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|19|Lithika
ОглавлениеDen Beginn des Mailänder Papyrus bilden 19 oder 201 zum Teil sehr fragmentarische Epigramme über Steine, die mit 126 Versen die umfangreichste Sektion des erhaltenen Textes.2 Bis auf 15, das von Tzetzes in leicht abweichender Form überliefert wird und eines der beiden Epigramme ist, die Poseidipps Autorschaft für das gesamte Epigrammbuch nahelegen, war bis zur Entdeckung des Papyrus keines dieser Epigramme bekannt. Der Titel des Abschnitts ist mit dem Anfang der Rolle verloren gegangen; die Erstherausgeber glauben aber immerhin, die Buchstaben κα lesen zu können. In Analogie zur Bildung von sechs der folgenden Sektionsüberschriften kann man daraus auf den Titel λιθι]κά ‹ἐπιγράμματα› (‚‹Epigramme› über Steine‘) schließen (ed. pr. 13), da alle der sich anschließenden Epigramme (bis auf die stark zerstörten 1, 10 und 18 sowie 20, dessen Verse wahrscheinlich zu 19 gehören) einen Stein erkennen lassen und λίθοο alle Arten von Steinen beschreiben kann.3 In den vorliegenden Epigrammen reicht das Spektrum von kleinen gravierten Edelsteinen bis zu riesigen unbearbeiteten Felsbrocken.
Epigramme über Steine sind in der Anthologia Palatina nur sehr vereinzelt bezeugt (9.544, 748, 752); die Autorschaft und damit die zeitliche Relation dieser Gedichte zu Poseidipp sind unklar. Durch die beträchtliche Anzahl von Steinepigrammen und deren mutmaßliche explizite Bezeichnung als Lithika könnte Poseidipp den allerdings, soweit wir sehen können, folgenlosen Versuch unternommen haben, Steine als neuen Gegenstand der Epigrammatik zu etablieren. Im Hinblick auf die bezeugten Formen der Gattung lassen sich diejenigen Epigramme der Lithika, die künstlerisch bearbeitete Steine beschreiben (1–15), der erst im 4. Jh. v. Chr. entstehenden und bis in die Spätantike fortwirkenden Unterkategorie des ekphrastischen Epigramms zuordnen (Hunter 2004, 94) und zum einen mit den Epigrammen des 10. Buchs der AP, die konventionellere Kunstobjekte behandeln, zum anderen mit Poseidipps Sektion der Andriantopoiika vergleichen. Daneben finden sich in einigen Epigrammen Anklänge an die Gattungen des sympotischen (2–3) und des erotischen Epigramms (5–7) sowie an das Weihepigramm (3–7). Innerhalb des Mailänder Papyrus eint die Lithika mit mehreren Sektionen die Tatsache, dass sie aus einem bestimmten Wissensbereich schöpfen und so in die Nähe der Lehrdichtung rücken.4
Nicht nur als Thema der Epigrammatik, sondern auch als zentraler Gegenstand poetischer Werke überhaupt begegnen uns Steine zum ersten Mal in den neuen Epigrammen Poseidipps. Möglicherweise deuten ausführliche ekphrastische Beschreibungen, wie z.B. die eines Amethysts in Heliodors Aithiopika 5.13–14, auf eine reiche Tradition von Lithika hin; die früheste poetische Behandlung von Steinen ist aber für Dionysios Periegetes (2. Jh. n. Chr.) bezeugt, dem Lithika bzw. Lithiaka zugeschrieben werden (Hunter 2004, 94), und die bislang erste und einzige erhaltene Steindichtung sind die sogenannten Orphischen Lithika (Όρφέως Λιθικά)5 aus dem 4. Jh., die im Auftrag des Hermes den Menschen die magischen Kräfte der Steine erklären. Danach ist uns Steindichtung erst wieder aus dem Mittelalter überliefert; |20|hervorzuheben ist das 732 Verse umfassende Lehrgedicht des Marbod von Rennes (Haye 1997, 147)
Im Vergleich mit den wenigen in Versen verfassten Lithika ist weit mehr Prosaliteratur über Steine aus der Antike erhalten: zum einen Bücher mit dem Titel περι λίθων wie Theophrasts gleichnamiger Traktat (4. Jh. v. Chr.), zum anderen Abhandlungen über Steine innerhalb allgemeinerer Schriften wie das 37. Buch der Naturalis Historia des Plinius. Außer dem rein mineralogischen Buch des Theophrast konzentrieren sich alle erhaltenen Schriften auf die magischen und medizinischen Wirkungen von Steinen. Derartige Werke dürfte es in Griechenland nicht vor den Kriegen gegen die Perser gegeben haben, von denen die Griechen die offenbar aus Babylon stammende Lehre von der Sympatheia übernahmen, nach der die sieben Planetengötter das ganze Weltall, also auch die Steine, durchdringen. Die Theurgie, mit der man sich die magischen Wirkungen der Steine zur Heilung von Krankheiten, Förderung der Fruchtbarkeit, Vorhersage der Zukunft und zu diversen anderen Zwecken zunutze zu machen versuchte, kam erst durch Alexander nach Griechenland. Dem Magnetstein, dessen anziehende und abstoßende Kräfte man als Ausdruck seiner Beseeltheit deutete (vgl. 17), wurden z.B. die Fähigkeiten zugeschrieben, eheliche Treue zu prüfen, geschwisterliche Treue herzustellen und Liebe zu erregen. Im Zusammenhang der Sympathielehre spielte offenbar die Gravierung mit der Figur eines Gottes oder mit einem seiner Symbole, durch die ein Stein erst zum Zauberstein wurde, eine wichtige Rolle.6
Von den uns erhaltenen Schriften über Steine kann Poseidipp nur das Buch des Theophrast gekannt haben. Weitere potentielle Quellen können wir aus Plinius erschließen, der in Buch 37 seiner Naturalis Historia u.a. auf Sotakos, der im späten 4. bzw. frühen 3. Jh. v. Chr. eine Schrift über die magischen und medizinischen Wirkungen von Steinen verfasst hat (Gutzwiller 1995, 388) und von Poseidipp möglicherweise in 15 rezipiert wird, sowie auf einige nicht überlieferte hellenistische Autoren (Hopfner 1926, 748) verweist, deren zeitliches Verhältnis zu Poseidipp jedoch nicht sicher bestimmbar ist. Die Lithika des Poseidipp sind weder wie das Steinbuch des Theophrast aus mineralogischer Perspektive an den Eigenschaften der beschriebenen Steine noch an ihren magisch-medizinischen Effekten interessiert, sondern an der ästhetischen Wirkung, die der jeweilige Stein und ggf. seine Gravur auf einen Betrachter haben. Die Epigramme rezipieren aber offenbar in kreativer Weise die Prosaliteratur über Steine, deren Wissen über die Art, die geographische Herkunft, die spezifischen Eigenschaften, das Aussehen und die Eignung zur künstlerischen Bearbeitung sie zum Teil für ihr Verständnis voraussetzen, zum Teil korrigieren (vgl. Schur 2004; Sider 2005).7
Sprachlich ist der Einfluss der Fachliteratur auf die vorliegenden Lithika begrenzt: Nur die in nicht allen Epigrammen erhaltenen Namen von Steinarten8 und das zentrale Verb γλύφειν (‚schneiden‘) bzw. seine Ableitungen γλύμμα (‚Schnitt‘) und möglicherweise γλυπτός (‚geschnitten‘) dürften der technischen Sprache der Prosaliteratur entstammen.9 Unklar ist, ob sich das Verb auch dort auf ein Gravurmotiv bezieht, wo ein Motiv nicht ausdrücklich genannt wird (vgl. 3, 5, 7), und ein Motiv infolge dessen in allen Epigrammen angenommen werden muss, in denen eine Form von γλύφειν vorkommt, oder ob es auch allgemeiner die |21|künstlerische Bearbeitung meinen und sich auf das Schleifen, Polieren oder Formen eines Steins beziehen kann. Die Tatsache, dass γλύφειν „auch in Bezug auf Inschriften bzw. in Stein gemeißelte Reliefs verwendet werden“ kann (Höschele 2010, 168), deutet jedenfalls darauf hin, dass der Gebrauch des Verbs nicht auf die Beschreibung von Intaglios, d.h. Steinen mit vertieft gearbeiteter Darstellung, beschränkt ist, sondern auch von den erhaben geschnittenen Reliefs von Kameen gebraucht werden kann. Ob Poseidipp, der in den Epigrammen 1–15 überwiegend Intaglios behandelt, auch Kameen beschreibt, hängt von der Antwort auf die umstrittene Frage ab, ob es Kameen bereits im frühen Hellenismus gegeben hat (vgl. 8).
Die Epigramme der Lithika-Sektion sind deutlich ionisch geprägt: Außer in den stark zerstörten 1–4 und in 20 finden sich in jedem der Gedichte eine oder mehrere Formen des Dialekts. Darüber hinaus klingen Wortwahl und Formengebrauch einiger Epigramme, insbesondere von 19, an die Sprache des Epos und speziell an Homer an. Die Lexik der Lithika ist durch eine gewisse Tendenz zu außergewöhnlichem Vokabular gekennzeichnet (vgl. Di Nino 2010): Neben mehreren hapax legomena finden sich unbezeugte Formen, selten belegte Wörter und ungewöhnliche Junkturen.10
Die Anordnung der zur Eingangssektion gehörenden Epigramme scheint nicht willkürlich zu sein, sondern bestimmten Prinzipien zu folgen.11 Die Epigramme lassen sich in eine größere Gruppe über kleine, wertvolle, künstlerisch bearbeitete Schmucksteine (1–15) und eine kleinere über große, außergewöhnliche, unbearbeitete Steine unterteilen,12 die sich durch ein besonderes Merkmal auszeichnen (16–20).13 Mit Blick auf die Funktion der beschriebenen Steine kann man die erste Untergruppe in wiederum zwei kleinere Abschnitte unterteilen: 1–7 dürften Steine, die in Schmuckstücke eingefasst sind und Frauen geschenkt werden, beschreiben, 8–15 Steine, die nicht verschenkt werden und offenbar als Teil von Siegelringen (9, 11–15) und Wandschmuck (8) Männern gehören.14 Während in 8–15 (außer in dem fast gänzlich zerstörten 10) jeweils ein meist kriegs- und/oder machtbezogenes Gravurmotiv erwähnt wird,15 lässt von den ersten sieben Epigrammen – möglicherweise aufgrund von deren vergleichsweise schlechtem Erhaltungszustand – nur 3 ein Bild (Trinkschale) erkennen. Innerhalb der beiden Untergruppen von 1–15 bilden einzelne Epigramme Paare und Dreiergruppen, die den Blick auf das variierte Detail lenken.16
|22|Die ersten 15 Epigramme sind durch die Wiederholung, Variation und Negierung bestimmter Motive besonders eng verflochten. Der elaborierte Topos der mehrstufigen Steintransformation von der Herkunft des Steins aus Bergen, Flüssen und dem Meer und aus exotischen Regionen17 über den Schnitt des Steins durch einen Künstler18 und die Einfassung des Steins in ein goldenes Schmuckstück19 bis zur Schenkung an eine Frau20 durch den Schenker bzw. Auftraggeber21 ist zum Teil vollständig in 3–7 erkennbar;22 einzelne Etappen dieses Prozesses werden aber auch in den folgenden Epigrammen 8–15 erwähnt, die sich auf die künstlerische Verwandlung des Steins konzentrieren. Drei Stellen rekurrieren durch den ‚Topos der Ablehnung‘23 ex negativo auf Elemente der Lithika, die in den jeweils vorangehenden Gedichten etabliert wurden: 8 setzt mit der Feststellung an, es handele sich bei dem beschriebenen Stein nicht (sc. wie in 1–7) um Frauenschmuck, 11 wendet sich zu Beginn gegen die durch die Sektionsüberschrift und die vorangehenden zehn Epigramme aufgebaute Erwartung, es behandele wiederum einen Stein (und nicht eine Muschelschale); schließlich bestreitet der Anfang von 15 die Herkunft des behandelten Steins aus einem Fluss, wie sie offenbar in 1, 7 und im nachfolgenden 16 angegeben wird. Mit dem Topos der Steingravur spielt offenbar 6, das einen von der Sonne auf den Stein reflektierten Regenbogen beschreibt, bevor sein Pendant 7 (vgl. Anm. 16) wieder eine konventionelle Gravur beinhaltet. Die Beschreibung der Steine beschränkt sich in 1–15 nicht auf die regelmäßig genannte Gravur, sondern nimmt auf diverse sichtbare Phänomene Bezug. Topisch ist die Erwähnung des Glanzes,24 der durch den des Goldes komplementiert wird.25 Daneben werden immer wieder die Farben der Steine hervorgehoben.26 Zur Illustrierung |23|des Glanzes, der Farben und anderer Phänomene wie eines temporären Lichteffekts ziehen die Epigramme Himmelsphänomene zum Vergleich heran.27
16–20 nehmen verschiedene Topoi der ersten Gruppe wieder auf. Ähnlich wie 8 die Epigramme 8–15 durch die Bezugnahme auf die konstitutiven Elemente von 1–7 einleitet, rezipiert 16 die Topoi von 1–15 in kreativer Weise: Da der (aus einem arabischen Fluss stammende) exotische und schön glänzende Kristall nicht das Wertkriterium der Seltenheit erfüllt, das 16 erstmals explizit nennt und retrospektiv den offenkundig wertvollen Steinen von 1–15 zuschreibt, erscheinen hier das Gold und ein Himmelsphänomen in anderer Funktion als in 1–15: als hypothetisches Vergleichsobjekt im Hinblick auf den objektiven Wert das Gold, im Hinblick auf die allgemeine Wertschätzung die Sonne. Analog zum Vergleich des Glanzes zweier Steine in 8 reflektiert 16 implizit über den unterschiedlichen materiellen Wert der in beiden Untergruppen behandelten Steine: Wie der glänzende Stein in 16 erfüllen die folgenden Steine nur eines der erforderlichen Kriterien: die Seltenheit. Umso mehr sind sie geeignet, Erstaunen über ihre außerordentlichen Qualitäten zu erregen: Die ab 8 einsetzende Hervorhebung der wundersamen Aspekte der Steine bzw. der Steinverarbeitung setzt sich in den letzten Epigrammen der Sektion fort.28 In scheinbarem Gegensatz zu diesem subjektiven Ausdruck des Erstaunens stehen in 18 und 19 die Zahlen- und Maßangaben zur Steinbeschreibung, die Objektivität wie in 8 suggerieren, sich aber als Teil eines hyperbolischen Spiels erweisen.29
Epigramm 19, das von einem riesigen Felsbrocken, den Poseidon geworfen hat, erzählt und mit der Bitte an Poseidon schließt, von einer weiteren Untat abzusehen, bildet, zusammen mit den sehr wahrscheinlich dazugehörenden letzten sechs Versen der Sektion, den Höhepunkt der die einzelnen Abschnitte überspannenden, graduellen Entwicklung der Lithika: Pindars Vorbild folgend beginnt die Sektion mit wertvollen Gegenständen und endet mit dem wertlosesten.30 Die zunehmende Größe der Steine findet formale Entsprechung in der Länge der Gedichte31 und ihrer raffinierten Komplexität: Die kurzen ersten Epigramme (1–7) beschränken sich auf die Beschreibung der Produktion, Merkmale und Weitergabe der Kunststeine. In den darauf folgenden Epigrammen (8–15) wird der Steinbeschreibung durch eine Ekphrasis, die in der Beschreibung eines erzählenden Bildes (14) kulminiert, eine weitere Ebene hinzugefügt. 13–15 betrachten die Zusammenhänge der Produktion und Rezeption eines Steinkunstwerks, bevor sich die abschließenden Epigramme diversen Formen der Rezeption eines Steins widmen, die von der philosophischen Reflexion von Wertmaßstäben (16) bis zur narrativen Rezeption von Literatur anhand eines Steins (19) reichen. Die zunehmende Diversität der Steinepigramme (Hunter 2004, 97) gipfelt in 19 und 20: die Thematisierung des Felsbrockens (19) sprengt |24|in ironischer Weise den durch 1–18 vorgegebenen Gattungsrahmen,32 und das nahtlos an 19 anknüpfende Gebet an Poseidon,33 der das Land des hier zum ersten Mal erwähnten Ptolemaios im Gegensatz zu anderen Gebieten verschonen soll (20), rundet die erste Sektion der Sammlung ab.34 Geschlossenheit scheint die Sektion auch dadurch zu erhalten, dass sich mehrere Gedichte an einer gedachten Achse, die durch die Mitte der Sektion verläuft, spiegeln: 1 und 19/20 korrespondieren vielleicht miteinander durch die Erwähnung von Zeus und Alexander35 bzw. Poseidon und Ptolemaios, 2, 3 und 18 durch die gemeinsame Symposiumsthematik und die das stichometrische Zentrum rahmenden 11 und 12 (Höschele 2010, 160) durch die Behandlung von Muschelschalen.
Die Lithika sind durch die sprachliche und motivische Parallelität, Opposition und Variation aufeinanderfolgender Gedichte und durch diverse Vor- und Rückverweise auf äußerst raffinierte Weise miteinander verwoben und spielen fortwährend mit der Lesererwartung. Ob die offenbar intendierte Anordnung, die einerseits in Anlehnung an die Strukturprinzipien der petrographischen Fachliteratur pragmatisch, andererseits in hohem Maße ästhetisch motiviert ist,36 von Poseidipp oder einem späteren Kompilator stammt, ist nicht zu entscheiden. Die Komplexität der Verflechtung legt aber die Annahme nahe, dass Poseidipp nicht nur der Autor aller Steingedichte ist, sondern diese auch als Gruppe konzipiert hat.37
Eng hiermit verbunden ist die Frage nach dem Anlass der Epigramme, die wohl kaum als reale Inschriften entstanden sind (contra Lelli 2005, 84f.). Die wiederholte Erwähnung von Schenker, Künstler und beschenkter Person liefert sowohl Argumente für die Deutung der Lithika als Gelegenheitsdichtung im mehrfach evozierten Symposium als auch dafür, dass – ähnlich wie Anakreon für Polykrates (9) – Poseidipp für Ptolemaios dichtet, für den er in 19 Schonung erbittet.38
Die vielen expliziten und impliziten geographischen Angaben der Lithika dürften der Hervorhebung ptolemäischer Macht dienen.39 Die auffällige häufige Evozierung Persiens40 könnte dazu dienen, Ptolemaios II. als Nachfolger Alexanders, der 333 bei der Verfolgung Dareios’ III. von dem späteren Ptolemaios I unterstützt wurde und 332 Ägypten von den |25|Persern eroberte, zu stilisieren.41 Angesichts persischer Inschriften, die in ähnlicher Weise wie die Lithika die Herkunft der verwendeten Baumaterialien und Handwerker nennen, aber im Gegensatz zu den vorliegenden Epigrammen sogar explizit darauf hinweisen, dass deren Erwähnung der Hervorhebung persischer Herrschaft an den genannten Orten dient, könnte die achämenidische Propaganda Poseidipp als Vorbild für seine implizite Rühmung der Ptolemäer mittels der Geopoetik gedient haben. Ebenso könnte Poseidipp mit den kostbaren Steinen auf den in Griechenland berühmt-berüchtigten persischen Luxus anspielen, der eine wichtige Rolle in der Machtsymbolik der Großkönige spielte (Petrovic 2014).
Auch wenn Poseidipp in den Lithika keine expliziten Aussagen über Dichtung trifft, scheinen zumindest 1–15 als Epigramme über in Stein Geschnittenes, also als „Inschriften über Inschriften“, eine selbstreflexive poetologische Interpretation zu provozieren.42 Ausgehend von der implizierten Vergleichbarkeit von dargestellter und darstellender Kunst lassen sich zum einen die Aussagen über die thematisierten Bedingungen und Prozesse der Produktion und Rezeption der Steinschneidekunst und zum anderen die über die Steine geäußerten Qualitäts- und Werturteile auf Poseidipps (Stein-)Dichtung übertragen: Ebenso wie der Steinschneider muss der Epigrammatiker seine Darstellung auf engstem Raum und daher mit extremer Kunstfertigkeit realisieren. 43 Einige Epigramme könnten auf die Notwendigkeit geeigneter Rezeptionsbedingungen hindeuten und die Materialität der Epigrammsammlung hervorheben, indem sie Steine, deren Farbe Teil des auf ihnen dargestellten Motivs ist, das Zusammenwirken des Steinglanzes mit dem Schimmer der Haut einer Frau und die goldene Fassung gravierter Steine thematisieren (Höschele 2010, 169). Durch die detaillierte Beschreibung der sichtbaren Steinqualitäten und des schöpferischen Sehens in 15 dürften die Epigramme ihre Rezipienten zum genauen und produktiven Lesen anhalten. Die in den Epigrammen thematisierte Schenkung der Steine könnte auf die Übergabe der Epigramme an ihren Leser anspielen oder darauf hinweisen, dass die Epigramme beim Symposium zusammen mit dem Stein, den sie veredeln,44 verschenkt werden. Die Ästhetik der beschriebenen Steine könnte neben der variatio, dem Spielerischen, dem Glanz und der Extravaganz besonders das ‚Kleine und Feine‘ 45 als Qualität von Dichtung fordern. Die Transformation der rohen Natursteine zu geschliffenen, feinen Kunstobjekten könnte sich auf die kreative hellenistische Polierung der Themen und Topoi der archaischen und klassischen Dichtung, wie sie in 19 vorgeführt wird, beziehen.46 Die Verwandlung der Steine könnte sich aber auch auf die historische Entwicklung |26|der Gattung Epigramm von „inschriftlicher Gebrauchspoesie“ zu einer „anspruchsvolle[n] Kunstform“ beziehen. Indem die Lithika diese Entwicklung durch ihre zunehmende literarische Komplexität selbst performativ umsetzen, präsentieren sie sich als programmatischer Beginn eines Buchs, dessen Epigramme (bis auf die Oionoskopika) sämtlich Steininschriften sind oder sich als solche inszenieren. Der Titel „Gedichte über Steine“ kann als Überschrift der gesamten Sammlung von „Gedichten auf Steinen“ verstanden werden47 und die Beschreibung der glänzenden Steine in 1–16 als „leuchtender Beginn“48 nicht nur der Lithika, sondern des gesamten Epigrammbuchs.