Читать книгу Das Handbuch gegen den Schmerz - Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle - Страница 18

Die subjektive Wahrnehmung von Schmerz

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Wie bereits dargelegt, beinhaltet Schmerz noch ein weiteres wichtiges Merkmal: Er ist subjektiv. Auch das trägt dazu bei, dass die empirische, auf den Gesetzen der Naturwissenschaften beruhende Medizin Schwierigkeiten mit dem Phänomen Schmerz hat. Warum braucht von zwei Krebspatienten trotz der gleichen Erkrankung und dem gleichen Krankheitsverlauf der eine sehr viel Morphium und der andere deutlich weniger in der letzten Phase des Lebens? Warum kann der Zahnarzt bei einem Patienten den Zahn ganz ohne Betäubung plombieren, während der nächste eine Spritze zur örtlichen Betäubung benötigt und bei einigen wenigen Patienten der gleiche Eingriff sogar nur unter leichter Vollnarkose durchzuführen ist? Lässt sich das wirklich nur damit erklären, dass der erste Patient – in dem Fall natürlich nicht wörtlich – die Zähne zusammenbeißt?

Jeder Mensch ist individuell und jeder Körper anders. Schmerz ist eine Sinneswahrnehmung. Liegt es da nicht auf der Hand, dass auch das Schmerzempfinden von Mensch zu Mensch variiert, so wie man das auch von anderen Sinneswahrnehmungen kennt? Es gibt Menschen, die sich von wenigen Geräuschen in ihrer Umgebung bereits empfindlich gestört fühlen, während andere völlig unbehelligt über einer Großraumdiskothek oder an der Autobahn leben. Ein Mensch reagiert bei beißenden Gerüchen sofort mit Atemnot oder Brechreiz und andere nehmen den Geruch nicht einmal wahr. Liegt es da nicht auch nahe, dass einige Menschen schmerzempfindlicher sind als andere?

„Die moderne Schmerzmedizin wertet nicht, sie vergleicht nicht und sie steckt Patienten nicht in Schubladen.“

Na klar – und trotzdem fällt es immer noch vielen Menschen, auch behandelnden Ärzten, schwer, das anzuerkennen und einzuordnen. Wenn Schmerz subjektiv ist, empfindet der eine bei gleicher „Schmerzquelle“ den Schmerz als lästig, der andere aber als unerträglich. Für den Letzteren ist dieser unerträgliche Schmerz Realität. Er leidet stark, der Schmerz beherrscht sein Leben. Der Hinweis „der andere macht doch auch nicht so ein Theater“ ist weder hilfreich noch haltbar: Er empfindet den Schmerz offensichtlich nicht in dieser Intensität. Für eine Wissenschaft, die alles ausmessen, kartographieren, kategorisieren und objektivieren möchte, stellt das eine Herausforderung dar – es erscheint nicht logisch, dass ein Patient bei Verbrennungen ersten Grades mehr leidet als ein anderer mit Verbrennungen zweiten Grades. Doch die tatsächliche Realität beim Schmerz ist nach neueren Erkenntnissen immer eine subjektive Wahrnehmung und ein ganz persönliches Erleben. Es bedeutet, dass der Patient mit den leichteren Verbrennungen „wahnsinnig große“ Schmerzen empfinden kann, die ihn schier an den Rand der Verzweiflung treiben.

Die moderne Schmerzmedizin, die wir Ihnen hier näherbringen möchten, wertet daher nicht, sie vergleicht nicht und sie steckt Patienten nicht in Schubladen. Ganz im Gegenteil, sie akzeptiert, dass Schmerzempfinden individuell ist, sieht die Not jedes einzelnen Patienten und hat zum Ziel, das Leiden, das er fühlt, zu lindern. Im angloamerikanischen Sprachraum heißt es „pain is whatever the patient says it is“, also „Schmerz ist, was der Patient als solchen beschreibt“. Niemand außer der Betroffene selbst darf sich über den Schmerz und seine Intensität ein Urteil erlauben oder ihn bewerten.

Das Handbuch gegen den Schmerz

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