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Der militärische Wettbewerb

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Es scheint also, als hätten wir noch immer keine befriedigende Antwort auf unsere grundlegende Frage. Aber es gibt eine Lösung für das Rätsel, und diese Lösung liegt in einer besonderen Form des militärischen Wettbewerbs, die unter den europäischen Staaten herrschte und die die Wirtschaftswissenschaft als „Turnier“ bezeichnen würde – eine bestimmte Art von Wettbewerb, bei dem die Beteiligten unter den richtigen Bedingungen enorme Anstrengungen unternehmen in der Hoffnung, einen bestimmten Gewinn einzufahren. Ein Beispiel aus unserer Zeit: Stellen wir uns einen jungen, talentierten Fußballspieler, sagen wir mal, in der Dominikanischen Republik vor. Sein großer Traum ist es, in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden. Um sich einen Vorteil gegenüber seinen Mitspielern zu verschaffen, und sei er auch noch so klein, bricht er die Schule ab, verbringt den ganzen Tag im Fitnessraum und nimmt alle möglichen Steroide, obwohl ihm klar ist, dass er damit langfristig seine Gesundheit schädigt. Und das alles für die winzige Chance, einmal in der Nationalmannschaft zu spielen.

Zwischen dem Spätmittelalter (1300–1500) und dem 19. Jahrhundert erlebte Europa einen militärischen Wettbewerb, der von einer ähnlichen Intensität gekennzeichnet war und dem sich alle Beteiligten mit großem Engagement widmeten. Der militärische Wettbewerb in Europa jedoch war weitaus ernster, denn er führte dazu, dass die Herrscher des Kontinents Kriege gegeneinander führten – Kriege, die sich auf das Leben von Menschen in der ganzen Welt auswirkten. Der Erfolg, der den Herrschern in diesem grausamen Wettbewerb winkte, waren finanzieller oder territorialer Zugewinn, die Verteidigung des eigenen Glaubens oder schlicht der Ruhm des Siegs. Für diesen Gewinn erhoben sie Steuern und verschwendeten ihre Ressourcen für Armeen und Flotten, die sich der Schießpulvertechnologie bedienten und sie ständig weiterentwickelten, entweder weil sie aus ihren Fehlern lernten oder – vor allem im 19. Jahrhundert – indem sie aktiv nach neuen Lösungen forschten. Die Flut von Ressourcen, die in die Kriegführung flossen, setzte sich im 19. Jahrhundert ungebrochen fort, auch wenn der Rest der Wirtschaft das Nachsehen hatte. Die politischen Bedingungen in Europa machten es möglich, gigantische Summen für Armeen und Flotten zu mobilisieren, und die militärischen Bedingungen begünstigten die Verwendung der Schießpulvertechnologie, die, gerade weil sie neu war, ein enormes Potenzial für Verbesserungen mittels einer Art „learning by doing“ besaß, wie es vor 1800 in Europa üblich war.

In anderen Ländern arbeiteten die politischen und militärischen Motivationen einem solchen Ergebnis geradezu entgegen, selbst wenn sie öfter in Kriege verwickelt waren. Und genau deshalb brachten es die Europäer in der Schießpulvertechnologie weiter als alle anderen. Das hörte auch im 19. Jahrhundert nicht auf, als es in Europa zwar weniger Kriege gab, aber der politische Wandel und die Erweiterung des anwendbaren Wissens dennoch die militärische Forschung vorantrieben. Dem Export von Waffen und militärischen Dienstleistungen zum Trotz hatte der Rest der Welt längst den Anschluss verloren. Zu viele wirtschaftliche und politische Barrieren verhinderten, dass man die jeweils neueste Rüstungstechnologie übernahm oder ähnliche Summen für das Militär ausgeben konnte wie in Europa.

Um dies nachvollziehen zu können, müssen wir einen Blick auf die politischen, militärischen und steuerlichen Impulse werfen, mit denen sich die Herrscher konfrontiert sahen, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch in China, Indien, Japan und dem Osmanischen Reich. Im Rahmen dessen werden wir neben dem Schießpulver auch andere Rüstungstechnologien unter die Lupe nehmen. Kapitel 2 behandelt zunächst das Europa vor 1800 und skizziert ein einfaches Modell eines wiederholten militärischen Wettbewerbs, das dann in Kapitel 3 auf Asien und den Nahen Osten angewendet wird. Später im Buch untersuche ich damit dann auch das Europa nach 1800 und den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. Dieses Modell macht unmissverständlich klar, welche politischen und militärischen Bedingungen Europa vom Rest der Welt unterschieden. Diese Bedingungen gaben dem militärischen Wettbewerb in Europa die Richtung vor, und sie erklären, warum die Europäer in der Schießpulvertechnologie den Ton angaben und warum sie – und nicht irgendjemand anderes – die Welt eroberten, was zu Kolonialismus und Sklavenhandel führte, aber letztendlich auch die industrielle Revolution in die Wege leitete.32

Die Frage, warum sich die politischen und militärischen Bedingungen in Europa so stark von denen in China, Japan, Indien und dem Osmanischen Reich unterschieden, wird anschließend in Kapitel 4 behandelt. Hier gibt es zahlreiche mögliche Antworten (z.B. geografische Gegebenheiten oder Verwandtschaftsbeziehungen), die auf den ersten Blick plausibel erscheinen, aber die einzige, die tatsächlich passt, ist die politische Geschichte – in anderen Worten, die spezifische Aneinanderreihung von Ereignissen, die in den einzelnen Teilen Eurasiens zu jeweils unterschiedlichen politischen Entwicklungen führten. In diesem speziellen Fall reichte die politische Geschichte von der frühen Bildung eines mächtigen chinesischen Reiches in Ostasien bis zu den Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, als es in Westeuropa noch keine hoch entwickelten Staaten gab. Die politische Geschichte entfesselte den militärischen Wettbewerb in Europa und fachte ihn immer weiter an, und sie sorgte dafür, dass es anderswo in Eurasien einen solchen Wettbewerb nicht gab. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, gelangten die eigentlich für innereuropäische Kriege geschaffenen rüstungstechnologischen Fortschritte schließlich in die Hände europäischer Privatunternehmer, die sich der Schießpulvertechnologie bedienten, um in Übersee Siedlungen oder Kolonien zu etablieren oder sich am Fernhandel zu bereichern. Hier ist die politische Geschichte zwar letztendlich die Ursache, aber das bedeutet mitnichten, dass es nicht ganz anders hätte kommen können. Hätte die Geschichte nur an ein paar entscheidenden Momenten eine andere Wendung genommen, hätte am Ende durchaus eine andere Macht die Welt beherrschen können. Hätten sich die Nachkommen Karls des Großen nicht zerstritten und bekämpft, und wäre es den Mongolen nicht gelungen, China zu unterjochen, so würden wir jetzt wahrscheinlich eine ganz andere Frage stellen, nämlich: „Wie hat China die Welt erobert?“ Und das ist bei Weitem nicht das einzige plausible Szenario einer Welt, die ganz anders ist als die, in der wir heute leben (mehr dazu in Kapitel 5).

Dank ihrer überragenden Schießpulvertechnologie verdrängten die Europäer im 18. Jahrhundert das Osmanische Reich aus den Reihen der Großmächte und begannen mit der Eroberung Indiens. Als sie ihre technologische Vorherrschaft im 19. Jahrhundert weiter ausbauten, verleibten sie sich Afrika ein, und zusammen mit ihren ehemaligen Kolonien in Amerika zwangen sie am Ende sogar China und Japan zu Zugeständnissen im Fernhandel. Um die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser immer ausgedehnteren Vorherrschaft zu analysieren, wird in Kapitel 6 das Wettbewerbsmodell erweitert und auf einen Konflikt angewendet, der so etwas wie ein erster Kalter Krieg innerhalb Europas war – ein Kalter Krieg mit ungeheuren Ausgaben für das Militär, aber auch verblüffenden Fortschritten in der Rüstungstechnologie.

Der Erste und Zweite Weltkrieg setzten der militärischen Dynamik Europas ein Ende, und nach 1945 wurden die europäischen Staaten (mit Ausnahme Russlands) zu bloßen Statisten auf der militärischen Bühne degradiert. Kapitel 7 erklärt, wiederum anhand des Wettbewerbsmodells, warum. Die abschließende Frage ist dann, wer von den europäischen Eroberungen profitierte und welche Rolle diese Eroberungen für die industrielle Revolution spielte – und wie sich der Westen auf Kosten der ärmeren Regionen der Welt bereicherte.

Wie Europa die Welt eroberte

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