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Wurden die vier Bedingungen im Westeuropa der Frühen Neuzeit erfüllt?
ОглавлениеWann und wo können wir diese vier Bedingungen für die Verbesserung der Schießpulvertechnologie verorten? Beschränken wir uns für den Moment auf die Frühe Neuzeit (in Kapitel 6 wird es um das 19. Jahrhundert gehen) und auf Westeuropa. Für den Rest Eurasiens werden wir diese Frage im folgenden Kapitel beantworten.
In Westeuropa wurde die erste Bedingung in der gesamten Frühen Neuzeit eindeutig erfüllt: Die Herrscher der wichtigsten Mächte bekämpften einander unerbittlich und ununterbrochen (Tabelle 2.1). Dass sie das taten, kann uns kaum überraschen, schließlich haben wir bereits erfahren, dass die europäischen Herrscher zum Kämpfen erzogen wurden und dass sie den militärischen Gewinn, der sie erwartete, für besonders wertvoll hielten, seien es territoriale Zugewinne, wirtschaftliche Vorteile, der Sieg über die Feinde des Glaubens oder – laut Thomas Hobbes – Ruhm und Reputation. Was auch immer davon sie sich versprachen: Es war eindeutig die Mühe wert.
Zweitens waren ihre Fixkosten niedrig. Das lag zum Teil daran, dass bereits ihre Vorgänger entsprechende Steuern erhoben, Schiffswerften gebaut und ein System etabliert hatten, mit dessen Hilfe Soldaten ausgehoben, Schiffe beschlagnahmt und Vorräte transportiert werden konnten. Da sie lediglich übernahmen, was ihre Vorgänger längst geschaffen hatten, war ein Großteil der Fixkosten bereits bezahlt – in der Sprache der Ökonomen waren dies „sunk costs“ – versunkene Kosten.
Ein weiterer wichtiger Grund dafür, dass die Fixkosten in Westeuropa so niedrig waren, war die Tatsache, dass die Länder so nahe beieinander lagen. Hier kämpften die westeuropäischen Mächte gegeneinander und nicht gegen irgendwelche abgelegenen kolonialen Vorposten. Die Distanzen waren schon deshalb so klein, weil die westeuropäischen Großmächte im Vergleich zu anderen Reichen der Frühen Neuzeit allesamt winzig waren.57 Die Länder lagen so nahe beisammen, dass ihre Herrscher in der Regel gar keine riesige Invasionsarmee aufstellen mussten, um einen Krieg zu beginnen, und das wiederum sorgte dafür, dass die Fixkosten niedrig blieben. Es gab natürlich Sonderfälle wie die spanische Armada oder den Krieg der Spanier gegen die Niederlande – aber das waren Ausnahmen, nicht die Regel.
Ihre variablen Kosten bei der Mobilisierung von Ressourcen waren ebenfalls ähnlich. Laut unserem Modell müssten die Steuern, die die Herrscher erhoben, wenn sie gegeneinander Krieg führten, in etwa gleich hoch gewesen sein. Und das war auch tatsächlich der Fall – zumindest was die Konflikte zwischen Großmächten wie Frankreich und Spanien im 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts oder zwischen Frankreich und Großbritannien im 18. Jahrhundert betrifft. Die meisten Großmächte waren auch etwa gleich groß, und bei den etwas kleineren, wie den Niederlanden und Großbritannien, wurde die geringere Fläche durch eine besonders starke Volkswirtschaft und leistungsfähige repräsentative Institutionen ausgeglichen, die für ein höheres Pro-Kopf-Steueraufkommen sorgten.58 Die meisten konnten ihre Kriege auch problemlos durch Kredite finanzieren, wobei es die repräsentativen Institutionen kleineren Ländern ermöglichten, dies zu niedrigeren Kosten zu tun.59
Man kann also nachvollziehen, dass im frühneuzeitlichen Europa ununterbrochen Krieg herrschte – die erste unserer vier Bedingungen für eine produktivere Schießpulvertechnologie ist also erfüllt. Und wie sieht es mit den drei anderen aus?
Die zweite Bedingung sieht vor, dass hohe Summen in den Krieg investiert werden, und das geschieht, wenn die Herrscher um einen wertvollen Gewinn kämpfen und in der Lage sind, Ressourcen zu niedrigen variablen Kosten zu mobilisieren. Wir haben bereits festgestellt, dass die westeuropäischen Herrscher um Gewinne kämpften, die sehr wertvoll für sie waren. Doch waren ihre variablen Kosten auch niedrig?
Besonders hohe Steuern während eines Krieges wären ein klares Zeichen dafür, dass dem so war. An diesem Maßstab gemessen, waren die Steuern in Westeuropa an eurasischen Standards gemessen tatsächlich vernichtend. Den deutlichsten Beweis erhält man, wenn man das Steueraufkommen in den westeuropäischen Ländern mit demjenigen im Osmanischen Reich vergleicht. Die osmanischen Sultane führten Krieg gegen europäische Staaten, kämpften also um denselben Gewinn. Aber im 18. Jahrhundert waren ihre Steuereinnahmen geringer als der Durchschnitt der großen europäischen Mächte, geringer als diejenigen ihres wichtigsten Gegners, Österreich, und viel geringer als das Steueraufkommen von Frankreich, England oder Spanien.60 Folglich hatten die Europäer niedrigere variable Kosten beim Mobilisieren ihrer Ressourcen als die Osmanen.
Wahrscheinlich waren ihre variablen Kosten auch niedriger als diejenigen Chinas, denn die Pro-Kopf-Besteuerung in Kriegszeiten war in Europa viel höher als in China (Tabelle 2.3). Wenn wir die Steuern in Arbeitstagen messen und über einen längeren Zeitraum betrachten, kommen wir auch zum gleichen Ergebnis. Zwar könnte dieser Unterschied auch einfach darauf zurückzuführen sein, gegen wen China Krieg führte oder dass man in China um einen weniger wertvollen Gewinn kämpfte; andererseits wird unsere Theorie dadurch untermauert, dass es in China offenbar zwei Faktoren gab, die dafür sorgten, dass die Steuern niedrig blieben: die Gefahr von Aufständen bei zu hoher Besteuerung und die Eliten, die in dem riesigen Reich leichter Steuergelder abschöpfen konnten.61 Letztlich deutet alles darauf hin, dass die variablen Kosten in Europa besonders niedrig waren und dass die Großmächte deshalb für ihre Kriege enorme Summen mobilisieren konnten.
Damit müssen wir nur noch die dritte und die vierte Bedingungen überprüfen: dass die Herrscher der westeuropäischen Großmächte die Schießpulvertechnologie ausgiebig nutzten und dass sie auf die neuesten Fortschritte in dieser Technologie problemlos zugreifen konnten. Dass sie sich fast ausschließlich auf die Schießpulvertechnologie verließen, müssen wir nicht weiter ausführen. Im Gegensatz zu den Chinesen mussten sich die europäischen Herrscher weder mit Nomaden herumschlagen, noch mussten sie gegen große Kavalleriearmeen zu Felde ziehen wie ihre Kollegen in Osteuropa, dem Nahen Osten oder Südasien.62 Sie konzentrierten sich voll und ganz auf ihre Feuerwaffen und ließen die älteren Technologien, die längst nicht mehr per Learning by Doing verbessert werden konnten, größtenteils außen vor.
Tabelle 2.3. Jährliche Pro-Kopf-Besteuerung in China, England und Frankreich, 1578 und 1776 (in Gramm Silber)
Quellen: Zu Frankreich: Hoffman und Norberg 1994, 238–239. Zu England: die von Richard Bonney zusammengestellte European State Finance Database (http://www.le.ac.uk/hi/bon/ESFDB/dir.html, abgerufen am 14. März 2014), von Mark Dincecco auf der Webseite der Global Price and Income History Group gepostet (http://gpih.ucdavis.edu/, abgerufen am 14. März 2014) und in Dincecco 2009 erläuterte Daten sowie Bevölkerungszahlen von Wrigley, Schofield et al. 1989, Tabelle A 3.1. Zu China: Huang 1998, Myers und Wang 2002, Liu 2009; Angaben zu Einheiten, Silberäquivalente und dem Preis für Getreide in China bietet die Webseite der Global Price and Income History Group.
Anmerkung: Die Zahlen für England und Frankreich sind Zehnjahresmittel. Die Zahlen für China sind Schätzungen im oberen Bereich, die folgende Annahmen beinhalten: 1578 betrug die Bevölkerung 175 Millionen, 1776 betrug sie 259 Millionen; die Getreideabgabe im Jahr 1578 ist in Silber umgerechnet, mit 1 Shi = 0,6 Tael Silber; die Dienstleistungsabgabe im Jahr 1578 betrug 10 Millionen Tael pro Jahr; die unter zentraler Kontrolle der Regierung erhobenen Steuern im Jahre 1578 beinhalteten Zwangsabgaben, die nach Peking oder Nanjing geschickt wurden, plus 25 Prozent der Dienstleistungsabgabe; 1776 wurden 87 Prozent der Steuern zentral von der Regierung kontrolliert. Ein Frieden hätte in allen drei Ländern die Steuern reduziert, aber in allen verglichenen Zeiträumen wurde Krieg geführt. China befand sich 1578 und 1776 im Krieg, England war in den 1570er-Jahren durchgehend sowie in 7 Jahren der 1770er-Jahre an bewaffneten Konflikten beteiligt, und Frankreich führte in 3 Jahren der 1570er-Jahre sowie in 5 Jahren der 1770er-Jahre Krieg. Vergleiche über längere Zeiträume, in denen Frieden oder Krieg herrschte, führen zum gleichen Ergebnis, nämlich dass die Steuern pro Kopf in Westeuropa deutlich höher waren als in China; misst man die Steuerbelastung in Arbeitstagen ungelernter Arbeiter, ist das Ergebnis ebenfalls das gleiche. Vgl. Brandt, Ma, et al. 2014, Tabelle 3.
Zugegebenermaßen gaben einige wenige Herrscher noch Geld für eine alte Technologie aus, die sich immerhin noch ein Stück weit verbessern ließ: den Galeerenkrieg. Die Galeere war schon in der Antike als Kriegsschiff verwendet worden. Sie war besonders gut für die amphibische Kriegführung in den leichten Winden des Mittelmeerraums geeignet, kam aber auch im Schwarzen Meer und der Ostsee zum Einsatz. Im Mittelalter machte man die Galeeren effektiver, und Anfang des 16. Jahrhunderts wurden sie mit Geschützen versehen, deren Geschosse stark genug waren, um Schiffsrümpfe zu durchschlagen. Damit jedoch war die Obergrenze der technologischen Weiterentwicklung dieser antiken Technologie auch schon erreicht. Man konnte ohnehin nur wenige Geschütze auf einer Galeere installieren, um die Ruderer nicht allzu stark zu belasten, und da man auf diesen Schiffen nur wenig Stauraum für Trinkwasser hatte, war auch ihre Reichweite stark eingeschränkt. Darüber hinaus waren sie den neueren bewaffneten Segelschiffen im Kampf klar unterlegen, zumal man auf den Galeeren die Kanonen nur am Bug oder am Heck montieren konnte und nicht an den Breitseiten. An dieser Stelle gilt es jedoch festzuhalten, dass die Galeerenflotten relativ klein waren, zumindest was die westeuropäischen Großmächte betrifft. Frankreich besaß wohl noch die größte Galeerenflotte, aber selbst diese wurde von der französischen Segelschiff-Marine, die weitaus kostspieliger war, bei Weitem in den Schatten gestellt.63
Und die vierte Bedingung? Hatten die Herrscher Westeuropas Zugriff auf die jeweils neuesten Verbesserungen der Schießpulvertechnologie, und konnten sie sie ohne Weiteres übernehmen? Auch hier ist die Antwort ein klares Ja. Es gab wenig, das sie daran gehindert hätte. Selbst Handels- und Waffenembargos konnten nicht verhindern, dass sich die neuesten Waffen, Fertigkeiten sowie taktische Innovationen über die Landesgrenzen hinweg verbreiteten, zumal die Durchsetzung solcher Embargos im frühneuzeitlichen Europa ziemlich schwierig war. Im 16. Jahrhundert beispielsweise konnte Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, nicht verhindern, dass Büchsenmacher aus Nürnberg seinen Feind, dem König von Frankreich, mit Feuerwaffen belieferten; sie hielten sich einfach nicht an das von ihm erlassene Handelsverbot.64 Das größte Hindernis für die Verbreitung des technischen Fortschritts waren tatsächlich die Entfernungen, und diese spielten in Europa kaum eine Rolle. Es gab Märkte für militärische Güter und Dienstleistungen, die bei der Verbreitung halfen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: So rekrutierte der Sohn Karls V., der spanische König Philipp II., talentierte Militärarchitekten aus seinen Herrschaftsgebieten in Italien und begabte Kanoniere aus Flandern, Frankreich und Deutschland. Zwei Jahrhunderte später subventionierten die Franzosen den britischen Eisenfabrikanten William Wilkinson, um mithilfe seiner Technologie Kanonen herstellen zu können.65 Noch effektiver war es offenbar, die Innovationen anderer schlicht zu kopieren, vor allem wenn ein Krieg vorüber war und klar wurde, warum welche Waffen und Strategien funktioniert hatten bzw. gescheitert waren. Vor allem aber war nach einem Krieg zumeist wieder genügend Zeit und Geld da, sodass sich Armeen und Flotten neu bewaffnen und organisieren konnten. Wie wir bereits festgestellt haben, verbesserten die Franzosen nach dem Hundertjährigen Krieg (1337–1453) und insbesondere nach ihrer Niederlage im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) ihre Artillerie, indem sie die neuesten Erfindungen kopierten. Durch Nachahmung verbreiteten sich auch innovative Techniken im Schiffbau und neue Taktiken für den Seekrieg.66
Ein weiteres Hindernis neben der räumlichen Distanz war, dass zur Umsetzung fortschrittlicher Technik oft eine ganze Reihe ergänzender Fähigkeiten nötig waren, sodass ein Herrscher zur Übernahme bestimmter Innovationen gleich ein ganzes „Paket“ erwerben musste. Ein Beispiel: Eine der entscheidenden Verbesserungen der französischen Artillerie im 18. Jahrhundert war ein neuartiger Produktionsprozess für Feldgeschütze. Hatte man bislang Gussformen mit hohlem Kern verwendet, so goss man die Kanonen nun als solide Blöcke, die man anschließend ausbohrte. Dieses Verfahren machte die Kanonen genauer und verlässlicher; die Zahl der Geschütze, die die ersten Tests überstanden, stieg deutlich. Aber um diese Technologie einzuführen, bedurfte es ganzer Mannschaften von Facharbeitern, die man zunächst sorgfältig ausbilden und anleiten musste.
Der Schweizer Geschützgießer, der den neuen Herstellungsprozess perfektioniert hatte, beklagte sich, dass wenn die Auftragslage nachlasse und einige seiner Mitarbeiter ihn verlassen würden, er dann später große Schwierigkeiten hätte, Ersatz zu finden und auszubilden, wenn die Nachfrage nach seinen Produkten wieder stiege. Als man ihn bat, seine neue Technik nach Spanien, einem Verbündeten Frankreichs, zu exportieren, stellte er die Bedingung, eine ganze Gruppe von Facharbeitern mit ins Land bringen zu dürfen. Er ließ sich sogar vertraglich zusichern, dass jedem seiner Mitarbeiter, der kündigen wollte, schwere Strafen drohten.67
Man sieht: Nur den Geschützgießer anzuheuern, nützte dem König von Spanien wenig. Er brauchte auch dessen Mitarbeiter, ansonsten hätte er warten müssen, bis der Schweizer ein kompetentes Team aufgebaut und gedrillt hätte. Innovationen breiteten sich umso langsamer aus, je mehr sie auf Fähigkeiten beruhten, die in der Zivilwirtschaft eher rar gesät waren (wie Schiffsnavigation oder Metallverarbeitung).
Immerhin war ein Herrscher in Westeuropa durchaus in der Lage, solche Teams zusammenzustellen, denn erfahrene Soldaten, Offiziere, Handwerker und Architekten reisten durch den gesamten Kontinent, um ihre Dienste anzubieten (wie übrigens auch viele zivile Handwerker). So konnten sich militärische Innovationen in Westeuropa in der Regel ungehinderter ausbreiten als zum Beispiel in Asien, wo technisch begabte Handwerker vielfach durch verwandtschaftliche Bande oder aus religiösen Gründen an einen Ort gebunden waren, was ihre Mobilität stark einschränkte, wie einige Forscher meinen.68
Somit waren im Westeuropa der Frühen Neuzeit also alle vier Bedingungen unseres Wettbewerbsmodells erfüllt; wir dürfen also davon ausgehen, dass die Schießpulvertechnologie stetig weiterentwickelt wurde. Für das Spätmittelalter können wir eine ähnliche Prognose wagen, denn schon damals gab es aktive Märkte für Rüstungsgüter und dienstleistungen, und die Herrscher kämpften um den gleichen Gewinn und begannen, auf breiter Front die Schießpulvertechnologie zu verwenden (zumindest nach unserer recht weit gefassten Definition dieser Technologie). Außerdem hatten einige spätmittelalterliche Herrscher in ihrem Reich bereits die ersten permanenten Steuern eingeführt (oft mithilfe repräsentativer Institutionen): Sie kassierten Exportabgaben, Salzsteuer und Herdzins, Einkommens- und Vermögenssteuer, und vermutlich waren auch ihre variablen Kosten für das Mobilisieren von Ressourcen ziemlich gering.69 Da alle vier Bedingungen erfüllt waren, dürfen wir also auch für das Europa des 14. und 15. Jahrhunderts zahlreiche Innovationen erwarten.