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Ich werde mich niemals an Städte gewöhnen, fluchte Ismail, als er das Stadttor Freistadts durchschritt. Es gibt in Städten einfach viel zu viele Leute - und die machen viel zu viel Krach. Hektisch strömten die Stadtbewohner in beide Richtungen an dem Waldläufer vorbei und rempelten ihn dabei immer wieder an. Eine besonders unfreundliche Albin trat ihm von hinten in die Hacken, quittierte seinen missbilligen Blick mit einem ausgestreckten Mittelfinger und zog fluchend an ihm vorbei. In dem Meer aus Alben, Zwergen und Menschen, war sie schon nach wenigen Schritten nicht mehr auszumachen.

Scheinbar hatte er unabsichtlich genau den Schichtwechsel in den Fabriken vor der Stadt abgepasst. Er hatte auf seinen Reisen davon gehört. Angeblich fanden diese mehrfach pro Tag statt und sorgten für eine wahre Flut an Arbeitern, die zu beiden Seiten durch das Stadttor strömten. Die Sache mit der Flut kann ich auf jeden Fall bestätigen.

Es war eine Besonderheit Freistadts, dass sich nur ein einziges Stadttor in der äußeren Stadtmauer befand. Ein architektonisches Nadelöhr, welches die bevölkerungsreichste Stadt in den Fünf Provinzen mit der Außenwelt verband. Ismail wunderte sich, wie alle diese Arbeiter in die Fabriken passen sollten. Als er Freistadt diesen Nachmittag von Norden her erreichte hatte, waren die tristen Fabrikgebäude bereits von Weitem zu sehen gewesen. Sie waren zweifellos riesig, doch fand er die Anzahl der Arbeitskräfte, die er gerade in diesem Moment sah, weitaus beeindruckender.

Ihn überkam das ungute Gefühl, dass er innerhalb der Menge die Kontrolle über seinen Weg verloren hatte, wie in einem wilden Strom wurde er erfasst und mitgezogen. Genervt von den ständigen Rempeleien suchte er mehrfach Augenkontakt um sein Missfallen der jeweiligen Person mitzuteilen und hegte dabei die Hoffnung, dass nicht alle Bewohner Freistadts so abgehärtet waren wie die unfreundliche Albin - doch die Fabrikarbeiter nahmen ihn nicht einmal wahr. Der Fremde war ihnen schlichtweg egal. Sie wollten nach vollbrachten Tageswerk nur so schnell wie möglich nach Hause oder rechtzeitig zur nächsten Schicht an ihrem Arbeitsplatz sein. Obwohl der Waldläufer selbst noch nie in einer Fabrik gewesen war, hatte er schon so manche Geschichte über diese Orte gehört: Unmengen großer Maschinen sollen dort sauber in Reih und Glied nebeneinander stehen. Und an jeder sollen gleich mehrere Arbeiter schuften und denselben Handgriff fast einen halben Tag lang einfach immer wiederholen. Ismail verspürte nicht wirklich den Drang, den Gerüchten auf den Grund zu gehen. Der Waldläufer wollte einfach nur seine Geschäfte in der Stadt erledigen und dann schnellstmöglich wieder aus diesem Moloch verschwinden.

Und doch hatten die Fabriken seiner Meinung nach auch ihre guten Seiten. Viele der Arbeiter hätten unter anderen Umständen und in anderen Provinzen des Königreichs ein schlimmeres Dasein gefristet. Er dachte dabei etwa an die Minen im Götterkamm, dem größten Gebirge im Land. Die harte Arbeit unter Tage mit all ihren Gefahren hatte schon viele Leben gekostet. So war es kein Wunder, dass der Westen - allen voran die Geteilte Stadt - vor allem von Zwergen besiedelt wurde. Mit ihrem kleinen, doch breiten Körperbau, der extremen Zähigkeit sowie ihrer legendären Dickköpfigkeit, schienen sie wie gemacht für diese Tätigkeit. Die kleinsten Bewohner der Fünf Provinzen, trotzten eindrucksvoll dem größten Gebirge.

Aber auch das Leben in der Südlichen Provinz war für die einfache Bevölkerung nicht wirklich besser - und Ismail wusste wovon er sprach. Er selbst war im Süden des Königreichs geboren und aufgewachsen, wenn auch nicht unter der einfachen Landbevölkerung. Zumindest nicht die ersten sechzehn Jahre seines Lebens.

Die Südliche Provinz, mit ihrer Hauptstadt Halmingen, war das landwirtschaftliche Zentrum der Fünf Provinzen. Geprägt durch Ackerbau und Viehwirtschaft, befand sie sich fest in den Händen der Großgrundbesitzer, welche über die Jahrhunderte eine strikte Ständegesellschaft eingeführt hatten. Wer nicht zum Landadel gehörte, hatte im Süden grundsätzlich schlechte Aussichten. Der größte Teil der einfachen Landbevölkerung lebte in Leibeigenschaft auf den Ländereien der Großgrundbesitzer und erarbeitete, unter teils grauenvollen Entbehrungen, deren Reichtum. Selbst Sklaverei war in den abgelegenen Ländereien der Südlichen Provinz nicht selten. Wie Vieh wurden die Bauern dort gehalten und gezüchtet.

Ismail selbst wurde als Jüngster von drei Söhnen in eine jener Adelsfamilien hineingeboren, wobei der Stern seiner Familie bereits seit geraumer Zeit am Sinken gewesen war …

„Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst“, brüllte ein bärtiger Riese und riss den Waldläufer aus seinen Erinnerungen. „Jetzt schau mich nicht so scheiße an! Ich habe dich was gefragt, du Pisser!“ Der Kerl versetzte Ismail einen Stoß gegen die rechte Schulter.

Die beiden Kerle, die sich drohend vor ihm aufbauten, waren Menschen und eine handbreit größer als er. Gedankenverloren war Ismail in sie hineingelaufen. Der Rechte hatte kupferfarbenes Haar und einen verfilzten Vollbart in identischem Farbton. Sein Freund hingegen hatte sich seinen Schädel kahl geschoren und trug einen, von Pockennarben durchsetzten, Dreitagebart. Was die beiden Gestalten gemeinsam hatten, war ihre Suche nach Ärger.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich der Waldläufer schnell. „Ich war in Gedanken und habe nicht aufgepasst, wo die Masse mich hinträgt - diese Stadt ist einfach nur beeindruckend.“ Ismail hoffte, die beiden Schläger auf diese Weise beruhigen zu können. Die Städter in den Fünf Provinzen hörten nur zu gerne, dass sie ein viel interessanteres Leben als die dummen Dorftrampel führten. Und nach Wochen unter freien Himmel und mit dem Fellbündel auf seinem Rücken, sah Ismail nun einmal genauso aus. In einer ruhigen Geste schlug er die Kapuze seines Umhangs zurück und offenbarte sein rabenschwarzes Haar.

„Das haben wir selbst gemerkt!“, keifte der Linke. „Aus was für einem Inzuchtkaff kommst du überhaupt?“ Lachend stieß er seinem Kameraden den Ellbogen in die Seite. Beide Schläger grinsten und präsentierten dabei freigiebig ihre verfärbten Zähne. Gespannt warteten sie darauf, wie Ismail auf ihre Provokationen reagieren würde.

Doch dieses Spiel hatte Ismail auf seinen Reisen bereits zur Genüge gespielt, um zu wissen, dass eine leichtfertige Antwort wahrscheinlich ein paar unangenehmen Schlägen in seinem Gesicht zur Folge haben würde. Leider halfen auch Beschwichtigung nicht, denn die beiden Typen würden ihn dann einfach immer weiter herumschubsen. Kerle wie sie gab es selbst in den kleinsten Ortschaften des Königreichs: Schläger und Taugenichtse, die sich in kleinen Gruppen zusammenrotteten und aus Langeweile nach Opfern suchten. Witterten solche Gestalten Schwäche oder Angst, ließen sie erst nach, wenn das Opfer vollkommen bloßgestellt und erniedrigt war, gerne auch mal schwer verletzt und ihrer Habseligkeiten beraubt. Was sie jedoch wirklich verunsicherte, war ein Gegenüber, das sie weder einschätzen, noch in ihrer einfältigen Welt einsortieren konnten.

„Ich komme aus einem kleinen Dorf im Norden“, log Ismail. „Und nun suche ich hier nach einer Möglichkeit, um das Fell zu verkaufen. Es ist von einem Fenriswolf, den ich vor ein paar Tagen an den Ausläufern des Schattenforstes erlegt habe. Kennt ihr beide zufällig einen Händler hier in Freistadt, der Interesse an einem solchen Fell haben könnte?“ Schadenfroh erkannte er, dass seine Frage die Selbstsicherheit der beiden gewaltig ins Schwanken gebracht hatte. Obwohl sie zu Lebzeiten bestimmt noch nie weiter als einen halben Tagesmarsch von Freistadt entfernt gewesen waren, wussten sie natürlich, was ein Fenriswolf war.

Dieses Wildtier war die mit Abstand größte Wolfsgattung im Königreich und ein ausgewachsener Rüde, konnte ohne Probleme die Schulterhöhe eines erwachsenen Menschen erreichen. Für sie waren Menschen, Zwergen und Alben eine genauso gängige Beute wie ein Schaf oder Wildkaninchen. Alles in allem ein grausamer Gegner. Nicht ohne Grund versetzen Fenriswolfsrudel immer wieder ganze Landstriche in Angst und Schrecken.

„Ein Fenriswolf, hä?“, wiederholte der rechte Hüne ungläubig. Er warf seinem Kameraden einen unsicheren Blick zu, doch dieser schüttelte nur ungläubig seinen geschorenen Schädel.

„Ja, ein Fenriswolf“, bestätigte Ismail in gespielter Gleichgültigkeit. „Ein prachtvoller Rüde - und gewehrt hat sich das Vieh, dass glaubt ihr nicht. Wenn ihr möchtet, kann ich euch gerne mal das Fell zeigen.“ Bei dem Angebot zeigte Ismail mit dem Daumen über seine Schulter auf das Fellbündel auf seinem Rücken. Wie aus Versehen ließ er dabei seinen dunkelgrünen Lodenumhang zur Seite rutschen und offenbarte seinen sonst verborgenen Dolch. Diesen trug er in einer speziellen Scheide direkt am Oberschenkel, damit die Waffe nicht unkontrolliert an seinem Gürtel herum schwang, wie dies oft bei Bauern und gewöhnlichen Jägern der Fall war. Zudem handelte es sich bei seinem Dolch um keine minderwertige Ware, die man auf den gängigen Märkten nachgeschmissen bekam und die eher an einen schartigen Zahnstocher als an eine präzise Nahkampfwaffe erinnerte. Sein Dolch war handgefertigt und von höchster Qualität. Eine markant geschwungene Klinge, die auf kunstvolle Weise an die Kralle einer riesenhaften Raubkatze erinnerte und welche mit Vorliebe bei den Kriegern der Freien Stämme Verwendung fand. Als Mensch konnte man eine solche Waffe nur erlangen, wenn diese einem durch einen Stamm verliehen wurde oder man den Vorbesitzer tötete. Beide Varianten sprachen dafür, den Träger nicht zu unterschätzen.

„Ja, natürlich …“, stammelte der Rothaarige und starrte auf die Waffe. Unruhig stieß er seinen Kameraden immer wieder in die Seite, um ihn ebenfalls darauf aufmerksam zu machen.

„Im Mittleren Ring der Stadt“, antwortete dieser schnell. „Du solltest es bei einem der Gildenhändler im Mittleren Ring probieren. Oder vielleicht bei Halims Naturwaren. Das Spitzohr soll an allem aus dem Schattenforst interessiert sein.“ Er lächelte ängstlich. „Wir im Äußeren Ring haben weder die Händler noch das Geld, um ein solches Fell zu kaufen.“

Der Waldläufer sagte kein Wort, sondern starrte den Rothaarigen einfach weiter an. „Dann werde ich mein Glück mal im Mittleren Ring probieren“, erlöste er die beiden Taugenichtse. „Vielleicht läuft man sich ja nochmal über den Weg.“

„Ja, vielleicht …“, stammelte der Glatzkopf und lächelte noch immer gezwungen.

Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt Ismail zwischen ihnen hindurch und tauchte wieder in das Meer aus Arbeitern. Die beiden Schläger hingegen schauten sich verdutzt an und warfen ihm einen letzten, unsicheren Blick hinterher. Kaum hatte sich Ismail einige Meter Richtung Stadtzentrum entfernt, hörte er den Rothaarigen erneut brüllen: „Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?“ Ismail schüttelte amüsiert den Kopf und wünschte dem armen Bauerntrampel alles Glück der Welt.

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