Читать книгу Stille Pfade - Philipp Lauterbach - Страница 9
4
ОглавлениеIsmail musste sich beeilen, wenn er die Gasse noch rechtzeitig erreichen wollte - doch durfte er seine Schritte dabei nicht unbedacht setzen, denn jeder einzelne wurde von einem verräterischen Schmatzgeräusch der schlammigen Straßen untermalt. Konzentriert bewegte sich der Waldläufer an der Hauswand entlang und rollte sein Körpergewicht bei jedem neuen Schritt über die Ferse ab. Doch das verdammte Schmatzen wollte einfach nicht verstummen. Ein falscher Laut würde alles zunichtemachen.
Das Meer aus Menschen, Zwergen und Alben war inzwischen verebbt und die Einsamkeit gefiel ihm weitaus besser. Sie gab ihm das Gefühl von Kontrolle und Berechenbarkeit zurück. Mit den Fingern seiner linken Hand spürte er die kratzigen Mörtelfugen zwischen den Backsteinen, als er vorsichtig weiter dem Mauerverlauf folgte. Leicht geduckt verschmolz er zusehends mit dem Schatten der Hauswand und verließ sich einzig auf Gehör und Tastsinn. Sein angespannter Körper folgte gehorsam der führenden Hand. Der unangenehme Geruch von Urin stieg ihm die Nase und trug das erstickte Wimmern einer Frau mit sich. Er hatte den Zugang zur Gasse fast erreicht und verlangsamte weiter seine Schritte bis seine Fingerkuppen endlich die Hausecke ertasteten. Regungslos verharrte er im Schatten.
Was mache ich hier eigentlich?, zweifelte er. Immerhin ist es nicht gerade eine Besonderheit, dass sich die Stadtwache an wehrlosen Bürgern vergreift. Nachdenklich blickte er zurück auf die verlassene Straße und spürte den Drang, ungesehen wieder zu verschwinden und das Schicksal einfach seinen Lauf nehmen zu lassen. Warum also? Und warum gerade jetzt? Er seufzte unentschlossen. Wer hat denn mir geholfen, als alles den Bach runterging? Oder Mutter … Seine Muskeln spannten sich an und obwohl in seinem Inneren ungeheure Kräfte tobten, bewegte er sich keinen Fingerbreit.
Mutter … Es dauerte noch mehrere Atemzüge bis er seinen Entschluss gefasst hatte und sich zur Ruhe zwang. Schließlich bewegte er seinen Kopf in einer langsamen, doch flüssigen Bewegung um die Hausecke.
In der schmalen Gasse blickte keine der drei Personen in seine Richtung. Einer der Männer drückte das Opfer gegen die Gassenwand, während der andere das Spektakel in Ruhe betrachtete. Trotz der schummrigen Lichtverhältnisse konnte Ismail erkennen, dass die Frau zitterte. Die Angreifer waren zweifelsohne Stadtwachen. Obwohl sie ihr widerliches Verbrechen an diesem Ort zu verstecken versuchten, sprachen ihre Silhouetten eine deutliche Sprache: Beide trugen den charakteristischen Ledermantel der Stadtwache von Freistadt - lang und mit hohem Kragen. Dazu der Lederhut mit der breiten Krempe, die an der linken Seite senkrecht nach oben geknickt war. Der Fortschritt machte in Freistadt auch vor den Stadtwachen nicht Halt. Die Zeiten, in denen diese mit Helm, Schild und Handbeil durch die Straßen patrouillierten, waren lange vorbei. Heute trugen sie neben ihren modischen Ledermänteln eine automatische Armbrust, die - ungeachtet ihres kompakten Formats - in kürzester Zeit unzählige Bolzen hintereinander verschießen konnte. Doch so beeindruckend diese Waffe auch war, besorgte sie Ismail in der aktuellen Situation nicht sonderlich - für ihn war die kleine Trillerpfeife am Hals der beiden Männer weitaus bedrohlicher. Sollte einer der beiden die Pfeife zu dieser späten Stunde benutzen, würde dies alle Stadtwachen im Äußeren Ring alarmieren.
Ismail zog seinen Kopf wieder zurück und überlegte kurz, ob er seinen Bogen benutzen sollte, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Zwei blitzschnell hintereinander verschossene Pfeile in eine stockdüstere Gasse – beide augenblicklich tötend? Unmöglich. Er musste das Problem Wohl oder Übel aus der Nähe lösen. Entschlossen hob er einen der Backsteine auf, welche aus der Hauswand gebrochen waren und durcheinander auf dem Gehsteig lagen. Er wog ihn abschätzend in seiner Hand. Wenn es gut lief, würden alle Beteiligten diese Nacht überleben.
Schließlich betrat der Waldläufer die Gasse. Zielstrebig und ohne weitere Rücksicht auf das verräterische Schmatzen unter seinen Füßen näherte er sich schnellstmöglich dem ersten Mann. Sie trennten nur noch wenige Schritte und Ismail verstärkte den Griff um den Backstein. Die Stadtwache war noch immer wie gebannt von dem grausamen Schauspiel vor ihm und vollkommen ahnungslos, was den heraufziehenden Schatten in seinen Rücken betraf. Angewidert bemerkte Ismail das unruhige Herumfummeln des Mannes in seinem Schritt, als er endgültig zu diesem aufschloss. Ohne zu zögern schlug er zu.
Das Geräusch, als der Backstein mit voller Wucht den Hinterkopf des Mannes traf, erinnerte den Waldläufer vage an ein Stück Fleisch, dass auf eine glatte Oberfläche klatscht: dumpf und leblos. Die Muskeln des Mannes erschlafften augenblicklich und sein Körper folgte willenlos der Schwungbewegung des schweren Steins. Überrascht über den ausbleibenden Widerstand glitt Ismail dieser aus der Hand und rutschte polternd an der rauen Gassenwand zu seiner Rechten entlang.
Wie befürchtet, alarmierte das ungewöhnliche Geräusch die zweite Stadtwache. Noch immer mit seinen Händen an Hals und Rock des Opfers beschäftigt, riss der Mann seinen Kopf herum und brüllte erbost: „Ist ja gut jetzt, Hannes! Du kommst ja auch noch dran, aber heute …“
Ich muss mich beeilen.
Der Mann riss überrascht die Augen auf, ließ von seinem Opfer ab und schlug augenblicklich zu. Der rechte Haken explodierte wuchtig auf Ismails Unterarm, den dieser gerade noch schützend vor seinen Kopf reißen konnte. Der Fausthieb des Mannes war so kräftig, dass er Ismail auf dem schlammigen Boden der Gasse beinahe von den Beinen holte und zu einem Ausfallschritt zwang. Ohne Verzögerung folgte ein weiterer schwerer Haken, der krachend in Ismails Deckung einschlug. Und erneut musste der Waldläufer mit einem Ausfallschritt der Kraft des Gegners ein Ventil bieten. Nicht nur, dass sein Kopf zu schmerzen begann und die ersten leuchtenden Punkte vor seinen Augen tanzten, auch wäre er beinahe über die bewusstlose Stadtwache am Boden gestolpert. Die Kontrolle über den Kampf eingebüßt und schwer angeschlagen, begann Ismail seine Entscheidung zu bereuen. Er bereitete sich gerade auf den finalen Fausthieb des Mannes vor, als etwas Seltsames geschah: Die Zeit blieb stehen.
Zumindest wirkte es so auf Ismail. Es mutete an, als würde sich alles und jeder in der Gasse viel zu langsam bewegen: Der wilde Bulle von einem Mann vor ihm, dessen vor Zorn brennende Augen er nun deutlich sah. Die verängstigte Frau, die im Schneckentempo mit ihrem Rücken an die Gassenwand gelehnt zu Boden glitt. Einfach alles – bis auf ihn selbst.
Ismail konnte sich in gewohnter Geschwindigkeit bewegen. Ohne sein Glück zu hinterfragen, nutze er seine Chance und tauchte geschmeidig unter dem ausladenden Schwinger, der sich auf halbem Wege zu ihm befand, hindurch. Seitlich neben dem Mann auftauchend setzte Ismail direkt zum Gegenangriff an. Noch aus der Bewegung heraus zog er sein rechtes Bein zunächst nah an seinen Körper, nur um dieses dann mit voller Kraft zum Knie des Gegenübers zu führen. Der brutale Tritt traf das gegnerische Gelenk an der rechten Außenseite und - obwohl dieses zunächst tapferen Widerstand leistete – knickte es mit einem verstörenden Geräusch entgegen seiner natürlichen Richtung weg.
Der Lauf der Zeit nahm wieder ihre natürliche Fahrt auf und der Mann ging mit einem ohrenbetäubenden Schrei zu Boden. Nicht einmal seinen Sturz abwartend, huschte Ismail gänzlich hinter den Mann und legte ihm seinen rechten Arm um den Hals, während er mit der linken Hand seinen Hinterkopf fixierte. Er brauchte seine Armmuskeln nur für einen Herzschlag lang anspannen und die Schmerzensschreie erstarben.
Stille und Dunkelheit hatten die Gasse zurückerobert. Lediglich ein wildes Fauchen und Schreien - ähnlich einer wütenden Katze - drang zu Ismail durch. Verwirrt blickte der Waldläufer in alle Richtungen, konnte aber weit und breit keine Straßenkatze ausmachen. Das Gehörte seinen überspannten Sinnen zuschreibend, konzentrierte er sich wieder auf den Mann in seinem Würgegriff. Dieser schnappte stoßweise nach Luft und versuchte sich verzweifelt zu befreien. Als er nach Ismails Kopf griff, legte dieser den Kopf in den Nacken und verstärkte seinen Griff. Mit jedem weiteren Atemzug konnte Ismail förmlich spüren, wie das Bewusstsein den Körper der Stadtwache verließ. Ich muss jetzt aufpassen, ermahnte er sich. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist eine tote Stadtwache. Der Körper des Mannes verlor jegliche Spannung und das verkrampfte Schnappen fand ein Ende. Überrascht von dem Gewicht des Bewusstlosen, lockerte Ismail schrittweise seinen Würgegriff und ließ diesen behutsam auf den schlammigen Gassenboden gleiten. Er drehte den Mann auf den Rücken, damit dieser keinen Dreck einatmete und kontrollierte dessen Puls. Erneut das Fauchen in seinem Kopf. Der Drang zuzudrücken – einfach so. Die Beute zu erlegen.
Ismail riss sich zusammen und betrachtete stattdessen eingehend den Bewusstlosen. Sieht aus wie ein ganz normaler Kerl. Bestimmt mit Frau und Kind, einem schönen Heim.
Prüfend wanderte sein Blick durch die Dunkelheit. Anscheinend hatte niemand etwas von dem Kampf mitbekommen. Zumindest ließ sich niemand blicken. Wer weiß, sein Blick ging wieder zu dem Mann, hätte sich mein Leben vor Jahren nicht so schlagartig geändert, wäre ich jetzt vielleicht an seiner Stelle: ein Streiter für die gute Sache im Namen der lokalen Stadtwache.
Ismail stand auf und wandte sich der Frau zu, die noch immer mit dem Rücken an der feuchten Hauswand lehnte. Sie schien durch ihn hindurchzublicken, als er sich vor sie stellte. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Er musterte sie eingehend. Obwohl sie bestimmt zehn Jahre älter war als er, erschien ihm ihr Gesicht vergleichsweise jung. „Ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?“
„Katze“, antwortete die Frau emotionslos.
„Katze?“, wiederholte er verwirrt und blickte unwillkürlich zurück in die Gasse. „Haben Sie sie auch gehört?“
„Katze“, sagte sie erneut. Ihr Blick endete im Nirgendwo. Als sie sich mit ihrer Linken an den Brustkorb fasste, fiel dem Waldläufer auf, dass mehrere Finger ihrer Hand versteift waren. „Katze“, sagte sie nun ein drittes Mal und berührte dabei das Holzamulett, mit dem Ismail seinen Lodenumhang zusammenhielt.
Sein Blick folgte den schmächtigen Fingern. „Ach das! Ja, das ist eine Katze“, gestand er mit einem Lächeln. Ismail selbst hatte schön länger nicht mehr an das Amulett gedacht. Es bestand zur Gänze aus dem schwarzen Holz des Mondbaums, einer überaus seltenen Baumart, die nur in den undurchdringlichen Tiefen des Schattenforstes zu finden war. Liebevoll und mit großem handwerklichen Geschick hatte jemand dem Stück Holz die Form eines Katzenkopfes gegeben, wobei kleine, grünschimmernde Edelsteine als Augen verwendet worden waren. Ismail realisierte nun, dass die Frau nicht ins Nirgendwo, sondern direkt in die grünen Augen der Katze starrte. Liebevoll streichelten ihre Fingerspitzen das hölzerne Abbild des Raubtiers.
„Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen“, bemerkte Ismail eilig. „Wenn man uns mit den beiden bewusstlosen Stadtwachen erwischt, landen wir entweder im Kerker oder werden direkt an der Stadtmauer aufgeknüpft.“ Als eine Reaktion der Frau abermals ausblieb, griff er ungeduldig nach ihrer Hand, die diese daraufhin unvermittelt zurück riss und aufstand. Trotzig fixierten ihn ihre hellblauen Augen. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, versuchte Ismail die Situation zu entschärfen und trat einen Schritt zurück, um der Frau mehr persönlichen Raum in der engen Gasse zu geben.
„Du hast mir schon genug geholfen“, erwiderte sie zornig und richtete ihre Kleidung. Besonders ihren mit Flicken übersäten Rock schob impulsiv wieder nach unten über ihre aufgeschlagenen Knie. Als sie mit dem Glattstreichen ihrer Kleidung endlich fertig war, blickte sie an Ismail vorbei zu den beiden Stadtwachen, deren Körper noch immer regungslos im Dreck lagen.
„Gern Geschehen“, brummte Ismail missmutig und folgte ihrem Blick. „Wenn Sie keine weitere Hilfe wünschen, mache ich mich mal vom Acker – ich kann nämlich gut auf Kerker oder Galgen verzichten.“
„Einfach so?“, entgegnete die Frau verächtlich und ohne den Blick von ihren Peinigern zu nehmen.
Ismail war verwirrt.
„Du hilfst mir und haust dann einfach so ab?“ Ihre lauernden Augen wanderten zu ihm zurück. „Bist du sicher, dass ich dir nicht noch einen Gefallen schulde? Vielleicht den Rock kurz wieder anheben? Ich meine … niemand rettet eine Hure umsonst, oder?“
Wie kaputt ist diese Stadt eigentlich?, dachte Ismail abgestoßen und entgegnete: „Nein, Sie brauchen mir keinen Gefallen tun. Nach meiner guten Tat werde ich heute auch so ganz gut einschlafen können.“
Nun war es an der Frau, sichtlich verwirrt zu sein. „Es … Es tut mir leid. Aber …“
„Vergessen Sie es einfach“, unterbrach er sie erbost und wandte sich anstandslos Richtung Gassenausgang. Er war wütend. Doch eher auf sich selbst, als auf die Frau. Ihr Angebot spiegelte lediglich die Verkommenheit dieser verdammten Stadt wieder. Was ihn wirklich wütend machte, war die Tatsache, dass er sein eigenes Leben für jemand anderen aufs Spiel gesetzt hatte. Mit mahlendem Unterkiefer kniete er sich zu dem Mann, den er mit dem Backstein niedergeschlagen hatte; dessen Puls war schwach, aber vorhanden. Den Blick erneut durch die Gasse schweifend, griff der Waldläufer unter den langen Ledermantel und nahm sich den Geldbeutel der Stadtwache, schätze den Inhalt am Gewicht und nickte anerkennend. Der Beutel verschwand in seiner ledernen Umhängetasche. „Sie sollten sich den Geldbeutel von dem anderen Kerl nehmen“, empfahl er der Frau ungerührt. „Wahrscheinlich deckt das Ihre Kosten für mehr als eine Woche.“ Er erhob sich und ging schnurstracks zurück zur Hauptstraße.
„Warte“, rief die Frau ihm nach. „Wer bist du überhaupt?“