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A.2.4 Aosta (Region Aostatal und Stadt Aosta) A.2.4.1 Sprachgeschichtlicher Überblick

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Der Schwerpunkt liegt in diesem kurzen Überblick über die Geschichte der heutigen Autonomen Region Aostatal und der Stadt Aosta auf denjenigen Ereignissen, die einen massgeblichen Einfluss hatten auf die aktuelle Sprachsituation, wie wir sie in A.2.4.2 beschreiben werden. Für eine ausführlichere Darstellung der Geschichte des Aostatals verweisen wir auf den historischen Abriss von Bauer 1999 (5-219), der auch als Grundlage dieser Übersicht dient.

Bereits die Fragen nach der ersten Besiedelung des Aostatals sind für spätere (sprach)politische Diskussionen von Bedeutung. Als erste Bewohner des Aostatals gelten die Salasser. Es wird davon ausgegangen, dass sie im 1. Jahrtausend v.Chr. in die Region einwanderten (Bauer 1999: 6). Unklar ist jedoch ihre Zuordnung:

Der in der Fachwelt ausgetragene Disput, ob die Salasser nun den Ligurern […] oder den Kelten […] zuzuordnen seien, ist insofern delikater Natur, als mit den Argumentationsstrategien beider Seiten fallweise auch ideologisch-nationalistische Hintergedanken verbunden sind. Das Prinzip, von dem vielfach ausgegangen wird, ist unschwer zu durchschauen: Wer nachweisen kann, dass die von der Historiographie dokumentierte sogenannte Urbevölkerung der VDA [Valle d’Aosta=Aostatal] der ihm genehmen Ethnie X angehört, fühlt sich im Recht, kultur- bzw. sprachpolitische Argumentationen des Typs X voranzutreiben und zugleich die gegnerische Ansicht des Typs Y abzulehnen. Für Vegezzi-Ruscalla beispielsweise waren die ersten Valdostaner eindeutig südangebundene Ligurer, ein Grund mehr, die VDA als genuin italienisch einzustufen und alles Französische zu bekämpfen. (Bauer 1999: 7)

Die Romanisierung des Aostatals setzt mit der Gründung der römischen Kolonie Augusta Praetoria Salassorum und ihrer strategisch gelegenen und daher rasch wachsenden Hauptstadt Augusta Praetoria (das heutige Aosta) im Jahr 25 v.Chr. ein (Bauer 1999: 13-17). Nach dem Untergang des weströmischen Reichs im Jahr 476 steht die Region in kurzen Abständen unter verschiedenen Herrschaften.

Die Ausrichtung nach Westen beginnt 575, als das Aostatal Teil des franko-burgundischen Reichs wird (dem es anschliessend während fast drei Jahrhunderten angehört, vor einer wahrscheinlichen Zugehörigkeit zum Burgund) und als sich das Bistum Aosta, bis dahin von Mailand abhängig, in den Einfluss des Bistums Vienne stellt. Die neue Ausrichtung hat auch Einfluss auf die sprachliche Situation:

Damit beginnt definitiv die sprachliche Orientierung hin zur Galloromania (speziell zur heutigen Dauphiné, zu Savoyen und zum Wallis). Pont-Saint-Martin ist, durchaus im Sinn einer Sprachgrenze, wieder Grenzort zur Ebene hin, in der weiterhin die Langobarden herrschen, und wird es solange bleiben, bis die Herzöge von Savoyen in die Poebene vorstossen. (Bauer 1999: 18)

Die Einflüsse der geschichtlichen Ereignisse auf die sprachliche Situation sind, gemäss Bauer, für die geschriebene und für die gesprochene Sprache getrennt zu betrachten. Als gesprochene Sprache wird Frankoprovenzalisch bezeichnet (vgl. Bauer 1999: 20), während Latein weiterhin Schriftsprache bleibt.

Das 11. Jahrhundert wird schliesslich als Beginn der jahrhundertelangen Herrschaft Savoyens im Aostatal verstanden (Bauer 1999: 25), die mit der Charte des franchises von 1191, welche zunächst nur für die Stadt Aosta und erst später für weitere Gebiete gilt, offiziell bestätigt wird.

Innerhalb Savoyens erhält das Aostatal im 16. Jahrhundert eine gewisse Autonomie und mit dem ‹Conseil des Commis› eine regionale Regierung. Diese Epoche der Herrschaft von Herzog Emmanuel-Philibert ist auch für die Sprachsituation von besonderer Bedeutung:

Der Herzog betrieb Sprachpolitik im wahrsten Wortsinn, als er, ähnlich der […] 1539 verordneten ordonnance von Villers-Cotterêts, das Lateinische in den Gerichtsakten offiziell ersetzen liess. Im Piemont schrieb er 1560 Italienisch vor, im Aostatal 1561 Französisch. (Bauer 1999: 39)

Französisch wird also offizielle Schriftsprache der Region. Jablonka hält allerdings fest, dass die im Edikt von 1561 vorgeschriebene «langue françoise» durchaus auch das Frankoprovenzalische zugelassen haben könnte (vgl. Jablonka 1997: 47-48). Im mündlichen Gebrauch herrscht jedenfalls klar das Frankoprovenzalische vor (vgl. Bauer 1999: 41). Italienisch wird im benachbarten und teilweise ebenfalls von Savoyen beherrschten Piemont verwendet und scheint sich zu dieser Zeit auch ins Aostatal auszubreiten, allfällige offizielle Dokumente auf Italienisch werden im Aostatal jedoch von Emmanuel-Philibert untersagt (vgl. Bauer 1999: 44). Auch seine Nachfolger im 17. Jahrhundert halten an den Privilegien des Aostatals und am offiziellen und ausschliesslichen Gebrauch des Französischen (und vielleicht auch des Frankoprovenzalischen) fest, welches namentlich durch Bildungsinstitutionen wie das Collège Saint-Bénin oder die Dorfschulen vermittelt wird.

Auch als das Herzogtum Savoyen-Piemont 1713 vergrössert und zum Königreich von Sizilien wird, behält das Aostatal weitgehend seine Sonderstellung. Erst als 1730 Karl Emmanuel III Herzog wird, ändert sich die Situation im Aostatal, das nach und nach seine Privilegien verliert, bis zum Ende des sogenannten ‹Régime valdotain› durch die Abschaffung des ‹Conseil des Commis›.

Nach der französischen Revolution schliesslich gelangt mit der Annexion Savoyens auch das Aostatal unter französische Herrschaft und wird Teil des ‹Departement Doire› – gegen Widerstand aus der Bevölkerung, der sich aber in erster Linie gegen die revolutionären Jakobiner und nicht gegen Frankreich an sich richtet (vgl. Bauer 1999: 63).

Als durch den Wiener Kongress das Königreich Sardinien-Piemont wiederhergestellt wird, ist auch das Aostatal erneut Teil davon. Die valdostanischen Privilegien werden endgültig abgeschafft, die französische Sprache behält allerdings ihren Status:

Das monarchistisch-repräsentative Statuto Albertino vom März 1848, die Basis der späteren italienischen Verfassung von 1861, eliminierte die letzten Reste valdostanischer Privilegien, mit Ausnahme des Rechtes auf Verwendung der französischen Sprache […]:

La lingua italiana è la lingua ufficiale della Camera. È però facoltativo di servirsi della francese ai membri che appartengono ai paesi in cui questa è in uso, o in risposta ai medesimi.1

(Bauer 1999: 65-66)

Im Zuge der Ereignisse um die Einigung Italiens gelangt schliesslich ein grosser Teil Savoyens zusammen mit Nizza an Frankreich, lediglich das Aostatal geht an Italien und «[s]omit waren die Valdostaner mit einem Mal zu einer sprachlichen Minderheit in einem im Entstehen begriffenen, zunehmend auch auf sprachliche Einheit bedachten italienischen Staat geworden» (Bauer 1999: 69). Vor diesem Hintergrund verfasst der italienische Parlamentsabgeordnete Giovenale Vegezzi-Ruscalla 1861 seinen Text gegen den Gebrauch der französischen Sprache im Aostatal und in anderen nun zu Italien gehörenden Regionen. Er fordert zwar kein Verbot der französischen Sprache, jedoch die Italianisierung der Toponyme. Diese ist heute nicht mehr existent2, die Texte von Vegezzi-Ruscalla (und die ablehnenden Reaktionen, die sie hervorrufen) scheinen aber dennoch im Bewusstsein geblieben zu sein, wie Bauer aufzeigt (vgl. Bauer 1999: Kapitel 1.7. und 1.8.), da viele seiner Vorschläge zumindest zeitweise umgesetzt worden waren. Gegen die Bestrebungen, Italienisch durchzusetzen und Französisch zu verdrängen, regte sich stets Widerstand, oftmals heftig, aber nicht immer mit Erfolg. Gefordert wurde zuweilen auch die italienisch-französische Zweisprachigkeit, beispielsweise in Form von parallelem Unterricht (vgl. Bauer 1999: 89). Dennoch dominiert schliesslich Italienisch in den Schulen und im Gericht und der Anschluss an das italienische Eisenbahnnetz 1886 trägt zusätzlich zu einer weiteren Italianisierung bei (Bauer 1999: 92).

1909 schliesslich wird die ‹Ligue valdôtaine pour la protection de la langue française› gegründet, der sich verschiedene Politiker sowie Vertreter von Berufsgruppen und Zeitungen anschliessen und die sich beispielsweise mit Sprachkursen für die Förderung der französischen Sprache einsetzt und ein Bulletin herausgibt. Die Ligue bleibt auch während dem Ersten Weltkrieg bestehen und stellt weiterhin Forderungen nach Französischunterricht an den Schulen.

Von entscheidender Bedeutung für die (auch heutige) Rolle des Französischen im Aostatal ist die Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs. Was die sprachliche Situation im Jahr 1921 betrifft, hält Bauer Folgendes fest:

In sprachlicher Hinsicht lassen wir die Volkszählungsdaten aus 1921 für sich sprechen. Bei insgesamt 78.811 erfassten Einwohnern standen 91,4% Französischsprecher 9,6% (oder 7.582) Italophonen gegenüber. 1861 waren es, zum Vergleich, nur etwa die Hälfte, nämlich 4,7% Italienischsprecher gewesen. Letztere siedelten zu über 90% in der Hauptstadt Aosta sowie in den in der Basse Vallée gelegenen regionalen Industriezentren Verrès und Pont-Saint-Matin, so dass das Haupttal der Doire Baltée auf einen Anteil von 14,3% Italienischsprechern kam. Die Seitentäler hingegen wiesen mit rund 2% nur sehr geringe italophone Bevölkerungsanteile auf. (Bauer 1999: 105)

Es ist allerdings davon auszugehen, dass es sich bei den «Französischsprechern» in erster Linie um Sprechende des Frankoprovenzalischen handelt, die Französisch als Schriftsprache nutzen. Klar zu sein scheint jedoch die deutliche Minderheitssituation des Italienischen, auch wenn sich die Zahl der Sprechenden in 60 Jahren gut verdoppelt hat. Dass die faschistische Regierung vor diesem Hintergrund das Italienische als einzige Sprache des Aostatals einführen und Französisch aus Unterricht und Kirche verbannen will, stösst auf Widerstand. Genannt sei beispielsweise die Petition der Ligue Pour notre langue française. Appel de la Ligue Valdôtaine à toutes les Communes de la Vallée d’Aoste von 1922, an der sich rund 8000 Personen aus der gesamten Region beteiligen (vgl. Bauer 1999: 107).

Von besonderem Interesse – insbesondere mit Blick auf unsere Thematik der Linguistic Landscape (vgl. A.3) – ist das Dekret von 1923, mit welchem die Verwendung von Fremdsprachen in der öffentlichen geschriebenen Sprache verboten wird. Auch Französisch gilt als Fremdsprache und die entsprechenden Aufschriften sollen entfernt werden. Gegen diesen Beschluss protestiert die Ligue Valdotaine, deren Präsident Anselme Réan bei einem Treffen mit Benito Mussolini in Rom erfolgreich erreicht, dass Französisch im Aostatal nicht als Fremdsprache angesehen wird. Dennoch wird die Italianisierung des Aostatals durch die faschistische Regierung weiter vorangetrieben, namentlich in den Schulen, in der Kirche (1932 wird der erste italienischsprachige Bischof von Aosta eingesetzt), in den Gerichten und in der Presse. Italienisch wird 1925 als einzige Sprache der Justiz vorgeschrieben und französischsprachige Zeitungen werden verboten. Trotzdem zeigt Réan deutliche Sympathien für den Faschismus, was zu einer Abspaltung antifaschistischer Organisationen von der Ligue führt. Insbesondere die ‹Jeune Vallée d’Aoste› mit Emile Chanoux wird später an Bedeutung gewinnen (vgl. Bauer 1999: 107-115). Ein weiterer bestimmender Faktor dieser Zeit ist die Industrialisierung, die vor allem in der Stadt Aosta eine deutliche Veränderung der Demografie mit sich bringt. Bauer (1999: 117) geht für die Zeitspanne von November 1933 bis März 1934 von einem relativen Bevölkerungszuwachs in der Stadt Aosta von 2,3% aus (gegen lediglich 1‰ in der gesamten neu entstandenen Provinz Aosta, die aus der heutigen Autonomen Region sowie aus Ivrea und dem Canavese bestand) und ergänzt:

Berücksichtigt man in dieser Rechnung auch den durch die Emigration hervorgerufenen Verlust an angestammter Bevölkerung, so sprechen die Zahlen eine noch deutlichere Sprache. 680 Immigranten in Aosta Stadt stehen für rund 4,5% Bevölkerungsaustausch in nur fünf Monaten! (Bauer 1999: 117)

Im Zuge der Entstehung der neuen Provinz Aosta sollten die Strassennamen der Hauptstadt und die Toponyme italianisiert werden, was ab 1927 bis 1939 sukzessive durchgeführt wird. Auch die deutschen Toponyme in den Walsergemeinden im Lystal werden im Übrigen durch italienische ersetzt (vgl. Bauer 1999: 120, 126-130). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden 1945 die Strassennamen (und damit auch die Strassenschilder) erneut angepasst und gelegentlich mit französischen Entsprechungen ergänzt. Die französischen Ortsnamen werden durch ein Dekret von Umberto II von Savoyen (auf das wir später zurückkommen werden) ebenfalls schon 1945 wieder eingeführt (Bauer 1999: 160).

Die Ablehnung gegenüber Frankreich ist jedoch stark:

Die (nicht nur, aber eben auch) in Italien immer breiter um sich greifende Xenophobie3 […] ging Hand in Hand mit einer besonders ausgeprägten Gallophobie, welch letztere u.a. durch italienische Annexionsforderungen bezüglich Nizza, Savoyen und Korsika sowie durch französische Aspirationen auf die VDA verstärkt wurde. (Bauer 1999: 129)

Auch das antifaschistische ‹Comité Valdôtain de Libération›, das unter Emile Chanoux aus der ‹Jeune Vallée d’Aoste› entstanden ist, spricht sich gegen einen allfälligen Anschluss des Aostatals an Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg aus:

Was nun die Frage der VDA betraf, so hatte Chanoux bekanntlich eine Lösung vorgeschlagen, die den Verbleib des Tals bei (einem föderalistischen) Italien implizierte. (Bauer 1999: 137)

Emile Chanoux stirbt 1944 während seiner Inhaftierung durch die faschistische Polizei, seine Nachfolger verfolgen die Ziele aber nach Kriegsende weiter:

Der Anfang Mai 1945 von Jean-Joconde Stévenin4 präsentierte Vorschlag für ein Sonderstatut bildete (gemeinsam mit den Entwürfen von Chabod5 1944) die konkrete Diskussionsgrundlage für eine künftige Autonomie der VDA. (Bauer 1999: 143)

Gleichzeitig gibt es aber auch Tendenzen der Befürwortung eines Anschlusses an Frankreich (vgl. Bauer 1999: 144), die sich zwar nicht durchsetzen, aber noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wieder auftreten, wie Bauer in seinem Exkurs aufzeigt (vgl. Bauer 1999: Kapitel 1.10.1.2.).

Die bereits erwähnten Dekrete von Umberto II (Decreti Legislativi Luogotenenziali D.L.L. 545 und 546) sehen eine autonome Region Aostatal vor und regeln auch sprachliche Bestimmungen. Allerdings sind sie nicht unumstritten (vgl. Bauer 1999: 165). 1947 wird ein neuer Vorschlag für das Autonomiestatut verfasst, das schliesslich mit der italienischen Verfassung von 1948 in Kraft treten kann. Auf die Inhalte und Grundlagen des Statuts und seiner Auswirkung auf die Sprachpolitik gehen wir in A.2.4.2 ein. Die Umsetzung der Bestimmungen wird allerdings nicht umgehend vorgenommen und ist in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen, in denen die französische Sprache oftmals als Argument für die Rechtfertigung der Autonomie eingesetzt wird (vgl. Bauer 1999: Kapitel 1.11.1). Vor diesem Hintergrund werden die Eröffnungen der Tunnels durch den Grossen Sankt Bernhard (1964) und den Mont-Blanc (1965) auch deshalb als wichtige Ereignisse gefeiert, da sie die rasch zunehmende Italianisierung verlangsamen sollten (Bauer 1999: 175). Dennoch zeichnete 1967 eine Untersuchung bei 7 675 Schülerinnen und Schülern (gemäss Bauer (1999: 177) «wohl die Gesamtheit aller valdostanischen Volksschüler») bereits ein deutliches Bild, das die Frankophonie des Aostatals in Frage zu stellen vermag:

Auf die Frage, welche Sprache in der Familie bzw. zu Hause gesprochen würde, antworteten 3.453 Schüler oder 45.1% aller Befragten Italienisch, 3.317 Informanten (43,3%) gaben den patois als Familiensprache an. Das Piemontesische folge mit 297 Nennungen (3,9%), und das Deutsche (55 Antworten = 0,7%) konnte verblüffender- bzw. bezeichnenderweise mehr Punkte für sich verbuchen als das Französische, das mit 39 Schülerantworten oder mageren 0,5% das Schlusslicht darstellte. (Bauer 1999: 177)

Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie?

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