles für den Meister und die Kunden vorzubereiten. Schnittmuster sortieren, Schneiderkreide und Nadeln ordnen, Garne farblich abstimmen, alles für jedes Modell und jeden Kunden. Dann noch Schnee schmelzen und mit dem gewonnenen Wasser Tee aufgießen, aus einer Art Baumflechte,
die angeblich gut gegen Erkältungen wirkt, denn mit der Kundschaft kommen die Grippe, Husten, Fieber und vieles. Und so manches bleibt.
Er hat seine Arbeit fast beendet, als es an der Tür klopft. Glasfenster sind unleistbar für den Schneider, also muss Jonas die Tür öffnen, um zu sehen, wer es ist.
Er öffnet die Tür, erstarrt wie zu Stein - die Türklinke ist sein einziger Halt - und versinkt in den tiefsten, braunen Augen, die er je gesehen hat. Ein wenig wie die seiner Mutter. Unter dem Umhang ragt ein schwarzer langer Zopf hervor, den der schmelzende Schnee in einen Eiszapfen verwandelt hat.
Das Wunderwesen ist klein, zart und irgendwie erbarmungswürdig.
Und als ihn die großen braunen Augen loslassen und er den Blick hebt, sieht er ein anderes, wesentlich größeres, braunäugiges Wesen, mit zornigem Blick aus ebenso dunklen Augen.
Man habe ihnen gesagt, die Schneiderei sei nicht weit von der Kutschenstation entfernt, der Weg mit Sicherheit freigeschaufelt und nebenan ein Café. Wohl alles frei erfunden und dreiste Lügen, noch dazu bei einer Neukundschaft.
Jonas erinnert sich an all das, was er über gutes Benehmen gehört hat, nicht zuhause, sondern von Kunden. Er bittet die griesgrämige Dame und das Zauberwesen in die Stube, klopft den Schnee von
ihren Mänteln, bittet sie abzulegen, hängt die Mäntel fein säuberlich an den Ofen und eilt in den Hinterhof - dort ist die Abstellkammer, die als Küche dient - trocknet zwei der eben gewaschenen, ärmlichen Teetassen und eilt mit dem warmen Gebräu zurück in die Stube.
Das Zauberwesen hat den Zopf gelockert, um das Haar zu trocknen. Jonas sieht wildes, schwarzes Haar um sanfte Augen.
In dem Moment betritt der Meister den Laden und entschuldigt sich vielmals für das tölpelhafte Verhalten seines Lehrlings. Natürlich sei der Weg normalerweise geschaufelt und das mit dem Café nebenan, das müsse ein Missverständnis gewesen sein.
Er nennt die Dame Frau Doktor, macht unentwegt den Diener und tritt Jonas heftig ins Schienbein, wie er es immer tut, wenn er ihm zeigen will, dass etwas absolut nicht stimmt.
Die Frau Doktor ist keine eigentliche Frau Doktor, sondern vielmehr nur die Gemahlin eines Herrn Doktor aus der nahegelegenen Stadt. Die Schneiderei wurde ihr für ihre Tochter empfohlen. Das Mädchen ist so zierlich, dass niemand für sie nähen will oder besser gesagt für die Mutter, deren Ruf sich im ganzen Land mit Windeseile verbreitet hat.
Frau Doktor erzählt, ihre Tochter brauche den Mantel für eine lange Reise. Der Herr Doktor habe einen Lehrstuhl in einer Stadt im Habsburger Reich angenommen und in zwei Wochen sei Abreise.
Nein, man werde dann dort leben und hoffentlich nie wieder nach Schweden zurückkehren. In der neuen Heimat werde alles viel nobler sein als im hier oben im ungehobelten Norden.
Der Meister weist Jonas an, die Vermessung beim Fräulein Tochter vorzunehmen, der Beginn einer kleinen, schmerzhaft süßen Ewigkeit. Er beginnt mit der Rückenlänge, dann Armlänge, Gesäß, Halsumfang und als er die Taille umfasst, nimmt er eilig Abstand, entschuldigt sich für einen Moment und läuft in die Abstellkammer. Nur dieses Mal nicht, um Tee zu holen.
Wenn er doch nur mit dem Wunderwesen auf Reisen gehen könnte, träumt Jonas.
Zurück im Raum wird schnell noch der Anprobetermin vereinbart und schon steht die nächste Kundschaft in der Tür. Es ist die Magd vom Nachbarhof, die ihr ganzes Erspartes zum Schneider trägt, nur um Jonas nahe zu sein.
Aber der blickt durch sie hindurch, zu den beiden Gestalten, die die Straße zurück zur Kutschenstation stapfen.
Und das Mädchen blickt zurück zu ihm, tiefbraune Augen auf einer Haut weiß wie der Schnee, mit Haaren schwarz wie Mohn.