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Kapitel 1 Einführung
ОглавлениеStellen Sie sich folgendes Szenario vor: Eine Zeitmaschine transportiert Sie zurück ins Jahr 900, und zwar an einen beliebigen Ort auf der Erde, wo Sie dann eine Zeit lang leben müssten. Für welche Region würden Sie sich entscheiden?
Während Sie noch überlegen, gebe ich Ihnen gerne ein paar Ratschläge – vor allem einen: Reisen Sie auf keinen Fall nach Westeuropa!1 Dort würde wirklich niemand leben wollen. Die Menschen waren arm und gewalttätig, die politischen Zustände chaotisch. An fast jedem Maßstab gemessen war die Region hoffnungslos rückständig. Es gab keine Städte, mit Ausnahme von Córdoba, aber das gehörte zur muslimischen Welt. Luxusartikel wie Seide, Parfüms oder Gewürze, die die ansonsten recht fade Küche geschmacklich bereicherten und damals als Reformkost galten, waren ebenso rar wie teuer. Man bekam sie nur durch Tauschgeschäfte mit Händlern aus dem Nahen Osten, und die konnten nur wenige westliche Waren gebrauchen, etwa Pelze oder Sklaven. Und falls man sich nicht vorsah – sagen wir mal, wenn man einfach so in Italien den Strand entlangschlenderte – lief man immer Gefahr, selbst gekidnappt zu werden und auf dem Sklavenmarkt zu landen.
Das Europa von damals war, kurz gesagt, nicht viel anders als etwa das Afghanistan von heute. Viel besser wären Sie als Zeitreisender im muslimischen Nahen Osten aufgehoben, der im Jahr 900 viel reicher und fortschrittlicher war, in kultureller ebenso wie in technologischer Hinsicht – ein wesentlich angenehmeres und einladenderes Ziel. Dort gab es Städte, deren Märkte voll waren mit Gütern aus der ganzen Welt, von indischem Sandelholz bis zu chinesischer Keramik; und es gab Gelehrte, die sich intensiv mit den Werken altgriechischer Wissenschaftler auseinandersetzten, die in Westeuropa längst in Vergessenheit geraten waren.2
Abbildung 1.1. Dunkelgrau: bis 1914 nie von Europa kontrollierte Gebiete. In Hellgrau: bis 1914 von Europa kontrollierte oder eroberte Gebiete, einschließlich Kolonien, die bereits wieder Unabhängigkeit erlangt hatten. Adaptiert aus Fieldhouse 1973, Karte 9.
Anstelle des Nahen Ostens könnten Sie sich auch für Südchina entscheiden, wo sich das politische System nach einer ziemlich turbulenten Zeit gerade stabilisierte. Die Folge war eine florierende Landwirtschaft, man handelte mit Tee, Seide und Porzellan. Die Westeuropäer hatten nichts dergleichen und auch wenig Hoffnung für die Zukunft – zumal sie genug damit zu tun hatten, sich gegen die Überfälle marodierender Wikinger zu wehren.3
Reisen wir nun mit Ihrer Zeitmaschine tausend Jahre weiter, ins Jahr 1914. Inzwischen haben die damals so erbärmlichen Europäer die Welt erobert. Ihr Einfluss ist überall auf dem Globus zu spüren, ganz gleich, wo man sich gerade befindet. Irgendwie haben sie es geschafft, 84 Prozent der Welt unter ihre Kontrolle zu bringen, und haben Kolonien auf allen bewohnten Erdteilen (Abbildung 1.1).4 Während einige Kolonien, z.B. die Vereinigten Staaten, inzwischen unabhängig sind, haben sich ihre Sprachen und ihr Gedankengut dort natürlich trotzdem verbreitet, und Europa lässt überall die militärischen Muskeln spielen. Abgesehen von den Vereinigten Staaten, die ja nichts als ein europäischer Klon sind, gibt es tatsächlich nur eine einzige nicht-europäische Macht, die es wagt, sich den europäischen Armeen und Flotten entgegenzustellen – Japan. Doch selbst die Japaner haben Technologie und militärisches Know-how aus Europa übernommen. Das hätte tausend Jahre zuvor niemand absehen können.
Doch was war der Grund dafür, dass es ausgerechnet den Europäern gelang, sich die ganze Welt zu unterwerfen? Warum nicht die Chinesen oder die Japaner? Warum nicht die Osmanen aus dem Nahen Osten oder die Völker Südasiens? All dies waren einst mächtige Zivilisationen gewesen, und im Gegensatz zu den amerikanischen Ureinwohnern, den Afrikanern, den Bewohnern Australiens und des Pazifiks hatten sie alle schon frühzeitig Zugang zu den gleichen Waffensystemen wie die Europäer. Rückblickend scheint es fast, als wären sie allesamt wahrscheinlichere Kandidaten dafür gewesen, die Welt zu beherrschen, als die Europäer. Doch warum ist es ihnen nicht gelungen?
Dies ist zweifellos eine wichtige Frage, zumal eine Menge davon abhängt, z.B. wer Kolonien bekam und den Sklavenhandel kontrollierte und welche Länder als erste industrialisiert wurden. Aber bislang gibt es auf diese Frage keine befriedigende Antwort – das Ganze ist nach wie vor ein Rätsel.
Dabei scheint die Antwort eigentlich so naheliegend: War es nicht die Industrialisierung, die der europäischen Vorherrschaft den Weg geebnet hat? Immerhin begann die industrielle Revolution in Europa, und sie gab den Europäern genau jene Werkzeuge an die Hand – von Schnellfeuergewehren bis hin zu dampfbetriebenen Kanonenbooten –, die ihnen die militärische Überlegenheit sicherten. Und mit dieser Überlegenheit kann es ja dann nicht mehr allzu schwer gewesen sein, die Welt zu erobern, oder?
Leider liegen die Dinge nicht ganz so einfach, denn wenn wir ein Jahrhundert weiter zurückblicken, nach 1800, so steckte die industrielle Revolution in Großbritannien noch in den Kinderschuhen, der Rest Europas war davon noch gänzlich unberührt, und trotzdem regierten die europäischen Staaten bereits mehr als 35 Prozent der Welt; auf dem Seeweg fuhren sie bis nach Südostasien, sie machten überall reiche Beute, und das taten sie bereits seit 300 Jahren.5 Doch warum waren ausgerechnet sie diejenigen, deren bewaffnete Schiffe auf allen Weltmeeren unterwegs waren? Die Festungen und Kolonien auf jedem bewohnten Kontinent besaßen, und all das lange vor der industriellen Revolution?
Sobald man beginnt, über diese Frage nachzudenken, wird daraus ein faszinierendes intellektuelles Rätsel. Mit den üblichen Standardantworten kommt man der Sache nicht auf den Grund, denn einer genauen Prüfung halten sie in der Regel nicht Stand. Welches diese Standardantworten sind? Ganz einfach: Krankheiten und Schießpulver.