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Der Hinkende Stoffel war eine Taverne, wie es sie zu hunderten im Königreich gab. Beim Trinken unterschied sich Freistadt nicht von den anderen Provinzen. Ismail durchschritt die Eingangstür und augenblicklich schlug ihm der Geruch von Bier, Tabak und Sonnentänzer, einem weit verbreiteten Rauschkraut, entgegen. Ferner wich die drückende Dunkelheit der nächtlichen Straßen einem dämmrigen Licht aus Kerzen und Kaminfeuer, deren Flackern den Schankraum beherrschte. Unaufhörlich tanzten die, ihren realen Abbildern entflohenen, Schatten auf Boden und Wänden. Nachdem der Waldläufer die schwere Eichentür hinter sich geschlossen hatte, hüllte ihn endgültig die wohlige Wärme des Lasters und der Ausgelassenheit ein.

Noch bevor er seine dunkelgrüne Kapuze zurückzog und somit sein Gesicht der Öffentlichkeit preisgab, ließ der Waldläufer seine Augen aufmerksam durch den Raum wandern - auf den ersten Blick konnte er keine Stadtwachen erkennen. Zwar vermutete er weder, dass er erkannt worden war, noch, dass die beiden Männer inzwischen wieder bei Bewusstsein waren, doch wollte er sein Glück nicht überstrapazieren. Als sich Ismail schließlich auf die Holztheke zubewegte, blieben seine Lederstiefel bei jedem Schritt leicht an dem versifften Bodendielen haften und erinnerten ihn zwangsläufig wieder an den Kampf in der Gasse. Ich habe das Richtige getan, versucht er sich zu beruhigen. Wenigstens diese Nacht gehöre ich zu den Guten.

Das Schmatzgeräusch seiner Stiefel wurde in gleichem Maße von der lautstarken, wild springenden Fidelmusik verschluckt, wie sein schlechtes Gewissen. Neugierig spähte der Waldläufer in jene Ecke des Schankraums, aus der das Gefidel kam und erkannte zwei Alben, die voller Enthusiasmus auf ihren Instrumenten spielten. Obwohl normalerweise nur ein Stückchen größer als die menschlichen Bewohner der Fünf Provinzen, verrieten sich Alben, ungeachtet ihrer spitz zulaufenden Ohren, meist durch ihren schmaleren Körperbau. An der Kleidung der Beiden erkannte Ismail sofort, dass es sich um Städter handelte. Zwar hatten die Musiker allerhand Federn und andere Tiersymbole an ihren Kleidern befestigt, doch hatten sie genauso wenig mit den Freien Stämmen im Schattenforst zu tun wie der menschliche Saufbold, der soeben zu Ismails Rechten von seinem Barhocker rutschte. Anstatt den Mann zu stützen, machte Ismail lieber einen Schritt zur Seite und ließ ihm freie Bahn. Ungebremst und mit einem dumpfen Poltern schlug der Kerl auf die Dielen, was seine Trinkkumpanen, die noch an der Theke hockten, zu schallendem Gelächter veranlasste.

„Herzlich Willkommen im Hinkenden Stoffel, Süßer!“, begrüßte Ismail eine vollbusige Bardame, nachdem er über den Saufbold hinübergestiegen war. „Was kann ich dir Gutes tun? Vielleicht das beste Bier der Stadt oder doch lieber eine kleine Mahlzeit?“

„Habt ihr auch Wein?“, fragte Ismail beiläufig, als er sich ein wenig Platz an der Theke machte und einen der Gäste mit einem Lächeln beiseite schob.

„Haben wir. Und wenn der feine Herr mit seinem Wein ein bisschen mehr Geld übrig hat, wie wäre es dann noch mit einer netten Begleitung für den Abend? Viele unserer Kellnerin sind nicht nur schön anzuschauen, sondern auch schön anzufassen.“ Mit einem Augenzwinkern nickte sie dabei nach rechts in Richtung eine der Kellnerinnen. Ismail musterte diese kurz und kam zu dem Schluss, dass die Kellnerinnen im Hinkenden Stoffel wirklich nett anzuschauen waren.

„Danke, aber der Wein reicht vorerst.“

„Ich würde die Kellnerin nehmen“, kommentierte der Kerl neben Ismail lallend dessen Wahl. Seine Trinkkumpane brachen daraufhin ein weiteres Mal in Gelächter aus und selbst der Mann vom Boden war inzwischen wieder aufgestanden und stimmte mit ein.

„Verpiss dich, Knut!“, war die kurzangebundene Antwort der Bardame, bevor diese verschwand, um Ismails Wein zu holen. Während er wartete, drehte der Waldläufer sich um und vergewisserte sich erneut, dass sich keine Stadtwachen in der Taverne befanden. Der Betrunkene neben ihn grinste ihm dabei breit ins Gesicht und offenbarte freimütig die zahlreichen Zahnlücken in seinem Gebiss. Ismail ignorierte ihn.

Die Taverne war nett eingerichtet. Überall im Schankraum standen hölzerne Sitzgarnituren, welche zu einem geselligen Beisammensein einluden. Die Rückwand beherrschte ein großer Kamin, der dem gesamten Raum Licht und Wärme spendete. Vor ihm hatten sich alle Gäste versammelt, die entweder alleine reisten oder die Einsamkeit beim Trinken vorzogen. Das war auch der richtige Platz für Ismail - und zwar aus beiden Gründen. Die Bühne für die Darsteller befand sich in der linken Ecke des Schankraums und war aus den gleichen Dielen wie der Fußboden gezimmert. Zudem hatten die Besitzer einen roten Vorhang behelfsmäßig an der Decke darüber montiert, was der Bühne wahrscheinlich den Hauch von Theateratmosphäre verleihen sollte. Funktioniert nicht, entschied Ismail.

Die beiden Alben auf der Bühne begannen nun mit ihren Fideln wild umherzuspringen und läuteten ihre Darbietung mit der Bemerkung ein, dass es sich dabei um einen waschechten Ritustanz der Stämme handele. Ismail war sich ziemlich sicher, sollte ein wahres Stammesmitglied diese Aufführung jemals zu Gesicht bekommen, würde es die beiden Angeber ohne zu zögern töten. Die Freien Stämme waren im gesamten Königreich für ihr Ehrgefühl bekannt. Eine dermaßen einfältige Verfälschung ihrer heiligen Traditionen würden sie niemals ungesühnt lassen.

„Ein Wein, bitte schön der Herr und lass es dir schmecken.“ Hörte Ismail die Stimme der Bardame in seinem Rücken. Neben ihm grinste der widerliche Kerl mit den Zahnlücken noch immer, als sich der Waldläufer wieder zur Theke umdrehte. „Das macht dann fünf Reichsmark.“ Vor Ismail stand ein abgegriffener Weinkrug.

„Fünf Reichsmark ist aber ein stolzer Preis …“, bemerkte er während er den Geldbeutel der Stadtwache aus seiner ledernen Umhängetasche holte. „Ich gehe mal davon aus, dass der Wein gut ist und auf keinem Fall mit Wasser gestreckt wurde.“

„Auf dein Wohl!“, brabbelte der Mann neben Ismail.

„Der Wein ist von bester Qualität und selbstverständlich nicht verwässert!“, entgegnete die Barfrau angesäuert. „Der kommt direkt aus den sonnigsten Lagen der Südlichen Provinz. Außerdem befindest du dich hier nicht in irgendeiner heruntergekommenen Kneipe im Äußeren Ring, sondern im Hinkenden Stoffel! Die beste Taverne Freistadts“, setzte sie trotzig nach.

Ismail legte sechs Reichsmark auf den Tresen: „Nichts für ungut - und ein kleines Trinkgeld für die nette Bedienung.“

„Immer wieder gern, Süßer!“ Die schlechte Laune der Bardame war genauso schnell wieder verschwunden, wie sie entstanden war. Mit einem Lächeln rückte sie ihr ausladendes Dekolleté zurecht und zwinkerte ihm noch einmal zu. „Wenn du noch einen Wunsch hast, weißt du ja, wo du mich findest.“

Schweigend nahm der Waldläufer sein Getränk und bewegte sich Richtung Kamin. Nach so vielen Nächten unter freien Himmel und dem Stress der letzten Stunden waren die Wärme eines Feuers und ein guter Wein jetzt genau das Richtige für ihn. Er nahm einen ersten Schluck des - selbstverständlich verwässerten - Weines und kämpfte sich durch die langen Sitzgarnituren des Schankraums. Am Kamin angekommen entdeckte Ismail noch einen freien Platz an der rechten Außenseite, direkt neben einer Zwergin, die ihr Kinn nachdenklich auf ihren mit Kerben übersäten Kriegshammer abgelegt hatte. „Ist der Platz noch frei?“, sprach er die Kriegerin von der Seite an.

„Hmphh“, brummelte sie unverständlich, begleitet von einem kaum wahrzunehmenden Nicken.

Die Geste als Zustimmung interpretierend, legte Ismail sein Fellbündel sowie Bogen und Köcher neben dem freien Platz ab und setzte sich mit einem lauten Stöhnen. Der Waldläufer war froh, dass die Frau ebenso wenig an einem Gespräch interessiert war wie er selbst. Unauffällig musterte er die Zwergin aus dem Augenwinkel: Ihre weinroten Haare wanderten der Kriegerin in kunstvoll geflochten Bahnen am Kopf entlang um schlussendlich in einem strengen Dutt zu münden. Sie bildeten damit einen auffallenden Kontrast zu der Lieblosigkeit des mattgrauen, zerschrammten Plattenpanzers, der neben ihr auf dem Fußboden ruhte und die notwendige Abstellfläche für fünf leere Bierhumpen bot. Bestimmt eine wandernde Söldnerin, mutmaßte Ismail. Töten für Geld. Trotz der Anerkennung, welche die schonungslose Ehrlichkeit ihres Berufsstandes ihm abtrotzte, wirkte die Zwergin mit der Stahlrüstung und dem schweren Kriegshammer auf ihn irgendwie antiquiert. Vergangenheit.

Mit einem weiteren Schluck vom Wein entschied er sich dafür, die Zwergin sich selbst zu überlassen und seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Während die prasselnde Wärme des Kaminfeuers von seiner klammen Kleidung langsam Besitz ergriff, ließ er sich den Abend noch einmal durch den Kopf gehen. Zweifel nagten an ihm. Eigentlich wer er nur nach Freistadt gekommen, um sein Wolfsfell zu verkaufen und seine Vorräte wieder aufzufüllen. Auch hatte er mit dem Gedanken gespielt, seine Stiefel neu zu besohlen und seinen Pullover aus Schafwolle flicken zu lassen. Zwei bis drei Tage in einem richtigen Bett und ein heißes Bad waren eigentlich fest eingeplant. Was auf gar keinen Fall eingeplant war, war eine handfeste Auseinandersetzung mit der freistädtischen Stadtwache.

Zu oft hatte er auf seinen Reisen mitansehen müssen, wie Leute wegen solcher Ambitionen alles verloren, was ihnen wichtig war - bis hin zu ihrem eigenen Leben. Eigentlich habe ich mich selbst nie für so dumm gehalten. Was hat mich da nur geritten? Der Waldläufer blickte tiefer in das Feuer vor sich. Es war irgendetwas, was diese Frau ausgestrahlt hat … Ich wusste es in dem Moment, als ich sie auf der Straße sah – zwischen diesen beiden Bastarden eingeklemmt und vollkommen hilflos. Keiner half ihr, sie war vollkommen auf sich allein gestellt … Den letzten Gedanken in seinem Hinterkopf nachhallend lehnte er sich auf dem Holzstuhl zurück und ließ bereitwillig das wohlige Gefühl der Geborgenheit an seiner Lederhose hinaufklettern. Die Flammen tanzten vor seinen Augen und der Wein begann zu wirken.

Warum Ismail in jener Nacht erwacht war, wusste er nicht mehr. Er wusste nur noch, dass er auf einmal hellwach war und den Drang verspürte, nach unten zu gehen. Sein Elternhaus stand in der Mitte eines Vierkanthofes und hatte zwei Etagen. Eigentlich sogar drei, wenn man den Dachboden und das danebenliegende Gästezimmer mitzählen wollte. Er selbst lebte mit seinen beiden Brüdern in der ersten Etage, während seine Eltern ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss hatten.

Nun saß Ismail in seinem Bett und horchte in die Nacht. Er wusste genau, dass etwas nicht stimmte, konnte aber im gesamten Haus und auf dem Hof kein verdächtiges Geräusch wahrnehmen. Und in einem Dorf in der Südlichen Provinz hört man nachts wirklich alles - und zwar überall. Doch in dieser Nacht war da kein Geräusch. Mit seinen Beinen immer noch unter der warmen Decke schaute er gedankenverloren in das dunkle Zimmer. Er konnte schemenhaft Kleiderschrank und Sekretär erkennen, welche im Dunkeln auf der anderen Seite des Zimmers standen. Oder war das nur eine Erinnerung?

Da ihn das schlechte Gefühl nicht losließ, entschied sich Ismail dazu, aufzustehen. Kaum, dass er seine Decke zur Seite schlug und sich auf die Bettkante setzte, zog die Kälte der Nacht schon an seinen Beinen empor. Es war inzwischen zwar Sommer, aber diese Nacht ist ihm als kalt in Erinnerung geblieben. Vorsichtig stand er auf und zog sich seine Leinenhose an, welche er vor dem Schlafengehen über den alten Herrendiener geworfen hatte. Er ließ die anderen Kleidungsstücke, die dabei zu Boden fielen, einfach liegen und ging zur Zimmertür. Immer noch kein Geräusch. Aber dafür ein Dämmerlicht, welches sich mühsam die Treppe vom Erdgeschoss in die erste Etage empor kämpfte. Trotz einer gewissen Vertrautheit, war er sich sicher, dass es sich bei dem Lichtschein nicht um das Lichtspiel des Kamins, welches er genau von dieser Stelle so oft beobachtet hatte, handelte.

Das war in besseren Zeiten gewesen. Als noch jemand vor dem Kamin auf ihn wartete oder seine Eltern Besuch empfingen und er die Gesellschaft von hier oben heimlich belauschte. Das Lichtspiel der Flammen war damals unberechenbar - immer wieder neu und unerwartet. Ismail konnte es stundenlang beobachten. Doch jetzt war das Licht stetig und langweilig.

Irgendwie weit weg und nicht so einladend wie das Kaminfeuer. Wer möchte schon in so einem Licht auf jemand anderen warten. Er schaute nach links zu den Zimmern seiner Brüder. Beide Türen waren verschlossen. Alle schliefen. Vorsichtig ging er zur Treppe, da er niemanden wecken wollte. Zum Beispiel seine Tante, die im Gästezimmer neben dem Dachboden schlief. Sie war seit dem Tod seines Vaters regelmäßig an den Wochenenden auf dem Hof zu Gast und wollte Ismail, seinen Brüdern und ihrer Mutter beistehen.

Vorsichtig trat er auf die alte Holztreppe. Er musste jetzt vorsichtig sein, da die Treppe an vielen Stellen knarrte. Und obwohl er die meisten dieser Stellen kannte, konnte er nie ganz ein Knarren vermeiden. Dies war auch einer der Gründe, warum er im Regelfall über den Balkon abhaute, wenn er sich nachts raus schlich. Ohne jemanden auf sich aufmerksam zu machen, kam er am unteren Ende der Treppe an. Der Kamin war aus. Ismail spürte die Kälte des Fliesenbodens als er den letzten Schritt von der Holztreppe machte. Das Licht kam aus dem Schlafzimmer seiner Mutter, wahrscheinlich eine Kerze oder Nachttischlampe.

Auch konnte er jetzt eine Stimme vernehmen. Behutsam schlich er über die Fliesen und erkannte die Stimme seiner Tante. Sie schimpfte. Sie schimpfe mit seiner Mutter. Ismail schlich weiter voran und erreichte die Schlafzimmertür. Noch immer das Geschimpfe seiner Tante. Auch er war wütend darüber, dass seine Mutter seit dem Tod seines Vaters so viel trank, doch schimpfte er nicht. Er weinte. Ismail wagte einen Blick durch den schmalen Spalt der Schlafzimmertür und sah seine Mutter auf ihrem Bett liegen. Sie bewegte sich langsam und unkontrolliert, brabbelte unverständlich vor sich hin. Wahrscheinlich war heute wieder eine jener Nächte gewesen, in denen seine Mutter seinen Vater besonders vermisst hatte. In solchen Nächten neigte sie dazu, sich hemmungslos zu betrinken und gedanklich in eine Zeit zurückzukehren, in der ihre Welt noch in Ordnung gewesen war.

Nur konnte sie niemanden mit in diese Welt nehmen. Sie lebte dort vollkommen isoliert von der Realität. Vollkommen isoliert von Ismail.

Er bemerkte, dass seine Mutter sich im Rausch beschmutzt hatte. Seine Tante entfernte den Kot seiner Mutter mit Handtüchern aus dem Bett und schimpfte. Seine Mutter starb in dieser Nacht und das Letzte, was Ismail von ihr sah, war das mit Kot beschmutzte Bett und die schimpfende Tante.

Schnell wandte er sich ab und schlich zurück zu der großen Holztreppe. Er huschte Schritt für Schritt die Treppe empor und verschwand wieder in seinem Zimmer. Leise packte er seine nötigsten Utensilien zusammen und zog sich an. Ismail verließ in jener kalten Sommernacht sein Elternhaus ungesehen über den Balkon, da er niemanden unnötig wecken wollte.

Ismail schreckte hoch. Der Tagtraum war vorbei. Die Taverne noch immer voller Gäste und das Kaminfeuer so lebendig wie zuvor. „Wir alle tragen unsere Last, Mensch.“ Die rothaarige Zwergenkriegerin hatte sich inzwischen erhoben und legte Ismail im Vorbeigehen verständnisvoll ihre gepanzerte Hand auf die Schulter.

Stille Pfade

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