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Isolde schreckte ruckartig aus ihrem Traum auf und wusste nicht, ob sie tatsächlich geschrien oder nur davon geträumt hatte. Unter dem mürrischen Knarren ihres Bettes lehnte sie sich erschöpft an das Kopfende und fröstelte. Ihr durchgeschwitztes Nachthemd klebte nicht nur an ihrem feuchtkalten Rücken, sondern verband sich ebenso mit dem klammen Luftzug im Raum. Stöhnend rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und hoffte mit dieser Geste auch die letzten Überreste des schrecklichen Albtraums aus ihrem Geist zu vertreiben: Jenem Schreckgespenst, dass sie nun schon seit knapp einem Monat regelmäßig heimsuchte. Wie ein unausweichliches Grauen lauerte es in der Dunkelheit und Isolde wusste nicht, wie sie ihm entrinnen sollte. Bei ihrem Sohn hatte sie beobachtet, dass dieser nach dem Erwachen aus einem Albtraum erleichtert aufatmete. Glücklich darüber, der Traumwelt endlich entkommen zu sein. Isolde konnte die kindliche Erleichterung nicht nachvollziehen.

Angewidert starrte sie auf die Ratte, welche sich auf der gegenüberstehenden Kommode ausgiebig kratzte und dabei zahlreiche Haare verlor. Dabei störte das Nagetier selbst Isolde eher weniger - sogar die fehlenden Fellstücke und zerschlissenen Ohren ließen sie kalt. Solche Anblicke begleiteten sie schon ihr Leben lang in den Straßen Freistadts. Was sie wirklich störte, war die Tatsache, dass sich die Ratte in ihrer erbärmlichen Verfassung perfekt in das Erscheinungsbild ihres Schlafzimmers einzufügen schien. Sie gehörte einfach dazu. Isolde lächelte bitter.

Ein weiterer glücklicher Einwohner Freistadts, der Stadt in den Fünf Provinzen, die Wohlstand und Aufstieg für alle versprach - vollkommen ungeachtet ihrer Herkunft oder Rasse. Sie war nie naiv genug gewesen, um an derartige Versprechen zu glauben. Sicherlich bot Freistadt gegenüber anderen Städten im Königreich vielerlei Vorzüge, doch galten diese meist nur für die Wohlhabenden.

Der Windzug im Raum schwoll an und Isolde entschied sich aufzustehen. Unter neuerlicher Kommentierung des Bettes warf sie die löchrige Bettdecke beiseite und setzte sich an den Bettrand, wobei sie ihr Rückenschmerz gnadenlos an die fehlenden Latten im Bettrost erinnerte. Durch das erneute Knarren des Bettes hatte sich nun auch die Ratte zum Verlassen entschieden und verschwand mit kratzenden Geräuschen unter dem Kleiderschrank neben der Kommode.

Isolde raffte sich auf und ging zum Nachttopf. Als sie ihr Nachthemd anhob und sich über den Topf kniete, fiel ihr auf, wie hungrig sie war. Wann sie das letzte Mal richtig gegessen hatte, wusste sie nicht - und eigentlich interessierte es sie auch nicht. Denn selbst wenn sie es gewusst hätte, wäre sie davon auch nicht satt geworden.

Mühsam stand sie auf und schritt zu der ausgebleichten Holzkommode, auf der eben noch die Ratte gekauert hatte, und wischte beiläufig deren Hinterlassenschaften von der Oberfläche, bevor sie die Temperatur des Wassers in der Waschschüssel prüfte. Eigentlich hasste sie es, sich mit eiskalten Wasser zu waschen, doch wenn sie heute Nacht noch ein paar Reichsmark verdienen wollte, durfte sie nicht mehrere Schritt weit gegen den Wind stinken. Zwar waren die Freier in ihrer Nachbarschaft nicht allzu wählerisch, doch war Isolde auch nicht mehr die Jüngste.

Während sie sich das Gesicht zu waschen begann, versuchte sie abzuschätzen, wie spät es war und spähte aus dem Augenwinkel zu den kleinen Löchern, die sich in der Wand an der Westseite ihres Schlafzimmers befanden. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen hindurch und Isolde wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Sie setzte die Wäsche mürrisch unterhalb ihrer Gürtellinie fort und nachdem sie zumindest die wichtigsten Körperstellen für die Sicherung ihres Lebensunterhaltes gewaschen hatte, stellte Isolde die Waschschüssel vorsichtig zur Seite. Das Wasser war freilich nicht mehr trinkbar, doch deswegen nicht weniger wertvoll in den Armenquartieren Freistadts.

„Wenn ich es dir doch sage!“, rief Josef über den kleinen Holztisch dem jungen Matthias zu. „Du musst jede Nacht mindestens fünf Stunden schlafen, sonst wächst du nicht mehr. Und ich glaube nicht, dass du den Rest deines Lebens wie ein nichtsnutziger Zwerg verbringen willst, oder?“

Isolde hatte die Küche betreten und betrachte Josef, der soeben mit ihrem Sohn diskutierte. Josef war nicht der Vater des Jungen, doch unterstütze er sie beide so gut er konnte.

„Ich mag Zwerge“, entgegnete Matthias trotzig. „Die sind stark und machen den ganzen Tag, was sie wollen. Viele handeln sogar im Auftrag der Gilde und bereisen das gesamte Königreich.“

„Und genau deshalb sind das ja auch alles Nichtsnutze, die niemand hier in Freistadt respektiert!“, entgegnet Josef und ließ nicht locker. „Oder hast du schon einmal jemanden getroffen, der dieses verlogene Pack gerne hat?“

Isolde fand es immer wieder rührend, wie entschieden ihr Sohn und Josef stritten, wenn es darum ging, dass Matthias rechtzeitig zu Bett ging. Dabei wussten alle beide ganz genau, wie ihre Auseinandersetzung enden würde. Josef würde noch eine halbe Stunde lang versuchen, ihren Sohn unter fadenscheinigen Argumenten zum Schlafen zu überreden und Matthias würde energisch dagegenhalten. Matthias war eben noch ein Kind und voller Tatendrang. Für ihn war alles neu und interessant. Wie die Händler der Gilde wollte er die Welt außerhalb der Stadtmauern Freistadts selbst erleben und die Fünf Provinzen bereisen. Isolde war bereits aufgefallen, dass ihr Sohn die Geschichten der fliegenden Händler auf den Märkten und Straßen geradezu aufsog und so gerne sie sich ein solches Leben für Matthias auch wünschte, so wusste sie doch, dass er diese Reisen niemals antreten würde. Seine Welt würden die grauen Fabriken vor den Toren Freistadts sein, denn obwohl er erst elf Jahre alt war und noch kein Bart in seinem Gesicht spross, war er ein unabdingbarer Verdiener im Haushalt. Isolde stiegen Tränen in ihre hellblauen Augen. Es tut mir so leid.

Am Ende ihrer Diskussion würde Josef ihrem Sohn erlauben einen kräftigen Schluck aus seinem Bierkrug zu nehmen, was zumindest den drängendsten Hunger stillte und die Sinne gegen die Kälte der Nacht abstumpfte. Es war inzwischen zu einem festen Abendritual für beide Streithähne geworden - genauso wie die persönliche Verabschiedung von Isolde, bevor diese das Haus für die Nacht verließ. Die allabendliche Verabschiedung von Matthias war Isoldes Weise um sich in Erinnerung zu rufen, warum sie ihren Körper für nur ein paar Reichsmark in den schmutzigsten Ecken Freistadts feilbot.

„Matthias…“, seufzte sie verständnisvoll. „Du weißt doch ganz genau, dass du morgen Früh wieder pünktlich in der Fabrik sein musst. Außerdem kann ich doch sehen, dass dir schon die Augen zufallen.“ Liebevoll streichelte sie ihrem Sohn durch sein braunes, struppiges Haar.

„Aber ich möchte wach bleiben und da sein, wenn du nach Hause kommst. Dann kann ich mir sicher sein, dass es dir auch gut geht.“

„Du weißt doch ganz genau, dass du dir keine Sorgen machen musst“, beruhigte sie ihn. „Außerdem passe ich doch auf, wenn ich so spät noch rausgehe.“ Unweigerlich fasste sie unter ihren Rockbund. Seit dieser schrecklichen Nacht vor einem Monat versteckte Isolde dort eine kleine, aber todbringend scharfe Klinge. Diese sollte ihr im Notfall die Haut retten - oder zumindest ihr Leiden beenden.

„Ist das so?“, bemerkte Josef verdrießlich. Sein Kommentar war leise, doch hörbar. Mit seinem Bierkrug in der Hand stand er auf verließ missmutig die Küche.

Matthias blickte ihm verwundert hinterher und fragte seine Mutter: „Was ist denn mit Josef los?“

„Keine Ahnung“, log Isolde und streichelte ihm weiter den Kopf. Sie wusste, dass auch Josef diese Nacht in Erinnerung geblieben war. Damals hatte sich der Herbst noch nicht angekündigt und der Sommer schenkte Freistadt die letzten lauen Nächte. Dies war die einzige angenehme Erinnerung, die Isolde mit diesem Tag verband. Denn im Morgengrauen war nicht einmal mehr sicher gewesen, ob sie überhaupt überleben würde. Alleine hatte sie sich durch die Gossen Freistadts nach Hause geschleppt. Am Ende ihrer qualvollen Reise lag sie in zerrissener Kleidung, blutend und nahe der Bewusstlosigkeit vor ihrer eigenen Haustür. Nur die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages gaben ihr die Kraft nach Josef zu rufen. Glücklicherweise wachte Matthias in jener Nacht nicht durch ihre Rufe auf, denn das hätte sie sich niemals verziehen.

„Und jetzt ab ins Bett, du Zwerg!“, sagte sie mit einem gekünstelten Lächeln und gab ihrem Sohn einen zarten Ruck.

„Aber ich wollte noch ein Schluck Bier von Josef!“, verlangte dieser und stemmte sich gegen ihre Hand.

Er ist wirklich stark geworden, bemerkte sie glücklich und entgegnete: „Das muss heute leider ausfallen … aber dafür kannst du einen Kuss von deiner Mutter haben.“

„Den kannst du dir sparen!“ Matthias grinste verschlagen und seine braunen Augen leuchteten sie an. Ihre Hand strich zärtlich über seine Wange. Er hatte die Augen seines Vaters, in denen sie sich verlieren konnte.

„Alles okay bei dir?“, fragte Matthias unsicher.

„Ja, bei mir ist alles okay. Und jetzt ab in Bett.“

Matthias strich die Hand seiner Mutter beiseite und sprang von seinem Stuhl auf. Nun küsste er sie doch kurz auf die Wange und rannte schnell in sein Schlafzimmer.

Ich liebe dich! Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Ohne ihm lange nachzublicken griff Isolde sich ihren verwaschenen Überwurf aus Schafwolle und schlang ihn sich um den Hals.

„Du weißt, dass du das nicht tun musst, oder?“ Josef stand im Türrahmen seines Schlafzimmers und schaute sorgenschwer zu Isolde.

„Doch, das muss ich“, berichtigte sie ihn gereizt. „Jeden Abend muss ich das tun - und das weißt du genau.“ Ihm musste genauso klar sein wie ihr, dass sie niemals eine Anstellung in einer der Fabriken erhalten würde. Nicht mit ihrer verkrüppelten Hand. Isolde war zwar schon immer von ansehnlicher Natur, doch waren seit ihrer Kindheit drei Finger ihrer linken Hand versteift. Und im Gegensatz zu den Freiern interessierten sich die Fabrikbesitzer nun einmal auch für ihre linke Hand.

„Ich meine nur, dass dich das eines Tages umbringen wird“, versuchte Josef sie zu beschwichtigen. „Irgendein Verrückter wird dir die Kehle durchschneiden und die Stadtwache wird sich nicht einmal dafür umdrehen - wenn sie es nicht sogar selber tun, die Schweine … Wer kümmert sich dann um Matthias? Seinen Vater hat er bereits verloren.“

Du! Wenn ich eines morgens nicht zurückkomme, wirst du dich um Matthias kümmern. Wortlos verließ sie die Küche und schmiss die Haustür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

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