Читать книгу Wie Europa die Welt eroberte - Philip Hoffman - Страница 11
Warum die Herrscher Krieg führten
ОглавлениеWenn wir danach gehen, wofür die westeuropäischen Staaten in der Frühen Neuzeit Steuern erhoben bzw. sich Geld liehen, so scheint der Krieg tatsächlich ihr einziger Zweck gewesen zu sein. Natürlich finanzierten sie auch die Justiz, bauten Paläste, gaben Geld für Infrastruktur und Hungerhilfe aus. Aber die dafür aufgewendeten Summen waren minimal – zumindest was die europäischen Großmächte betrifft, war es nicht mehr als ein Taschengeld. Selbst die prachtvollste aller Königsresidenzen, das Schloss von Versailles, verschlang weniger als 2 Prozent der Steuereinnahmen Ludwigs XIV.; 40 bis 80 Prozent der öffentlichen Einnahmen flossen direkt ins Militär und finanzierten das Heer und die Kriegsflotte, die sich beide fast ohne Unterbrechung im Gefechtszustand befanden (Tabelle 2.1). Wenn wir die Summen dazuzählen, die dafür aufgewendet wurden, Alliierte zu subventionieren und die Kredite für vergangene Kriege abzuzahlen, so war der Anteil der jährlichen Militärausgaben sogar noch höher – in England, Frankreich und Preußen lag er bei weit über 90 Prozent der staatlichen Mittel (Abbildung 2.1). Und so weit wir die Zahlen überblicken können, blieb er auf diesem hohen Niveau.7
Tabelle 2.1. Häufigkeit von Krieg in Europa
Quellen: Wright 1942, Bd. 1: Tabellen 29, 45, 46. Levy 1983 kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Anmerkung: Als europäische Großmächte gelten hier Österreich, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, das Osmanische Reich, Polen, Preußen, Russland, Spanien und Schweden.
Im frühneuzeitlichen Europa entschied üblicherweise ein Alleinherrscher, z.B. ein König oder Fürst, darüber, ob sein Land in den Krieg zog. Natürlich besaß er auch Berater, und oftmals hatten einflussreiche Eliten oder einzelne Minister ein Wörtchen mitzureden (wie zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Graf de Olivares, der wichtigste Minister des spanischen Königs, oder sein französisches Pendant, Kardinal Richelieu). Aber die Annahme, dass der jeweilige König oder Fürst in Sachen Kriegführung die eigentlichen Entscheidungen traf, ist dennoch nicht weit von der historischen Wirklichkeit entfernt. Selbst im Großbritannien des 18. Jahrhunderts, als das Kabinett großen Einfluss darauf hatte, wie ein Krieg geführt wurde und das Parlament sich in die Außenpolitik einmischen konnte, war „die Außenpolitik noch immer das Vorrecht des Königs“ – immerhin konnte er sich seine Minister aussuchen, die dann das Parlament in seinem Sinne lenkten.8
Dass ein Alleinherrscher ein gewisses Maß an Unterstützung durch die mächtigen Eliten seines Landes brauchte, wenn es darum ging, die für einen Krieg nötigen Steuern zu erheben oder Ressourcen zu mobilisieren, lag an den politischen Kosten, die ein Monarch bei seiner Entscheidung für oder gegen einen Krieg berücksichtigen musste. Diese Kosten variierten zumeist von Provinz zu Provinz, denn in puncto Steuersystem waren Königreiche wie Frankreich oder Spanien alles andere als homogen. Erst im 19. Jahrhundert galten dort in allen Regionen die gleichen Steuergesetze. Und auch die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen wurden in unterschiedlicher Höhe zur Kasse gebeten, wobei die privilegierteren Untertanen oft überhaupt keine Steuern zahlten. Wie wir sehen werden, waren es oftmals die Adligen, die die Kriegspläne ihrer Herrscher unterstützten, und auch die Kaufleute – zumindest bei den Seemächten, für die ein militärischer Sieg im Zeitalter des Merkantilismus wirtschaftliche Vorteile oder Monopolgewinne einbrachte. Insofern erfuhren die Herrscher Europas nicht selten politische Unterstützung, wenn sie in den Krieg ziehen wollten.
Abbildung 2.1. Anteil des jährlichen Staatshaushalts, der für Kriege ausgegeben wurde: England, Frankreich, Preußen 1600–1790. Die Zahlen für England und Frankreich – nicht jedoch Preußen – umfassen Subventionen für Verbündete und einige (aber nicht notwendigerweise alle) Schuldenrückzahlungen. Die Ausgaben im Falle von England sind öffentliche Nettoausgaben. Quellen: Mitchell und Deane 1962, 389–391 (Britain), European State Finance Database (http://esfdb.websites.bta.com, abgerufen am 5. Mai 2011). Die Daten für Frankreich und Preußen wurden von Richard Bonney und Martin Körner zur Verfügung gestellt.
Aber was war es denn nun genau, das die europäischen Könige zu den Waffen greifen ließ? Mit dieser Frage müssen wir uns eingehender beschäftigen, um zu beantworten, was es mit diesem Turnier auf sich hatte. In den westeuropäischen Großmächten lag die Kontrolle über die Kriegführung seit Entstehung dieser Staaten im Spätmittelalter oder im 16. Jahrhundert in den Händen der Monarchen. Ganz gleich, ob diese Staaten durch Heirat, durch Erbschaft oder durch den Sieg über in- oder ausländische Widersacher entstanden waren: Die Herrscher erhoben Steuern und gewährten ihren Untertanen im Gegenzug Schutz vor Feinden aus dem Ausland; das galt sogar für neu eroberte Provinzen. In moderner Terminologie könnte man sagen: Die Steuererträge des Staates finanzierten das öffentliche Gut der Verteidigung.
Dieses öffentliche Gut war kostbar, wie jeder bezeugen konnte, der die Schrecken des Hundertjährigen Krieges in Frankreich oder des Dreißigjährigen Krieges in Mitteleuropa überlebt hatte. Aber die Herrscher des frühneuzeitlichen Europa gaben wahrscheinlich weit mehr für die Verteidigung ihres Staates aus als dem durchschnittlichen Untertan lieb war. Und sie führten auch Angriffskriege, die beileibe nicht nur dazu dienten, ihr Königreich zu schützen.9
Die Gründe dafür waren relativ einfach nachzuvollziehen. Zunächst einmal wuchsen Könige und Fürsten in einem äußerst martialisch geprägten Umfeld auf. Sie bekämpften einander schon als Kinder mit Spielzeugpiken und musketen, als Jugendliche wurden sie dann an den echten Waffen ausgebildet. Im Alter von 7 Jahren eroberte der spätere König Philipp IV. von Spanien eine Miniaturburg mit einer riesigen Armee von Spielzeugsoldaten, die das Heer darstellte, das sein Vater in den Spanischen Niederlanden unterhielt. Und sein französischer Amtskollege, der spätere Ludwig XIII., durfte schon mit 8 Jahren die Spielzeugwaffen und -kriegsschiffe im Kinderzimmer lassen und echte Musketen abfeuern. Als sie älter wurden, erfuhren die Fürsten von ihren Vätern, dass allein der Krieg der Weg zum echten Ruhm war – Ludwig XIV. zum Beispiel instruierte seinen Sohn, dass sich Könige erst im Krieg „auszeichnen können … und die großen Erwartungen erfüllen, … die die Öffentlichkeit in sie setzt“. Wenn sie dann schließlich selbst auf dem Thron saßen, machten ihnen Berater wie Machiavelli klar, dass es letztlich ihr Beruf war, Krieg zu führen. Und am Ende gab ihnen der eigene religiöse Eifer noch einen Grund mehr, gegen Muslime, gegen Heiden auf weit entfernten Erdteilen oder, nach der Reformation, gegen Christen des anderen konfessionellen Lagers vorzugehen. Daher wird niemanden verwundern, dass Krieg zu führen für die Monarchen Westeuropas weit mehr war als ein Mittel zur Selbstverteidigung – es war, in den Worten Galileos, ein „königlicher Sport“.10
Im Laufe des 17. Jahrhunderts nahm die Zahl der kriegerisch ausgetragenen religiösen Konflikte ab, und das trug im folgenden Jahrhundert dazu bei, auch Streitigkeiten um die dynastische Erbfolge (ein weiterer traditioneller Konfliktherd) zu unterdrücken. Auch der Ruhm verlor im 18. Jahrhundert als Motiv für Kriege an Bedeutung – nun führten die Großmächte Krieg, weil sie ihren Ruf bewahren wollten, weil sie sich wirtschaftliche Vorteile davon versprachen oder weil sie einem schwächeren Nachbarn bestimmte Gebiete entreißen wollten. Doch noch immer war der Krieg das, „was … Herrscher taten“. Er war schlichtweg die übliche Methode, ein Ziel zu erreichen, und er blieb für die Monarchen genauso attraktiv wie für große Teile der westeuropäischen Aristokratie. Der Kriegsdienst galt seit Langem als traditionelle Betätigung des europäischen Adels, und im 18. Jahrhundert hatten die meisten Adelsfamilien Söhne beim Militär. Der Militärdienst versprach Ehre, und auch Bürgerlichen bot sich hier die Chance auf einen sozialen Aufstieg.11 Bei Seemächten wie England oder den Niederlanden gingen auch Angehörige wohlhabender Kaufmannsfamilien zur Marine, vor allem wenn ein Feldzug gegen politische oder religiöse Feinde auch wirtschaftliche Vorteile versprach. Insofern gab es für die politischen Eliten der frühneuzeitlichen Monarchien Europas gewichtige Gründe, die militärischen Vorhaben ihres Königs zu unterstützen, und das wiederum bedeutete, dass der König kaum mit politischer Opposition zu rechnen hatte, wenn er beschloss, dass sein Land in den Krieg ziehen würde.
Für die großen Monarchen des frühneuzeitlichen Europa war ein gewonnener Krieg eine Quelle des Ruhms bzw. eine Möglichkeit, ihren Ruf zu verbessern. Wenn sie ihren weniger bedeutenden Nachbarstaaten Teile ihres Territoriums entrissen, konnten sie ihre Ressourcen mehren, und mitunter brachte es ihnen auch strategische Vorteile. Aber die Ruhmsucht und der unbedingte Wunsch, die eigene Position zu stärken, konnten durchaus auch dazu führen, dass sie riesige Summen ausgaben, um winzige Gebiete zu erobern. Viele ihrer Ziele (insbesondere die nicht wirtschaftlich motivierten) mögen uns heute seltsam erscheinen, aber es gibt sicherlich auch moderne Analogien – beispielsweise den Wettstreit zwischen den USA und der UdSSR, wer den ersten Mann auf den Mond schicken würde. Für ihre Zeitgenossen waren die Ambitionen der Monarchen ohnehin ganz normal. Thomas Hobbes nennt in Leviathan (1651) Ruhm und Reputation als eine der drei Ursachen des Krieges; andere hellsichtige Beobachter, bis hin zu den Humanisten des 15. Jahrhunderts, sahen das genauso.12 Andererseits waren die Risiken, die ein verlorener Krieg mit sich brachte, nicht sonderlich groß: Unter Umständen büßte der König ein Stück seines Herrschaftsgebiets ein, doch auf seinen Thron musste er nicht verzichten. Außer im Fall von Bürgerkriegen musste zwischen 1500 und 1790 keiner der großen westeuropäischen Monarchen abdanken, weil er eine Schlacht verloren hatte (Tabelle 2.2).
Tabelle 2.2. Wahrscheinlichkeit, dass der Souverän einer europäischen Großmacht abgesetzt wurde, nachdem er einen Krieg verloren hatte.
Quellen: Langer 1968, Darby und Fullard 1970, Levy 1983, Clodfelter 2002. Anmerkung: Kriege sind der Liste bei Clodfelter entnommen und nach dem Zeitpunkt ihres Endes datiert. Dies beinhaltet nur Kriege, an denen Großmächte beteiligt waren, siehe Levy zur Liste der Großmächte und den Zeiträumen, in denen sie als Großmächte gelten können. Der Begriff „abgesetzt“ beinhaltet: verbannt, eingekerkert, verstümmelt, hingerichtet und zum Selbstmord gezwungen. Nicht enthalten sind alle Herrscher, die in der Schlacht fielen, was allerdings an der Tabelle kaum etwas ändern würde. Ein Souverän verlor einen Krieg, wenn er ein Gebiet abtreten musste, seine Armeen in die Flucht geschlagen wurden oder seine Gegner eindeutig als Sieger aus dem Krieg hervorgingen (nach Clodfelter und Langer). Der Begriff „Souverän“ umfasst alle Monarchen, egal ob absolut oder konstitutionell. Bei Republiken gilt als Souverän das Parlament oder die gesetzgebende Versammlung, wenn die gesetzgebende Versammlung ihre Souveränität mit einem Präsidenten oder einem anderen Vertreter der Exekutive teilte, dann gilt als Souverän die Gesamtheit aus dem Vertreter der Exekutive und der gesetzgebenden Versammlung.
Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl V. ist nicht leicht zu verorten, da er die Gebiete der österreichischen Habsburger erbte, aber zugleich König von Spanien war. In dieser Tabelle gilt er als ein Souverän der österreichischen Herrschaftsgebiete. Man könnte ihn auch als Spanier definieren, da er seinen Bruder Ferdinand zum Regenten all seiner österreichischen Habsburger-Gebiete machte – der springende Punkt ist: Die Tabelle sähe dann trotzdem genauso aus wie jetzt.
Nun wird langsam klar, warum die Herrscher der Frühen Neuzeit ständig in den Krieg zogen. Was Staaten überhaupt dazu treibt, sich zu bekriegen, ist ein Rätsel, das Ökonomen und Politologen gleichermaßen beschäftigt – man fragt sich mit Recht, warum sich die Regierenden nicht einfach darauf einigen, demjenigen, der die größte Chance auf den Sieg hat, einfach das zu geben, was er im Falle eines Krieges gewinnen würde; so könnte man viele Menschenleben retten und würde weniger Ressourcen verschwenden. Aber solche Vereinbarungen lassen sich niemals treffen – Herrscher ziehen lieber in den Krieg und nehmen alle schlimmen Konsequenzen in Kauf.13 Für dieses Phänomen hält die politik- und wirtschaftswissenschaftliche Literatur mehrere Erklärungen parat. Zwar sind sie alle auf das frühneuzeitliche Europa anwendbar, doch zwei von ihnen sind besonders passend.
Die erste Erklärung ist, dass die Herrscher, die die Entscheidung fällten, ob ihr Land in den Krieg zog – die frühneuzeitlichen Könige und Fürsten Europas – im Falle eines Sieges einen unverhältnismäßig großen Anteil an der Beute erhielten, während sie im Falle einer Niederlage einen wesentlich kleineren Anteil an den Kosten trugen. Schließlich waren sie es selbst (und nicht etwa ihre Untertanen), die sich im Ruhm sonnten und sich als große Strategen feiern ließen, obwohl ihre Armeen die eigentliche Arbeit erledigt hatten. Die Kosten für den Krieg trugen sie nur zu einem kleinen Teil selbst, das meiste blieb an ihren Untertanen hängen, vor allem jenen, die nicht der Elite des Landes angehörten; sie zahlten Steuern oder wurden ins Heer eingezogen, hatten aber kaum politischen Einfluss. Wenn sich Herrscher in einer solch voreingenommenen Situation befinden, ist es nahezu unmöglich, einen Kompromiss zu erreichen, durch den sich ein Krieg vermeiden ließe, selbst wenn die Parteien einander mit ihren Ressourcen kompensieren würden.14
Aber es gab noch ein weiteres schwerwiegendes Hindernis, das verhinderte, dass man sich friedlich einigte – die Kriegsbeute ließ sich nicht aufteilen. Der Ruhm, um den die Fürsten und Könige der Frühen Neuzeit kämpften, galt ihnen allein, außerdem verschwand er einfach wieder, wenn nicht mehr gekämpft wurde. Diese Tatsache machte einen friedlichen Austausch von Ressourcen in gewisser Weise sogar „teurer“ als einen Krieg.15 Gleiches galt für die Reputation eines Herrschers – profilieren konnte er sich ausschließlich auf dem Schlachtfeld. Auch wirtschaftliche Gewinne ließen sich nicht einfach so aufteilen, vor allem dann nicht, wenn sie von einem Handelsmonopol abhingen. Streitigkeiten über bestimmte Territorien oder die Thronfolge stellten ähnliche Probleme dar, wenn es dabei um Souveränität, religiöse Unterschiede oder strategische Vorteile ging. Auch dann nützte es wenig, irgendwelche Ressourcen miteinander zu tauschen. In den Verhandlungen zur Beendigung des Großen Nordischen Kriegs zwischen Russland und Schweden im Jahr 1715 beispielsweise teilte Zar Peter der Große seinem Gesandten mit, er werde nicht auf Riga und Schwedisch-Livland verzichten, denn dadurch stünden das nahegelegene Sankt Petersburg und alle seine übrigen Eroberungen im Krieg auf dem Spiel – der Verlust wäre kostspieliger als alles, was ihm die Schweden jemals dafür anbieten könnten.16 Schließlich seien noch die religiös motivierten Kriege erwähnt: Hier war es von vornherein unmöglich zu verhandeln, schließlich waren die Gegner ja Feinde des eigenen Glaubens.17
All diese Hindernisse standen friedlichen Lösungen im Weg. Aber sie galten in der Frühen Neuzeit auch außerhalb Westeuropas und können schon deshalb nicht der eigentliche Grund dafür sein, dass Europa die Vorherrschaft in der Schießpulvertechnologie errang. Auch in anderen Teilen Eurasiens lag die Außenpolitik oft in den Händen von Königen, Kaisern oder Kriegsherren, die genauso vom Ruhm besessen waren wie ihre europäischen Kollegen. Aber zumindest erklärt das Ungleichgewicht zwischen möglicher Beute und möglichen Verlusten, die die europäischen Fürsten erwarteten, und die Unteilbarkeit der Vorteile, die sie sich im Falle eines gewonnen Krieges verschafften, warum im Europa der Frühen Neuzeit nahezu konstant bewaffnete Konflikte ausgetragen wurden. Die einzige Einschränkung ist, dass dies nicht für alle Länder gleichermaßen gilt – einige waren zu klein, um Kriege zu führen, und andere wie die Niederlande des 18. Jahrhunderts waren groß genug, schreckten aber vor solchen Konflikten zurück oder schalteten sich zumindest nicht aktiv in sie ein.