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Krankheiten
ОглавлениеDie erste der beiden Standardantworten verweist auf die Epidemien von Pocken, Masern und anderen Infektionskrankheiten, die die Ureinwohner Amerikas, Australiens und der pazifischen Inseln dahinrafften, sobald die Europäer bei ihnen gelandet waren. Die Europäer waren gegen diese Krankheiten längst resistent, und dieser Umstand ermöglichte es ihnen, Amerika zu erobern. Das gilt vor allem für die Reiche der Azteken und der Inka.6
Trotzdem waren die Europäer nicht die einzigen Menschen auf der Welt, die über diesen biologischen Vorteil verfügten – das taten die Bewohner aller bedeutenden Zivilisationen des Nahen Ostens und Asiens auch. Sie waren den gleichen Infektionskrankheiten ausgesetzt wie die Europäer, da es (wie der Biologe Jared Diamond dargelegt hat) in Eurasien mehr Arten leicht domestizierbarer Pflanzen und Tiere gab als in Amerika und weniger geografische und ökologische Hindernisse für die Verbreitung von Ackerbau, Viehzucht und Agrartechnik. Das brachte mit sich, dass sich in Eurasien die Agrikultur früher etablierte, und mit ihr kamen Dörfer, Nutztierherden und schließlich auch Städte. Diese waren allesamt Brutstätten für Krankheiten, und über den Fernhandel verbreiteten sich Epidemien.7 Hätten die Chinesen, Japaner, Südasiaten oder Araber Amerika entdeckt, so hätten sie diese Krankheiten ebenfalls mitgebracht, und die amerikanischen Ureinwohner wären genauso gestorben. Selbst wenn Infektionskrankheiten hier eine Rolle spielten, so ist damit dennoch nicht erklärt, warum es ausgerechnet die Europäer waren, die die Welt eroberten, und nicht die anderen Eurasier.
Auch erklärt die Krankheitstheorie nicht, wie die Portugiesen zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Südasien Fuß fassen und von dort aus erfolgreich den Überseehandel ausbeuten konnten. Schließlich waren die Südasiaten gegen die gleichen Krankheiten immun wie die Portugiesen. Und auch die domestizierten Pflanzen und Tiere, auf die Diamond hingewiesen hat, spielten dabei keine Rolle, denn diese besaßen die Chinesen, Japaner, Osmanen und Südasiaten zu einem ähnlichen frühen Zeitpunkt wie die Europäer.
Die Theorie wirft noch weitere Probleme auf, wenn wir uns die Reiche der Azteken und Inka ansehen. Allgemein nimmt man an, dass am katastrophalen Zusammenbruch dieser beiden Zivilisationen vor allem die Epidemien von Pocken und Masern schuld waren, die sich ausbreiteten, nachdem die Konquistadoren gelandet waren. Diese Epidemien rotteten einen Großteil der einheimischen Bevölkerung aus, destabilisierten die dortige Gesellschaft, und dadurch hatten die Eroberer leichtes Spiel – so die gängige Argumentation. Und es gibt durchaus Indizien, die diese Theorie stützen: Ende 1520 gelang es Hernán Cortés, die aztekische Hauptstadt Tenochtitlan zu erobern, in der offenbar wenige Monate zuvor eine Pockenepidemie ausgebrochen war. Diese Epidemie hatte auch den König dahingerafft, und so mussten sich die überlebenden Azteken Cortés mit einem neuen und unerfahrenen Herrscher an der Spitze entgegenstellen, der noch gar keine Zeit gehabt hatte, seine Autorität in nennenswerter Weise zu festigen. Ein ganz ähnlicher Fall war die Eroberung des Inka-Reiches durch Francisco Pizarro: Eine Epidemie brach aus, der Herrscher der Inka starb, und das führte zu einem Bürgerkrieg, der das Volk stark schwächte und erst kurz vor Pizarros Ankunft beendet wurde.8
Das Problem ist allerdings, dass man die demografische Katastrophe bei den Azteken und Inka nicht allein auf Pocken oder Masern zurückführen kann. Sie hatte mehrere Ursachen, sonst hätte sich die indigene Bevölkerung davon – selbst im Falle immer wiederkehrender Epidemien – schließlich wieder erholt. Darauf weist eine demografische Analyse hin, die berücksichtigt, wie eine Population reagiert, nachdem in ihr eine neue Krankheit wie Pocken gewütet hat. Was dafür sorgte, dass sich die Ureinwohner nicht mehr erholten, war die Eroberung durch die Spanier, die das Leben, wie sie es kannten, zerstörten. Die Indianer flohen vor dem Krieg, und die Überlebenden wurden von den Europäern zum Frondienst gezwungen, und das oft weit weg von ihrem Zuhause, sodass sie nicht mehr in der Lage waren, ihre Familien zu versorgen. Die Eroberer zwangen die Frauen der Ureinwohner zur Arbeit im Haushalt und oft auch zum Sex. Entsprechend schwieriger wurde es für die amerikanischen Ureinwohner, Kinder zu zeugen. Insofern lag der Bevölkerungsrückgang gar nicht in erster Linie an irgendwelchen Krankheiten, sondern am brutalen Vorgehen der Eroberer.9 Das Argument, die Spanier hätten die Reiche der Inka und Azteken nur erobern können, weil sie durch Epidemien geschwächt waren, greift also viel zu kurz.
Zudem gibt es durchaus Zweifel daran, dass die Pocken den Bürgerkrieg bei den Inka auslösten, denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sie die Inka erreichten, bevor Pizarro bei ihnen eintraf.10 Bei den Azteken scheint die Epidemie zwar den Konquistadoren vorausgeeilt zu sein, aber wir müssen bedenken, dass ja auch Cortés’ indianische Verbündete daran starben, selbst wenn er dann ihre Anführer durch andere ersetzen konnte, die sich ihm gegenüber als besonders loyal erwiesen hatten. Zudem hatten ja auch viele Azteken die Epidemie überlebt – vor allem die Krieger waren weniger anfällig für Infektionskrankheiten, und es gab immerhin noch so viele, dass sie sich im Rahmen einer erbitterten dreimonatigen Belagerung gegen Cortés wehren konnten, bevor er Tenochtitlan am Ende doch noch einnahm. Gleiches galt für die Inka: Trotz der Epidemie, die sie befallen hatte und die zahlreiche Tote forderte, sahen sich die Europäer einer feindlichen Streitkraft gegenüber, die ihre eigene trotz einheimischer Hilfstruppen zahlenmäßig weit überstieg. Als Pizarro im Jahr 1532 ins Reich der Inka kam, hatte er nur 167 Soldaten bei sich und keinerlei einheimische Verbündete, und doch gelang es ihm, die fünf- bis sechstausend Mann starke Leibwache von Atahualpa, dem Herrscher der Inka, zu besiegen und ihn selbst gefangen zu nehmen. Ein Lösegeld von 13 Tonnen Silber und mehr als 6 Tonnen Gold (das meiste davon in Form eingeschmolzener Kunstgegenstände) erpresste er von den Inka, bevor er Atahualpa 1533 kurzerhand hinrichten ließ. Dieser ebenso unwahrscheinliche wie brutale Triumph machte ihn und seine Männer reich – für eine solche Summe hätten sie in Spanien 250 Jahre lang schuften müssen. Und es war beileibe nicht der einzige Sieg gegen einen übermächtigen Feind: Als es bei den Inka 1536 zum Aufstand kam, wehrten sich 190 Konquistadoren erfolgreich gegen ein Inka-Heer von über 100.000 Mann. Sie überstanden in der Stadt Cusco eine einjährige Belagerung.11