Читать книгу Stille Pfade - Philipp Lauterbach - Страница 12
7
Оглавление„Guten Morgen, Professor von Weidenheim“, begrüßte der schlaksige Assistent Stanislaw und zeigte mit einer einladenden Geste auf einen Holzstuhl vor der Bürotür, „die Senatsvorsitzende wird Sie gleich empfangen können. Bitte nehmen Sie solange Platz.“
„Vielen Dank. Ist der Abgesandte des Kaiserreiches bereits bei der Senatsvorsitzenden? Mir wurde heute Morgen beim Frühstück berichtet, er wäre bereits heute Nacht in Freistadt eingetroffen. Ich hatte erst in ein paar Tagen mit ihm gerechnet.“
„Das stimmt, Herr Professor“, entgegnete der Mann ein wenig schuldbewusst. „Der Abgesandte traf bereits heute Nacht ein und befindet sich nun im Gespräch mit Frau Seidel. Die Senatsvorsitzende war ebenso überrascht wie Sie – das kann ich Ihnen versichern. Scheinbar reist der Abgesandte ohne jegliche Eskorte … wirkt fast innoffiziell.“
Stanislaw von Weidenheim missfiel der geschwätzige Ton des Assistenten. „Möglich“, bemerkte er ungerührt und entließ den Mann durch einen ernsten Blick, woraufhin dieser ein wenig verunsichert zu seinen Pflichten zurückkehrte. Dass ausgerechnet ein Abgesandter des Kaiserreichs ohne offizielle Eskorte in die Fünf Provinzen reist, ist ungewöhnlich, überlegte der Magier als er sich auf dem ihm angebotenen Holzstuhl niederließ. Wollte er lieber schnell oder unerkannt reisen? Der Stuhl war hart, ungemütlich und drückte am Gesäß.
Das Büro der Senatsvorsitzenden befand sich wie der Senatssaal im Wächter der Freiheit, jedoch ein Stockwerk darüber. Eigentlich hatte Stanislaw für diesen Tag einen persönlichen Termin mit Stefanie geplant, um sich über ihre Motive klarzuwerden. Nach der Senatssitzung am gestrigen Abend hatte er die halbe Nacht damit verbracht, die bisherigen Informationen im Geist zusammenzufügen. Obwohl er noch keine endgültigen Schlüsse ziehen wollte, war er sich sicher, dass Stefanie insgeheim ein Ziel verfolgte, welches weder ihm noch den Senat bekannt war. Stanislaw wusste, dass seine ehemalige Schülerin als Vorsitzende des Senates das wirtschaftliche Wachstum Freistadts konsequent vorantrieb und dabei die sozialen Probleme, welche mit Wachstum und Industrialisierung einhergingen, wissentlich in Kauf nahm. Ein Umstand, der ihn durchaus störte.
Doch dementgegen suchte Stefanie den durchaus vernünftigen Dialog mit den Großgrundbesitzern im Süden, dessen Verhältnis zu Freistadt über lange Zeit durch Misstrauen und Neid geprägt worden war. Dabei war die Südliche Provinz nicht nur ein unentbehrlicher Lieferant von Lebensmitteln, sondern auch eine Quelle steten Nachschubs an Arbeitskraft. Zwar lebte der Großteil der Bevölkerung dort noch immer in Unfreiheit, doch selbst dies wollte Stefanie nun ändern. Sie wollte die Bauern aus ihrer Leibeigenschaft befreien! Es ist paradox … Was hat Stefanie nur vor? Und wofür braucht sie auf einmal so viele Menschen? Für die Fabriken? Wohl kaum … Freistadt platzt jetzt schon aus allen Nähten.
Seine Skepsis gegenüber der Idee eines natürlich Guten in Menschen, Alben oder Zwergen, hinderte Stanislaw daran zu glauben, dass die Senatsvorsitzende die Bauernbefreiung aus Liebe zu den Leibeigenen auf ihre Agenda gesetzt hatte. Selbst aus wirtschaftlicher Perspektive ergab der Plan für den Magier kein Sinn – war sogar schädlich für die Zukunft Freistadts. Erstens würde neue Zuwanderung den Bedarf an Lebensmitteln erneut in die Höhe treiben. Und diese waren aktuell schon dermaßen knapp, dass bereits Kinder im Äußeren Ring verhungerten. Sicherlich, spielte Stanislaw das Szenario durch, Freistadt könnte einfach mehr Nahrung in der Südlichen Provinz ordern. Doch wer sollte die anbauen? Die Bauern? Die wären ja zum Großteil hier. Zweitens besaß Freistadt bereits die nötigen Arbeitskräfte für die Zukunft, flocht er den Pfaden weiter, diese waren nur noch nicht alt genug, um in den Fabriken mitzuarbeiten. Im Zuge der letzten Dekade ist die Stadtbevölkerung dermaßen rasant gewachsen, dass jeder Bauer aus dem Süden, der heute als Unterstützung nach Freistadt kam, morgen ein Problem war. Der Magier war sich bewusst, dass viele der Senatsmitglieder zu kurzsichtig für diese Problematik waren. Doch war ihm ebenso klar, dass dies bei Stefanie nicht der Fall war. Aber warum dann die Bauernbefreiung? An dieser Stelle blieb Stanislaw hängen. Immer wieder. Ihm fehlte schlichtweg ein finales Puzzleteil, ein entscheidendes Detail, um das Gesamtbild zu erkennen. Unzufrieden lehnte er sich in dem ungemütlichen Holzstuhl zurück und begann von vorne.
„Sie ist mit dem Abgesandten alleine in ihrem Büro?“, schallte es wütend den langen Flur entlang. Stanislaw kannte die Stimme. Sie gehörte Major Stein. „Benutzt denn niemand in diesem Scheißladen seinen Verstand?“
„Aber Major Stein …“, erklang stockend die eingeschüchterte Stimme des Assistenten.
„Nix aber! Da kommt ein Abgesandter des Kaisers, ohne Begleitung und mitten in der Nacht - klammheimlich - nach Freistadt, und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als ihn alleine mit der Senatsvorsitzenden in einen Raum zu setzten?“ Die energischen Stiefeltritte Steins drangen trotz des weichen Teppichbodens im Flur bis zu Stanislaw. Stein zürnte lautstark weiter: „Was ist, wenn es sich um einen Attentäter handelt? Da können Sie ihm ja gleich ein Messer geben!“ Seinem Grollen folgend, kam der Major um die Ecke des Flurs gerauscht und bewegte sich mit wuchtigen Schritten auf das Büro der Senatsvorsitzenden zu. Sein Ledermantel, der ihn als Mitglied der Stadtwache auswies, wehte hinter ihm her. Er machte nicht den Anschein, als wolle er auf einem der Stühle vor dem Büro geduldig Platz nehmen.
Hinter dem Leibwächter bemerkte der Assistent vorwurfsvoll: „Sie waren ja nicht vor Ort, sondern lieber bei der Morgeninspektion der Stadtwache.“ Das schmächtige Kerlchen hatte nicht einmal ausgesprochen, da hatte Stein bereits auf dem Absatz Kehrt gemacht. Es sah so aus, als wolle der Assistent weglaufen, wusste jedoch nicht wohin.
„Was haben Sie da gerade gesagt?“ Major Stein baute sich in voller Größe vor seinem Gegenüber auf. Er vibrierte vor Zorn. „Tun Sie kleiner Bürokratenarsch mir den Gefallen und wiederholen Sie das!“
Stille. Dann leise, aber entschieden, vom Assistenten: „Sie waren nicht hier, sondern bei der Morgeninspektion der Stadtwache.“
Das ist mutig, gestand Stanislaw und rückte amüsiert seine Manschettenknöpfe zurecht. Ich hätte mir das zweimal überlegt. Ohne die beiden direkt anzublicken, lehnte er sich interessiert zur Seite. Dieser Stuhl war wirklich die Hölle.
„Ich war nicht bei der Morgeninspektion, Sie Pfeife!“, stellte Stein unmissverständlich klar. „Ich musste in eines der Reviere, weil gestern Nacht zwei Stadtwachen halb totgeschlagen wurden. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie in der Zwischenzeit einen Tag der offenen Tür bei der Senatsvorsitzenden ausrichten!“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, machte der Major erneut Kehrt und setzte seinen Weg zum Büro von Stefanie Seidel fort. Der Assistent trollte sich schnellstmöglich vom Flur.
„Guten Morgen, Herr Major“, begrüßte Stanislaw den Herannahenden nüchtern und erhob sich von seinem Platz.
„Guten Morgen, Herr Professor“, kam es ebenso neutral und beherrscht zurück. „Bereit?“
Stanislaw schloss mit flinken Fingern den obersten Knopf seines Sakkos. „Bereit.“ Er schätzte die professionelle Art des Majors.
Der Leibwächter wollte gerade an der lederverkleideten Bürotür klopfen, als diese aufgerissen wurde. Instinktiv machte Stanislaw einen Schritt zurück und verstärkte den Griff um seinen Gehstock, an dessen Spitze der rötlich funkelnde Pyrop bedrohlich zu schimmern begann. Auch der Major reagierte reflexartig, doch machte dieser im Gegensatz zu Stanislaw einen Schritt nach vorne und griff dabei blitzschnell unter seinen Ledermantel.
„Wenn das Ihr letztes Wort ist, wehrte Senatsvorsitzende, werde ich es der Kaiserin so überbringen müssen.“ Der Abgesandte stand verärgert vor der geöffneten Tür. „Die Kaiserin hegte die Hoffnung, Freistadt sei in dieser Hinsicht kooperativer.“
„Bitte verstehen Sie meine Entscheidung nicht als Absage an das Kaiserreich“, erklärte Stefanie Seidel höflich. „Es ist nun einmal eine unserer Grundprinzipien, dass alle Maschinen – und auch die dazugehörigen Pläne und Skizzen – unverrückbares Eigentum des jeweiligen Besitzers sind. Selbst wenn ich Ihnen derartiges als Senatsvorsitzende geben wollte, dürfte ich es nicht.“
„Auch dies werde ich der Kaiserin berichten“, nahm der Abgesandte den Beschwichtigungsversuch ungerührt zur Kenntnis und wandte sich den beiden Menschen auf der anderen Seite des Türrahmens zu. Abschätzig musterte er beide.
Während er den aschblonden Mann mit Kurzhaarschnitt und schwerem Ledermantel schnell einzuordnen vermochte, verharrte sein Blick ungleich länger bei Stanislaw. Scheinbar konnte er sich aufgrund des karierten Stoffanzuges und dem edlen Gehstock nicht zwischen Unternehmer und Gelehrten entscheiden. Denn entdeckte er den Pyrop, der noch immer am Knauf des Gehstockes leuchtete. Die Geringschätzung im Gesicht des Abgesandten wich offener Feindseligkeit.
Das Erscheinungsbild des Abgesandten entsprach in so ziemlich jedem Punkt den Vorurteilen, die man in Fünf Provinzen gegenüber dem kaiserlichen Volk pflegte: Der Mann mit der anthrazitfarbenen Hautton war riesig. Er überragte selbst Stein um mehr als einen Kopf und er war noch breiter gebaut - er passte nicht einmal durch die ausgreifende Bürotür der Senatsvorsitzenden. Nachdem der Kaiserliche mit gesenkten Kopf den Türrahmen passiert hatte, präsentierte er sich seiner physischen Überlegenheit bewusst in voller Pracht vor den beiden Menschen. Bedrohlich reflektierten seine überaus gepflegten und mit Silberbeschlägen verzierten Eckzähne, die eine gute Handbreit aus dessen Unterkiefer herausragten, das Licht im Flur. Sie wirkten auf Stanislaw eher wie kunstvoll manikürte Fingernägel, denn wie Stoßzähne. Der unverkennbare Geruch von Rosenwasser stieg dem Magier deutlich in die Nase.
Die Kaiserlichen sind bei weitem nicht so unzivilisiert, wie sie die Akademie der Zauberkünste darzustellen versucht, gestand er sich ein. Die goldenen Augen des Abgesandten starrten ihn noch immer angewidert an und dessen körperliche Präsens wurde Stanislaw unangenehm. Der Magier trat die Flucht nach vorne an und streckte dem gepflegten Mann die Hand entgegen. „Guten Tag, wir wurden uns leider noch nicht vorgestellt. Professor Dr. Stanislaw von Weidenheim, erfreut Sie kennenzulernen.“ Die dunkelgraue Hand des Abgesandten rührte sich kein Stück.
Die Begrüßung ignorierend schritt dieser einfach zwischen Stanislaw und Stein hindurch, wobei er die beiden Menschen an den Rand des Flures drängte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte der Mann mit langen Schritten davon. Stanislaw und der Major warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Stefanie stand noch immer in ihrem Büro und hatte ihre Hände in die Hüfte gestemmt. Resignierend schüttelte sie ihren blonden Lockenkopf.
„Bitte kommt herein - und schließt die Tür hinter euch.“ Die Senatsvorsitzende vollführte eine einladende Geste als sie wieder hinter ihrem Schreibtisch angekommen war. „Bitte, nehmt Platz.“ Sie deutete auf zwei Holzstühle mit hellem Kalbsleder. Der wuchtige Eichentisch der Vorsitzenden thronte an der Rückwand des geräumigen Büros, direkt vor zwei scheinbar endlosen Glasfenstern und gegenüber dem stuckverzierten Kamin, indem aktuell nur noch eine schwache Glut loderte. Stanislaw hatte dem Major den Vortritt gelassen und schloss nun die gedämmte Bürotür hinter sich.
Stein selbst ignorierte die dargebotenen Sitzplätze vollends und eilte direkt zu Stefanie hinter den Schreibtisch. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Frau Vorsitzende?“, erkundigte sich der Leibwächter in einem grauenvoll gekünstelten Tonfall.
„Bei mir ist alles okay, Wolf“, beruhigte Stefanie den Major. „Es gibt keinen Grund für falsche Förmlichkeiten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Stanislaw bereits über uns beide Bescheid weiß.“ Liebevoll nahm die Senatsvorsitzende die starke Hand ihres Leibwächters in die eigenen.
„Ich hatte es vermutet“, bemerkte Stanislaw teilnahmslos, öffnete den obersten Knopf seines Sakkos und nahm auf einem der Stühle Platz. Das Interesse des Magiers galt in diesem Moment nicht einer verheimlichten Liebesbeziehung, sondern etwas weitaus Greifbareren. Nämlich dem Dolch auf dem Schreibtisch.
Es handelte sich eindeutig um einen militärischen Dolch: scharfe Schneide auf der einen, und improvisierte Säge auf der anderen Seite der Klinge. Obgleich Stanislaw schon allerhand Dolche gesehen hatte, zog dieser ihn aus irgendeinem unerfindlichen Grund in seinen Bann. Nachdenklich sortierte er sich auf seinem Stuhl, welcher weitaus gemütlicher als jener vor dem Büro war.
„Was wollte der Abgesandte von dir?“, fragte Stein besorgt. „Und warum kam er mitten in der Nacht und ohne Begleitung nach Freistadt?“ Der Major ignorierte Stanislaw vollends und hatte in diesem Moment nur noch Augen für seine Geliebte.
„Er überbrachte ein Angebot der Kaiserin, welches nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.“
Theatralisch hielt Stanislaw den Dolch zwischen Daumen und Zeigefinger in die Luft. Die Waffe war schwerer als vermutet. „Nur ein Angebot?“
„Dazu komme ich gleich“, entgegnete Stefanie knapp und bat Wolf mit einer Geste endlich Platz zu nehmen. „Der rasante Aufschwung unserer Stadt hat die Aufmerksamkeit der Kaiserin – und in gewissen Maße auch ihr Missfallen erregt“, erklärte sie. „Sie ist überaus interessiert an der Technik in unseren Fabriken. Vor allem seitdem sie erfahren hat, dass wir seit geraumer Zeit Eisen- und Stahlerzeugnisse in Masse produzieren.“ Die Vorsitzende seufzte. „Für ein auf Expansion ausgelegtes Reich, wie das Kaiserreich, ist dies anscheinend weitaus interessanter als die schnöde Textilproduktion.“
Stanislaw wog die Waffe noch immer in seiner Hand. „Eisen- und Stahlerzeugnisse … nette Umschreibung für Waffen und Kriegsgerät.“ Er fokussierte seine ehemalige Schülerin. „Wann seid ihr denn in den Fabriken von Töpfen und Pfannen hierzu gewechselt?“
„Und wie konnte die Kaiserin davon erfahren?“, unterbrach ihn der Major, nachdem er sich endlich gesetzt hatte. „Hat sie etwa Spione in Freistadt?“
„Mit Blick auf die soziale Lage der Fabrikarbeiter würde es mich nicht wundern, wenn diese für ein paar Reichsmark alle Geheimnisse der Welt an jeden weitergeben“, beantwortete Stanislaw die Zwischenfrage ohne Stefanie aus dem Blick zu lassen. „Also Stefanie … warum Waffen? Und warum in diesem Ausmaß?“ Noch während er die Frage stellte, fiel es dem Magier wie Schuppen von den Augen. Der Dolch zwischen seinen Fingern war das fehlende Puzzleteil. Das entscheidende Detail. Nun ergab alles einen Sinn.
„Ein Krieg?“, stieß er ungläubig hervor. „Ein Krieg gegen das Kaiserreich?“ Stanislaws ehemalige Schülerin zuckte nicht einmal mit einer Wimper. „Deswegen die Befreiung der Bauern im Süden … du benötigst so schnell wie möglich arbeitsfähige – oder besser wehrfähige – Männer. Du stellst heimlich eine Armee auf! Und während Freistadt die Waffen besorgt, liefert der Süden die Soldaten … weiß der Senat davon?“ Ein Zucken in dem blond gelockten Engelsgesicht.
„Stanislaw, bitte überstürze jetzt nichts“ begann Stefanie behutsam. „Nein, der Senat hat keine Ahnung von meinem Plan. Ich verfolge meine eigenen Ziele - doch lass mich dir zuerst meine Beweggründe erklären.“ Die Senatsvorsitzende war vollkommen gefasst, als sie die Bitte aussprach und entgegen seiner inneren Anspannung nickte der Magier zustimmend. Zu Stein brauchte er gar nicht erst hinüberblicken. „Stanislaw, wir sehen uns aktuell einer Chance gegenüber, die vielleicht niemals wiederkehren wird“, erklärte die Senatsvorsitzende.
„Wer ist wir?“, unterbrach er sie augenblicklich.
„Mit wir meine ich die vereinten Fünf Provinzen - und alle Menschen, Alben und Zwerge, die diese bewohnen. Wir alle leben seit den Einungskriegen unter der Herrschaft des Kaiserreichs. Einem Kaiserreich, das uns von einem anderen Kontinent aus beherrscht und keinerlei Interesse für unsere Belange hat. Das Einzige, was das Kaiserreich wirklich interessiert, sind die Zölle und Steuern, die sie uns abzwingen – für einen kaiserlichen Schutz, um den niemand in den Fünf Provinzen gebeten hat. Das ist eine verdammte Besatzung. Und was macht unser König, der ehrenwerte Wieland III.? Er kuscht vor der Kaiserin, wo er nur kann!“
Hiermit hatte Stefanie nicht ganz unrecht. Das Kaiserreich befand sich tatsächlich auf einem anderen Kontinent als die Fünf Provinzen. Die einzige Verbindung, die zwischen ihnen existierte, war eine gewaltige Brücke, welche die Meerenge von Schwarzenheim im Osten überspannte. Und der Umstand, dass alle großen Handelsstraßen im Königreich mit kaiserlichen Zollstationen geradezu gepflastert waren, sprach für sich. Er beugte sich vor: „In Ordnung, Stefanie. Das Kaiserreich hat die Fünf Provinzen in einem brutalen und langwierigen Krieg unterworfen, nur um sich dann an diesen zu bereichern. Wir alle wissen das … doch wie ist deiner Meinung nach den Bewohnern der Provinzen mit einem erneuten Krieg gegen das Kaiserreich geholfen? Ein solcher Konflikt wäre nicht weniger entbehrungsreich als der erste.“
Obwohl er einen direkten Angriff auf das Kaiserreich in der jetzigen Situation als aussichtslos bewertete, wollte er die Idee nicht sofort verwerfen. Zum einen hegte Stanislaw als Magier eine ganz persönliche Abneigung gegenüber dem Kaiserreich und zum anderen barg Stefanies Vorhaben eine enorme Gefahr für die Akademie der Zauberkünste selbst.
„Wir können den Bewohnern der Fünf Provinzen durch diesen Krieg die Möglichkeit zurückgeben, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen“, erklärte Stefanie überzeugt. „Als eine geeinte Nation und ganz ohne die Lasten und Einmischungen der Kaiserin.“
„Selbst über ihr Schicksal bestimmen? So wie in Freistadt?“ Stanislaw lehnte sich wieder zurück. „Was denkst du, hält Wieland III. von deiner Idee? Eine Monarchie und ein Volk, dass selbst über sein Schicksal bestimmt … passt nicht so recht zusammen, oder?“
„Aus diesem Grund gilt es nicht nur das Kaiserreich, sondern auch Wieland III. und seinen gesamten Hofstaat aus den – von nun an – Freien Provinzen zu vertreiben.“
Nun war Stanislaw doch erstaunt. Stefanie plante nichts Geringeres, als die gesamte Gesellschaftsordnung der Fünf Provinzen auf den Kopf zu stellen.
„Nun gut.“ Er wollte diesen Punkt zunächst auf sich beruhen lassen. „Gehen wir davon aus, du schaffst es, diese Armee aufzustellen und die Provinzen unter deiner Führung zu vereinen - wie gedenkst du das Kaiserreich in einer offenen Auseinandersetzung zu schlagen?“ Sein Blick wanderte nun doch zum Major, der ihrer Diskussion gespannt folgte. “Ich meine, wir alle haben den Abgesandten mit eigenen Augen gesehen: Die Kaiserlichen sind allen Menschen, Alben und Zwergen physisch dermaßen überlegen, dass eure Streitkraft eine unbeschreibliche Überzahl an Soldaten benötigen würde. Und die hat sie nicht.“
„Wir müssen sie gar nicht besiegen“, bemerkte Stefanie überzeugt, „wir müssen lediglich die kaiserlichen Verbände innerhalb der Provinzen loswerden oder über die Meerenge zurücktreiben. Wer die Meerenge von Schwarzenheim kontrolliert, kontrolliert den einzigen Landzugang zu den Fünf Provinzen. So wie es unsere Vorväter über Jahrhunderte taten, bevor wir die Einungskriege verloren.“
„Du meinst: Bevor die Magier ihre Macht eingebüßt haben“, konkretisierte Stein die Aussage der Vorsitzenden.
Bevor die Magier ihre Macht eingebüßt haben …, hallte es Stanislaw durch den Kopf. Für einen einfachen Krieger sicherlich eine eingängige und simple Erklärung. Jedoch ist die Realität dann doch nicht so einfach. Über Jahrhunderte waren die Magier der Akademie Garant für die Freiheit der Provinzen. Denn, obwohl die Kaiserlichen im Zweikampf alle Vorteile auf ihrer Seite hatten, besaßen ihre Streitmacht einen entscheidenden Nachteil: in ihren Reihen gab es keine Zauberkundigen. Das kaiserliche Volk besaß von Natur aus schlichtweg keinerlei magische Begabung. Sie konnten nicht zaubern – noch nie. Und so waren es die Magier der Akademie gewesen, die die Kaiserlichen durch ihre vereinte Zauberei so lange am Überschreiten der Meerenge gehindert hatten.
Doch änderten sich die Zeiten. Aus noch immer ungeklärten Gründen begann die Magie in den Fünf Provinzen zu schwinden. Von Generation zu Generation wurden weniger Magiebegabte geboren und durch die Akademie ausgebildet. Und als die verbliebenden Magier die körperliche Überlegenheit ihrer Gegner nicht mehr ausgleichen konnten, überschritten diese die Meerenge und unterwarfen die Fünf Provinzen. Die Einungskriege waren verloren. Dies war nun 72 Jahre her.
„Die Magie wird nicht einfach zurückkehren“, bemerkte Stanislaw bitter, „selbst wenn ihr es schafft, die Kaiserlichen über die Meerenge zurück in ihr Land zu drängen.“
„Das muss sie auch nicht.“ Stefanie blickte zwischen Wolf und ihm hin und her. „Ich beabsichtige vielmehr die Stärke der Kaiserlichen durch Masse zu schlagen.“
„Aber du weißt nicht wie viele Kaiserliche es gibt.“
„Aber ich weiß, wie viele Kaiserliche sich in den Fünf Provinzen befinden“, wehrte die Vorsitzende Stanislaws Einwand barsch ab. „Und ich weiß, dass sich niemand auch nur vorstellen kann, wieviel Waffen wir durch unsere Maschinen wirklich produzieren können. Freistadt kann innerhalb von einer Woche ganze Landstriche unter Waffen stellen. Und ich sprechen nicht von einem Schwert oder Speer für jeden Soldaten“, fuhr Stefanie nahezu hysterisch fort. „Ich spreche von einer vollen Schutzrüstung samt Haupt- und Nebenwaffe. Mit Helm, Schild und Pflegematerial. Alles, was dazugehört.“ Sie war inzwischen aufgestanden und beugte sich über den schweren Eichentisch. „Ein solches Meer aus gepanzerten Soldaten und Klingen wird die kaiserliche Armee einfach hinwegfegen.“ Stanislaw schauderte es.
„Also plant ihr die Akademie der Zauberkünste in eurer Strategie gar nicht erst mit ein, richtig?“, hakte er spitzfindig nach. „Etwa, weil ihr sie für ebenso veraltet befindet wie König und Ständeordnung?“ Er spürte, wie sich Stein neben ihm spannte. „Sind wir möglicherweise die nächsten, die nach König und Kaiserin auf eurer Liste stehen? Immerhin beherbergt die Akademie eine Menge Traditionalisten, die eine gewisse Nähe zum Königshof pflegen.“
„Zu denen du nicht gehörst“, bemerkte Stefanie.
„Zu denen ich nicht gehöre“, bestätigte Stanislaw. Steins Ledermantel raschelte verdächtig, als dieser beiläufig seine Hand unter dem Kleidungsstück verschwinden ließ. Auch Stanislaw verstärkte den Griff um seinen Gehstock und die vertraute Wärme magischer Energie waberte seinen Arm empor.
„Die Akademie steht auf keiner meiner Listen“, antwortete Stefanie schließlich in die Spannung der Situation hinein. „Ich möchte weder dich, meinen alten Lehrmeister, noch einen anderen Magier, noch die Akademie der Zauberkünste zum Feind. Um ehrlich zu sein war dies der Grund, warum ich dich von Anfang an in die Konsultationen mit dem Kaiserreich einbinden wollte.“ Stanislaw glaubte ihr. „Ich möchte alle Bewohner der Fünf Provinzen in einer Nation, bestehend aus Freien, vereinen“, beschwor sie ihn. „Und was die Nähe mancher Magier zu Wieland III. angeht … diese Magier müssen eine Entscheidung treffen: für die Nation oder für König und Kaiserin.“