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Die Worte Josefs gingen Isolde noch immer durch den Kopf, als sie vor die Tür ihrer heruntergekommenen Unterkunft trat. Natürlich meinte er es nur gut, doch hatte er keine Ahnung von ihren Problemen und das machte sie wütend. Er hatte weder eine verkrüppelte Hand, noch ein Kind. Und eine Frau war er auch nicht. Josef arbeitete in einer der Fabriken und verdiente genug, um sein Bett, seine Tagesmahlzeit und seinen täglichen Krug Bier zu bezahlen. In ihrem Wohnviertel bedeutete das Glückseligkeit.

Isolde blickte zornig die Straße entlang und beobachtete die beiden Arbeiterströme, wie sie im Dreck des äußeren Stadtrings gegeneinander anliefen. Während die eine Gruppe soeben aus ihrem Hamsterrad floh, konnte die andere es gar nicht erwarten, in das ihre hineinzuklettern. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages verliehen dem grotesken Schauspiel einen melancholischen Beigeschmack. Als Isolde schließlich von der Türschwelle stieg, konnte sie augenblicklich die Feuchtigkeit spüren, die durch ihre löchrigen Sohlen trat. Im äußeren Ring Freistadts gab es keine gepflasterten Straßen und der Boden war nach einem ergiebigen Regenguss noch tagelang schlammig. Die Masse an Arbeitern, welche zu jedem Schichtwechsel wie Ameisen durch die Straßen strömten, besorgten den Rest.

Der Äußere Ring unterschied sich in vielen Punkten von den beiden inneren Stadtringen. Nicht nur waren die Straßen der beiden anderen Ringe durchgängig gepflastert, sondern auch Brunnen und Grünflachen stellten dort keine Seltenheit dar. Dass die Unterschiede zwischen den Stadtvierteln ausschließlich von der Art ihrer Bewohner herrührten, war dabei kein Geheimnis. Der Innere Ring war das Herz Freistadts und beherbergte die Wohlhabenden sowie den Wächter der Freiheit, einen riesigen, weißen Turm, der exakt in der Stadtmitte thronte und in dem die Stadtverwaltung und der Senat ansässig waren. Im Mittleren Ring der Stadt hausten vor allem die Handwerker, Händler und Kunstschaffenden. Dieses Stadtviertel war nicht so protzig wie der Innere Ring, doch ein gemütlicher Platz zum Leben. Und im Äußeren Ring, dort lebten ausschließlich die Armen und Fabrikarbeiter, so weit wie möglich entfernt vom Zentrum und so nahe wie möglich an den Werkbänken.

„Moin Isolde, geht’s endlich zur Maloche?“, schallte es aus der Menge zu ihr hinüber. „Wird aber auch Zeit, sonst muss ich ja noch Ewigkeiten auf mein freies Bett warten!“ Lachend tauchte Hardi aus den Fluten an Arbeitern auf und schritt strahlend auf Isolde zu.

„Du solltest dich eher freuen, dass ich immer erst kurz vor dem Schichtwechsel aufstehe!“, entgegnete sie heiter. „So ist das Bett noch warm, wenn du von deinen Besäufnissen endlich nach Hause kommst.“ Ihre Laune besserte sich schlagartig und der Ärger über Josef war wie verflogen - Hardi hatte einfach etwas Besonderes. Den Zwerg hatte es hart im Leben getroffen und dennoch konnte er jeder Situation etwas Gutes abgewinnen. „Wie geht es dir heute?“, erkundigte sich Isolde nun ernster.

Der Zwerg war inzwischen bei ihr angekommen und machte einen schlechten Eindruck. Für einen Mann seiner Gattung war er viel zu schmächtig und sein grauer Bart war an vielen Stellen verfilzt - die einzigen Farbspritzer darin rührten vom Dreck der Straße. Besorgt schaute Isolde zu seinem linken Arm, der knapp unter dem Ellbogen abgetrennt war. Hardi gehörte zu jenem Kreis der Fabrikarbeiter, die der Übermüdung und einer der Fabrikmaschinen zum Opfer gefallen war. Isolde musste unweigerlich an Matthias denken und die Sorgen des Alltags holten sie wieder ein.

„Mir geht es gut - du kennst mich doch!“, beruhigte er sie mit einem Augenzwinkern und fügte, ihrem Blick folgend, hinzu: „Ach, der Arm? Den habe ich doch sowieso kaum benutzt - bin doch Rechtshänder. Und das Wichtigste bekomme ich noch problemlos hin …“ Als Beweis gestikulierte der Zwerg wild mit seinem verbliebenem Arm. Zuerst führte er einen imaginären Bierkrug zum Mund, um danach tänzelnd ein paar gekonnte Fausthiebe folgen zu lassen. „Würde es in unserem Stadtviertel genug Papier oder Wasser geben, könnte ich mir nach dem Scheißen sogar ohne Hilfe den Arsch abwischen“, schloss er seine Darbietung.

„Ich bin beeindruckt“, lobte ihn Isolde und deutete liebevoll ein Klatschen an.

Der Zwerg hatte einen derben Humor und erschien den meisten als ruppig, doch hatte er das Herz am rechten Fleck und er war Isolde bezüglich seiner persönlichen Situation näher als jeder andere, den sie kannte. Wie auch Isolde, musste sich Hardi als Bettler jeden Tag aufs Neue mit den Verrückten und Kriminellen des Äußeren Rings auseinandersetzen. „Aber dein Tag scheint sich ja gelohnt zu haben“, besann Isolde sich wieder auf die Realität und deutete auf das Bündel an Hardis Ledergürtel.

„Meinst du etwa den Laib Brot?“ Stolz wickelte der Zwerg seine Errungenschaft aus dem löchrigen Leinentuch, in das dieses eingepackt war. „Das habe ich nicht vom Betteln. Die armen Schlucker haben ja nicht einmal genug Brot für sich selbst.“

„Wem sagst du das …“, wusste Isolde und ihr Magen stimmte ihr grollend zu. „Wo hast du das Brot denn sonst her? Und gibt es da noch mehr?“

„Ja. Und ja.“, antwortete Hardi und wartete verschwörerisch, dass sie ihn zum Weiterreden aufforderte. Gerne tat sie ihm den Gefallen und neigte ihren Kopf mit hochgezogenen Augenbrauen. Der Zwerg blickte kurz zu beiden Seiten als würde er belauscht. Dann wandte er sich zu Isolde: „Ich habe das Brot von der Gemeinschaft der Ausgebeuteten und die haben noch mehr davon. Die Spinner verteilen das teilweise sogar ohne Geld dafür zu verlangen.“

„Die Gemeinschaft der Ausgebeuteten? Hier in Freistadt?“, fragte sie ungläubig. „Ich dachte, die gibt es nur in der Geteilten Stadt. Die kümmern sich doch dort um die Arbeiter in den Kohlebergwerken.“

„Machen sie ja auch. Aber seit Neuestem haben die auch eine Ortsgruppe hier in Freistadt - und die Typen haben die richtige Einstellung, das kannst du mir glauben. Anstatt immer kräftig den Bückling vor den Fabrikbesitzern zu machen, helfen sie den Arbeitern.“

„Das ist ja schön für die Gemeinschaft der Ausgebeuteten“, unterbrach ihn Isolde, „doch wie wollen die uns Leuten im Äußeren Ring helfen?“

„Außer, dass sie mir Brot geben?“

„Ja, außer dass sie dem lieben Hardi ein Laib Brot geben.“

„Ehrlich gesagt: keine Ahnung!“, gestand Hardi und brach in lautes Gelächter aus. „Die haben was davon erzählt, dass die Fabrikbesitzer in Wirklichkeit genauso abhängig von den Arbeitern seien wie andersherum. Dass wir Armen und Ausgebeuteten uns zusammentun sollen, weil wir nur dann stark seien - so ein Zeugs halt. Hab aber nicht wirklich zugehört, sondern bin abgehauen, als ich mein Brot abgegriffen hatte.“ Prüfend schnüffelte der Zwerg an dem Laib. „Scheint echt gut zu sein. Freu mich schon darauf: Einmal Brot mit … nichts. Besser kann der Tag kaum werden!“

„Und ein warmes Bett“, ergänzte Isolde.

„Und ein warmes Bett.“ Ungewohnt ernst fügte er hinzu: „Liebes, tu mir ein Gefallen und pass da draußen auf dich auf. Ich werde auch nochmal nach Matthias schauen und ihm ein Stück von dem Brot abgeben - der hat doch bestimmt wieder nur Bier von dem Arsch Josef bekommen. Diesem alten Rassisten sollte man sowieso mal …“

„Vielen Dank“, fiel ihm Isolde ins Wort. „Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.“ Sie gab ihrem Freund einen Kuss auf die Wange und drehte sich schnell um, als ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. Sie wusste ohnehin, dass der Zwerg ihr solange nachsehen würde, bis sie in die Seitenstraße einbog.

Dies war der schnellste Weg zum Brünftigen Hirsch, dem beliebtesten Bordell vor Ort. Er war das ganze Jahr über gut besucht - nicht wie die anderen Bordelle, welche zu Monatsbeginn aus allen Nähten platzten, wo dann den restlichen Monat aber Flaute herrschte. Selbstverständlich arbeitete Isolde nicht direkt im Brünftigen Hirsch - dafür war sie zu alt und ihre Hand zu verkrüppelt. Sie arbeitete daneben, dahinter oder davor - dort standen die altgedienten Prostituierten. Bereit für jene Freier, die nicht genug Geld für die jungen Dinger hatten, sich aber dennoch etwas, oder jemanden, gönnen wollten.

Es würde noch zwei Straßen dauern und Isolde hätte es endlich geschafft - die nassen Füße gingen ihr jetzt schon auf die Nerven. Der Strom aus Arbeitern ebbte langsam ab und gab die Straßen wieder frei. Mit ihm verließ auch die Sonne Freistadt und der kühle Wind kündete vom gerade begonnenen Herbst, was viele weitere, nasskalte Schichten bedeutete. Isolde begann schon zu frieren, wenn sie nur daran dachte.

Endlich bog sie in die Straße ein, in der der Brünftige Hirsch stand.

Isolde war nicht einmal richtig angekommen, da wurde sie bereits von der Seite angesprochen: „Na Süße, wir kennen uns doch, oder?“ Obwohl sie es hasste, dass sie ihren Körper verkaufen musste, freute sie sich über jeden Freier, denn ihr Leid und Selbsthass ermöglichte einen weiteren Tag ohne Hunger für Matthias. So drehte sich Isolde auch diesmal mit einem aufgesetzten Lächeln zu dem Mann um.

„Ja, wir kennen uns“, stoß sie ängstlich hervor und ihr falsches Lächeln erstarb augenblicklich. Sie kannte dieses Gesicht nur zu gut. Sie sah es seit fast einem Monat jede Nacht in ihren Albträumen. Vollkommen verängstigt senkte sie den Blick auf ihre durchnässten Füße.

„Na, na, nicht so schüchtern“, fuhr der Mann geradezu zärtlich fort. Er fasste ihr unter das Kinn und zwang ihren Kopf nach oben, sodass sie ihm direkt in sein Gesicht blicken musste. Auch dass sie die Augen schloss, half Isolde nicht - die brutalen Züge des Mannes hatten sich als Maske des Grauens bereits unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt.

„Bitte …“, flehte Isolde ihren Peiniger an.

„Ich hatte schon Angst, du würdest mich gar nicht mehr erkennen“, überging der Mann ihr Flehen und hielt sie weiterhin am Kinn fest. „Und das, obwohl wir das letzte Mal alle so viel Spaß miteinander hatten.“

„Ja, das war wirklich ne feine Sache“, stimmte der zweite Mann zu. Isolde bemerkte ihn erst jetzt. Er stand seitlich versetzt hinter seinem Freund und grinste ihr boshaft ins Gesicht. Und genau wie das letzte Mal, trugen die beiden auch heute wieder die Uniform der Stadtwache.

„Bitte, tun Sie mir nichts“, wimmerte Isolde erneut. Sie begann zu zittern und Tränen rannen als lauwarme Rinnsale ihre kalte Wange hinab, die selbst vor den stinkenden Finger des Mannes keinen Halt machten.

„Das ist doch kein Grund, gleich zu weinen …“, bemerkte er lauernd. „Aber du weißt schon, dass Prostitution in Freistadt verboten ist, oder? Ich dachte eigentlich, du hättest das nach dem letzten Mal verstanden.“ Ihre Knie wurden weich und gaben nach, sodass der Mann seinen Griff verstärkte.

Verzerrte Erinnerungen an Hilflosigkeit und Erniedrigung schossen Isolde durch den Kopf. „Bitte …“, flehte sie und den grauenvollen Erinnerungen folgten die damit verbundenen Gefühle: Schmerz, Scham und Wut. Doch besonders der Schmerz. „Bitte … nochmal überlebe ich das nicht.“

„Das mag schon sein“, entgegnete die Stadtwache vollkommen emotionslos. „Doch ein Verbrechen ist ein Verbrechen. Und es ist die Aufgabe der Stadtwache, die braven Bürger Freistadts vor Verbrechen zu schützen. Wir tun also nur unsere Pflicht.“ Der zweite Mann gluckste vor Erheiterung und klopfte seinem Freund von hinten zustimmend auf die Schulter. Ermutigt fuhr der erste fort: „Und deswegen bringen wir dich jetzt auch zum Büro der Stadtwache, wo über dein weiteres Verbleiben entschieden wird - also alles streng nach Vorschrift.“ Der Hintermann brach diesmal in gellendes Gelächter aus. Seine Stimme ergoss sich wie ein Schwall purer Hohn über Isolde. „Dann komm mal mit, du Flittchen“, beendete der Vordermann seinen Vortrag und riss sie grob am Oberarm.

Inzwischen hatte sich die aufziehende Düsternis über die Straßen Freistadts gelegt und vereinzelt konnte Isolde die Sterne am Himmelszelt erkennen – doch auch die würden ihr nicht zur Hilfe kommen. Dunkel und einsam ging die Gasse von der Straße ab und endete im Nichts. Zusammen mit dem Licht der improvisierten Straßenbeleuchtung verblasste auch der letzte Funke Hoffnung in Isolde. Die beiden Stadtwachen blieben mit ihr kurz vor der Gasse stehen und versicherten sich zunächst, dass sie von niemanden auf der Straße beobachtet wurden. Schließlich zwang sie der Vordermann in die Dunkelheit.

Isolde kannte diesen Ort. Der beißende Geruch nach Urin und Erbrochenen erinnerte sie unweigerlich an das letzte Mal. Nun würde sie an diesem widerlichen Ort doch ihr Leben lassen. Wie menschlicher Abfall zwischen der Pisse und Kotze irgendwelcher Saufbolde. Die Klinge!, schoss es ihr durch den Kopf. Die Klinge unter meinem Rockbund! Ich schwöre dir Bastard hier und jetzt: Entweder setze ich dir oder mir heute Nacht ein Ende.

Stille Pfade

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