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Kapitel 2 Die Eroberungen der Frühen Neuzeit
ОглавлениеWer heutzutage in der Politik das Sagen hat, von dem erwartet man, dass er für allgemeinen Wohlstand sorgt, für Sicherheit, für Katastrophenhilfe und – nicht zuletzt – für Frieden. Die Erwartungen, die man im frühneuzeitlichen Europa an einen Monarchen stellte, waren vollkommen andere: „Ein Fürst soll kein anderes Ziel haben, keine anderen Gedanken, er darf nichts anderes für seinen Beruf halten als den Krieg“ – so der (etwas einseitige) Ratschlag des Staatsmanns und politischen Philosophen Niccolò Machiavelli. Auch wenn zu Beginn des 16. Jahrhunderts viele vom amoralischen Realismus schockiert waren, der in Machiavellis übrigen Empfehlungen zum Ausdruck kam, so hätte es doch wohl kaum einen Zeitgenossen gegeben, der ihm in diesem einen Punkt nicht zugestimmt hätte: Der „Beruf“ eines Fürsten war der Krieg. Die wenigen damaligen Intellektuellen (vor allem Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Thomas Morus) hätten vielleicht dagegen gewettert, dass sich die Fürsten quasi ständig im Kriegszustand befanden, doch ihre einsamen Stimmen der Vernunft hätten nichts an der harten politischen Realität geändert und lediglich den Eindruck noch verstärkt, dass der Krieg die Hauptbeschäftigung der Monarchen war – zumindest in Europa.1
Auf der anderen Seite der Welt traten die souveränen Herrscher weit weniger angriffslustig auf. So lautete, etwa ein Jahrhundert nach Machiavelli, die Schlussfolgerung des italienischen Jesuiten Matteo Ricci, der als Missionar in China fast 30 Jahre lang versuchte, die kulturelle und politische Elite des Landes für das Christentum zu interessieren. Seiner Ansicht nach war China ohne Weiteres in der Lage, die Nachbarstaaten zu erobern, doch weder die Kaiser noch die chinesischen Behörden hatten ein Interesse daran. „Das zumindest ist so ganz anders in unseren Ländern“, merkte er an; die europäischen Könige treibe vor allem „der unersättliche Wunsch“ an, ihre „Herrschaftsbereiche zu erweitern“.2
Er hatte durchaus recht: In der Frühen Neuzeit gaben die westeuropäischen Staaten ungeheure Mengen Geld für ihre Kriege aus. Noch in den 1780er-Jahren (der früheste Zeitpunkt, für den wir solche Berechnungen anstellen können) betrug der Kriegsetat in Frankreich mehr als 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in Großbritannien waren es sogar 12 Prozent. Für Länder, die an heutigen Maßstäben gemessen relativ arm waren, sind das erstaunliche Zahlen; es war mehr als das Doppelte dessen, was China ausgab.3 (Zum Vergleich: Gegen Ende des Kalten Krieges betrug der Rüstungsetat der USA gerade einmal 5 Prozent des BIP, derjenige der Sowjetunion um die 10 Prozent.4) Mit dem Geld finanzierte man die ersten permanenten Marineflotten Europas und Armeen, in denen (auf die Bevölkerungszahl gerechnet) mitunter mehr Männer dienten als in der Armee des Römischen Reichs.5
Um zu verstehen, was die europäischen Herrscher der Frühen Neuzeit dazu trieb, so viel Geld für ihre Kriege auszugeben, benötigen wir ein Modell, und zwar eine ganz bestimmte Art von Modell, wie es Wirtschaftswissenschaftler verwenden. Mithilfe eines solchen Modells sollten wir in der Lage sein, nicht nur zu erklären, warum die Europäer so viele Kriege führten und so viel Geld dafür ausgaben, sondern auch warum sie – langfristig gesehen – die Schießpulvertechnologie weiter entwickelten als alle anderen. Kurzum, wir streben etwas an, das man in den meisten Analysen der Weltgeschichte heutzutage schmerzlich vermisst: Wir wollen ein allgemeines Argument herausfinden, das für mehr als einen Ort und einen Zeitpunkt gültig ist.
Das Turniermodell wird diese Funktion erfüllen. Und nicht nur das: Es soll die Besonderheiten der Politik und der militärischen Rivalitäten Westeuropas freilegen, der treibenden Kraft sowohl hinter den finanzpolitischen Anstrengungen der europäischen Herrscher als auch hinter der schlussendlichen Vorherrschaft des Kontinents in der Schießpulvertechnologie. Und es wird deutlich machen, warum wir Europas technologischen Vorsprung nicht einfach darauf zurückführen können, dass Europa politisch zersplittert war und auf dem Kontinent quasi ununterbrochen Krieg herrschte. Dies war im Wesentlichen das Argument von Paul Kennedy, das auch von Jared Diamond aufgegriffen wurde. Der wies darauf hin, dass die Westeuropäer den meisten anderen Eurasiern gegenüber keinerlei Vorteile besaßen, was leicht domestizierbare Pflanzen und Tiere oder die Resistenz gegen Krankheiten betraf.6 Das Problem ist, dass sich ihr Argument einfach nicht auf andere Teile der Welt anwenden lässt – insbesondere nicht auf Indien, wo ebenfalls ständig Krieg herrschte, das ebenfalls politisch entzweit war und das in der Schießpulvertechnologie trotzdem nicht vorankam. Unser Modell wird uns verraten, warum das so war.
Im ersten Schritt bei der Konstruktion eines solchen Modells müssen wir zunächst danach fragen, warum die europäischen Herrscher Krieg führten. Damit schaffen wir für das Modell eine Basis, die die Politik hinter der Entscheidung der Herrscher, in den Krieg zu ziehen, berücksichtigt sowie den Effekt, den ein solcher Krieg auf die Rüstungstechnologie hatte. Dies werden wir zunächst für Westeuropa tun und feststellen, ob die Geschichte die Erkenntnisse unseres Modells bestätigt. Und weil das Modell allgemeingültig sein soll, werden wir es im Anschluss auf den Rest Eurasiens anwenden. Dadurch werden wir feststellen, welches die letztendlichen Ursachen dafür waren, dass die Europäer die Schießpulvertechnologie so lange dominierten.