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Entspannt trat Ismail vor dem Hinkenden Stoffel auf den Gehsteig, blickte in die Sonne und schloss die Augen. Er atmete tief durch. Nach der düsteren, wolkenverhangenen Nacht erschien Freistadt in diesem Sonnenschein wie eine völlig andere Stadt. Die Spatzen sangen auf den Dächern, hüpften auf den Dachrinnen umher und wann immer sie konnten, flatterten diese runden, doch flinken, Spitzbuben zwischen die Bewohner auf die Straße und pickten blitzschnell alles auf, was fallengelassen wurde. Die Stadt war wie neu geboren. Ein Gefühl, welches der Waldläufer nach einer Nacht in einem richtigen Bett und einem heißen Bad am Morgen, in gewissem Maß teilte.

Neugierig betrachtete Ismail die Fußgänger vorm Hinkenden Stoffel. Freistadt war im gesamten Königreich dafür bekannt, alle Rassen der Fünf Provinzen mit offenen Armen zu empfangen und in sich zu vereinen. Soweit er sehen konnte, waren die Menschen dabei jedoch klar in der Überzahl – was aber nicht wirklich verwunderlich war. Zum einen gab es einfach weitaus mehr Menschen als Alben und Zwerge im Königreich, zum anderen lebten die letzteren meist lokal sehr verankert unter sich.

Der Großteil der Zwerge etwa, siedelte in den einem der großen Gebirgszüge des Königreiches: dem Götterkamm oder dem Goldenen Acker. Beim Götterkamm handelte es sich zweifelsfrei um das größte und höchste Gebirge. Es bedeckte beinahe die gesamte Westliche Provinz. Lange Zeit das Armenhaus des Königreiches, erlebte es in den letzten Dekaden einen Aufschwung, dem niemand ihm zugetraut hatte. Es waren wohl die enormen Kohlevorkommen dort, welche die Provinz lange Zeit zum Gespött und heute zum unentbehrlichen Rohstofflieferanten machten. Das zweite Gebirge, in dem traditionell viele Zwerge lebten, war der Goldene Acker und lag in der Nördlichen Provinz. Ein Vielfaches kleiner als sein großer Bruder im Westen, barg es nicht weniger wertvolle Schätze. Der Goldene Acker besaß zwar keine Kohle, dafür jedoch die bedeutendsten Gold- und Edelsteinvorkommen im gesamten Königreich. Seine Bedeutung für die Reichen und Mächtigen ergab sich somit ganz von alleine.

Während die Zwerge inzwischen nahezu vollkommen in die Belange der Menschen eingebunden waren, war die Situation der Alben eine ganz andere. Grob konnte man diese in zwei Gruppen herunter brechen: jene Alben, die etwas mit den anderen Rassen zu tun haben wollten und jene Alben, auf die dies nicht zutraf. Die erste Gruppe lebte oftmals friedlich mit Menschen und Zwergen zusammen, meist in Städten oder kleineren Ortschaften überall in den Fünf Provinzen. Die zweite Gruppe hingegen lebte in nomadischen Familienverbänden, tief zurückgezogen im Schattenforst, dem mächtigsten und gefährlichsten Wald des Königreichs. Manche Stimmen behaupteten sogar, die Alben der Freien Stämme hätten den Schattenforst einfach niemals verlassen, da ihre Wurzeln in dieser unbezwungenen, lebensfeindlichen Wildnis lägen. Ismail wusste nur, dass er selbst als erfahrener Waldläufer die Tiefen des Schattenforstes fürchtete.

Er trat nun vom Gehsteig und folgte der Straße nach links. Im Gegensatz zu den Außenbezirken Freistadts, war der Mittlere Ring mit Kopfsteinpflaster ausgelegt und verfügte über eine Gosse, welche in einer ausgebauten Kanalisation mündete. Ein Regenschauer hatte hier also ganz andere Auswirkungen als im Äußeren Ring, nicht zuletzt im Hinblick auf den Geruch, der einem auf der Straße entgegen schlug. Als der Waldläufer beiläufig einen großen, runden Gullydeckel in der Straßengosse inspizierte, fiel sein Blick unweigerlich auf seine abgetragenen Lederstiefel. Es ist zum verrückt werden, dachte er wütend. Kaum hat man die Dinger richtig eingelaufen, muss man damit schon wieder zum Schuster. Während der Waldläufer noch die Kosten für die Reparatur abschätzte, wog er zähneknirschend seinen Geldbeutel in der Hand. Ich sollte lieber erst einmal das Wolfsfell verkaufen … Wie war nur der Name dieses verdammten Geschäftes, von dem die beiden Trottel am Stadttor mir erzählt haben?, überlegte Ismail angestrengt während er die vorbeiziehenden Geschäfte auf eine Verkaufsmöglichkeit für das Fell auf seinem Rücken prüfte. Der Waldläufer wollte sich auf keinem Fall über den Tisch ziehen lassen, so dringend er das Geld auch benötigte.

Da Fenriswölfe überaus schwer zu erlegen waren, wurden ihre Felle im gesamten Königreich zu hohen Preisen gehandelt. Andererseits wollte er die Stadt nach dem Zwischenfall mit den Stadtwachen so schnell wie möglich wieder verlassen und musste aufpassen, dass er auf dem Fell nicht sitzenblieb. Das Feilschen mit Händlern war noch nie einer seiner Stärken gewesen.

Ismail entdeckte eine offizielle Niederlassung der Gilde zu seiner Rechten. Und wie bei allen offiziellen Niederlassungen, prangte auch über dessen Eingangstür das Symbol der Handelsgilde: die goldene Kaufmannswaage auf schwarzem Grund. Im Gegensatz zu den Handwerkern mussten sich die Händler im Königreich nicht in städtischen Zünften organisieren, sondern durften weitestgehend unabhängig und auf eigene Rechnung handeln – bis auf jene, die Geschäfte mit der Handelsgilde machten oder von dieser dazu gezwungen wurden. Mit ihrem rücksichtslosen Vorgehen hatte es die Handelsgilde in den vergangenen Jahrzehnten geschafft, ein weit verflochtenes Netz von offiziellen und inoffiziellen Vertragshändlern im gesamten Königreich zu weben. Die Gilde war einfach überall und handelte mit allem, was einen Erlös versprach. In diesem Geschäft würde er sein Fell auf jeden Fall verkaufen können, doch wurde Ismail schon übel, wenn er nur an den Verkaufspreis dachte.

„Mein Herr, bitte nur eine Reichsmark für eine arme Frau und Mutter.“ Die Bettlerin hatte sich dem Waldläufer aus einer schmalen Gasse hinter im genähert. Sie wirkte gehetzt und blickte verschreckt in alle Himmelsrichtungen. „Bitte, mein Herr … meine Kinder und ich leiden Hunger.“ Instinktiv fasste Ismail an seine lederne Umhängetasche und prüfte, ob die Frau in bereits bestohlen hatte. „Mein Herr, bitte …“ flehte die Bettlerin erneut. Sie trug einfache Kleidung aus Leinen, die ihre besten Tage bereits lange hinter sich hatte. Wieder zuckte ihr Kopf zur Seite und spähte die Hauptstraße hinab. Ismail hatte sich gerade dazu durchgerungen, der Bettlerin entgegen seiner Gewohnheit ein paar Reichsmark zuzustecken, als ein dumpfer Schlag seine Aufmerksamkeit erregt.

Die Frau lag am Boden und hielt sich den blutenden Kopf. Und neben ihr entdeckte der Waldläufer den Grund ihrer Wunde: einen handgroßen, blutbefleckten Stein, der nur langsam das Kopfsteinpflaster entlang polterte. Sofort versuchte Ismail die Richtung auszumachen, aus der das Geschoss geworfen worden war. So eine Scheiße, fluchte er innerlich als er die beiden Stadtwachen entdeckte, die geradewegs auf die Bettlerin und ihn zusteuerten. Das hat mir gerade noch gefehlt.

„Wage es ja nicht, der blöden Schlampe auch nur einen Groschen zu geben!“, brüllte die linke Stadtwache, eine junge Frau, die freudig mit einem weiteren Stein in ihrer Hand spielte. „Wenn du dieses Gelumpe erst einmal anfütterst, wirst du die gar nicht mehr los!“

Ohne zu wissen warum, streckte Ismail der verletzten Bettlerin seine Hand entgegen und half ihr aufzustehen. In keinem Moment wendete er seine Augen von den herannahenden Stadtwachen ab. Kaum wieder auf den Beinen, eilte die Verletzte augenblicklich wieder zu der Gasse, aus der sie so überraschend aufgetaucht war. Selbst Ismail konnte ihr nur kurz in ihre Augen blicken. Sie wirkten gebrochen.

Die beiden Stadtwachen hatten seine Position erreicht. „Hier werden keine Bettler gefüttert – merk dir das!“, geiferte ihn die Frau mit dem Stein an und der Geruch von schalem Bier wehte ihm ins Gesicht. „Und sieh zu, dass du Land gewinnst, sonst muss ich dir noch in den Arsch treten!“ Ismail gab keinen Ton von sich – er blickte der Wortführerin lediglich stumm ins Gesicht. „Jetzt verpiss dich endlich, Bauerntölpel!“, schrie die Frau noch erregter als zuvor.

Ohne eine Regung zu zeigen, wandte sich der Waldläufer ab und setze seinen Weg fort. Kaum hatten sich die beiden Stadtwachen ein Stück weit entfernt, entdeckte Ismail aus dem Augenwinkel die Bettlerin in der schmalen Gasse – diesmal mit einem kleinen Mädchen an ihrer Seite und beide winkten ihm zu. Der Waldläufer verstand dies als Dank für die paar Münzen, die er der Frau heimlich beim Hochhelfen zugesteckt hatte.

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