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Kapitel 5 Oxford, England

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Aaron Hughes steckte knietief in Schwierigkeiten. Bereits eine Stunde war er zu spät dran und sein Handy-Akku war leer, also radelte er so schnell wie möglich nach Hause. Seine Mutter würde ihn umbringen. Vor einer Stunde hatte seine Schule ihr mitgeteilt, dass er die Extrakurse schwänzte, zu denen sie ihn während der Ferien verdonnert hatte, weil sie in dem Zeitraum arbeiten gehen musste. Die schwache Wintersonne begann bereits zu sinken.

Er konnte einfach nicht anders … das neue Computerspiel war am Montag herausgekommen und Jack Mills hatte es irgendwie geschafft, seine Eltern dazu zu überreden, ihm das Spiel sofort zu kaufen – als Vorab-Geburtstaggeschenk. Innerhalb von vier Stunden waren die beiden Jungen bei Level 6 angekommen, bevor Aaron erst bemerkte, wie spät es inzwischen geworden war und hastig das Haus seines Freundes verlassen hatte.

Er radelte auf die Saint Cross Road, zog an den College-Gebäuden vorbei und überlegte, ob er die Abkürzung durch die Felder und über den Fluss Cherwell nehmen sollte. Da er ohnehin schon in Schwierigkeiten steckte, war es jetzt auch egal, ob seine Kleidung schmutzig und schlammbespritzt war. Allerdings wirkte das Ufer des Flusses mit seinen bewaldeten, unkrautübersäten Nebenflüssen selbst zur besten Zeit ein wenig gruselig. Aaron war der letzte, der das leugnen würde.

Aber die Strecke war immer noch eine Abkürzung nach Old Marston und im Moment brauchte er jeden Vorteil, den er sich verschaffen konnte. Er bog nach rechts auf die Schotterpiste hinter den College-Spielfeldern ab und schaltete einen Gang herunter.

Aaron verlangsamte sein Fahrrad und warf einen Blick über seine Schulter. Aus Erfahrung wusste er, dass er innerhalb von 15 Minuten quer durch die Spielfelder hindurch und wieder zurück in der Vorstadt sein würde – aber nur, wenn er es schaffte, seine Fantasie keine Überstunden machen zu lassen.

Aaron stöhnte einen kurzen Seufzer aus. Er musste es tun. Er trat wieder in die Pedale und fuhr den Pfad entlang. Leicht keuchend, wobei er nicht wusste, ob aus Angst oder vor Anstrengung, radelte er auf die erste schmale Brücke über den Fluss und bemerkte, wie der städtische Verkehrslärm hinter ihm in die Ferne versickerte.

Auf halbem Weg über die Brücke stoppte er und blickte auf den kleinen Wasserlauf hinunter, der sich durch die Felder zum Hauptfluss ergoss. Der Bach schlängelte sich nach links, bevor er hinter einer Kurve verschwand, während sich der Weg vor ihm zu wenig mehr als einem Reitpfad verengte. Aaron warf einen letzten Blick auf den Bach und fuhr dann so schnell weiter, wie er es auf der steinigen Oberfläche des Weges riskieren konnte, ohne ins Schleudern zu geraten.

Als er sich der nächsten Brücke näherte, verengte sich der Pfad weiter und er konnte den frühabendlichen Duft von feuchtem Unterholz, Kiefernsaft und Pferdekot riechen.Schneeglöckchen lugten vorsichtig aus den Grasrändern auf beiden Seiten des Weges hervor.

Als urplötzlich ein kreischender und mit den Flügeln schlagender Fasan vor ihm auftauchte, zuckte Aaron zusammen. Er lachte kurz nervös auf, erschreckte sich aber bald erneut, als irgendetwas anderes in der Nähe aufschrie.

Der schmale Pfad verlief zwischen zwei Nebenflüssen des Cherwell, bevor er über sie hinweg und durch die Felder bis nach Old Marston führte. Aaron verlangsamte das Tempo, als er sich an die Horrorgeschichten von Menschen erinnerte, die ins Wasser gefallen waren und es nicht geschafft hatten, bei den zu dieser Jahreszeit vorherrschenden eisigen Temperaturen zu überleben. Er steuerte das Fahrrad in die Mitte des Weges, weg von den Flussufern, fest entschlossen, nicht abzurutschen und hineinzufallen.

Während er sich der Kurve näherte, hinter der es nach Hause gehen würde, sah er etwas am Flussufer zwischen dem flachen Grasrand und dem Schotterpfad liegen. Aarons Herz begann zu rasen, während er scharf abbremste. Das Etwas sah aus wie ein altes Kleiderbündel, das jemand am Wegesrand fallen gelassen hatte.

Er sah sich um und wünschte sich plötzlich, er hätte diesen Weg nicht genommen. Da er aber nicht mehr umkehren konnte – inzwischen war er seinem Ziel schon viel zu nah gekommen – stieg er stattdessen vom Fahrrad ab und schob es in Richtung des Kleiderhaufens. Während er näherkam, konnte er die Umrisse eines Menschen erkennen. »Hallo?«

Er hielt an. Als kleiner Junge hatte er genug Geschichten darüber gehört, wie gefährlich Fremde sein konnten, und auch wenn es seine Eltern ihm nicht glaubten … er hatte ihre Warnung verstanden: Nicht mit Fremden mitgehen. Aber das hier war etwas anderes. Es fühlte sich nicht richtig an.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte er vorsichtig.

Vielleicht war das ja ein Betrunkener. Es half nichts, dachte er, aber er musste einfach näher heran. Aaron atmete aus und schob das Fahrrad ein Stückchen weiter, wobei er darauf achtete, dass es eine Art Schutzschild zwischen ihm und der Gestalt bildete. Schließlich konnte er erkennen, dass es ein Mann in einem Anzug war, sein Gesicht jedoch lag von Aaron abgewandt. Er machte einen Schritt um den Mann herum und fing zu schreien an. Das Fahrrad fiel zu Boden, als sich der Junge umdrehte, zur anderen Seite des Schotterweges rannte und in das hohe Gras kotzte.

Es schien eine gefühlte Ewigkeit zu vergehen, bevor er den Mut aufbrachte, zurückzurennen, sich sein Fahrrad zu greifen und so schnell er konnte die restliche Strecke bis nach Hause zu fahren. Wo seine Mutter zuerst versuchte, ihren hysterischen Sohn zu beruhigen und anschließend die Polizei verständigte.

Doch es würde noch wesentlich länger dauern, bevor die Erinnerung an das Gesicht des Toten anfangen würde, aus seinen Albträumen zu verschwinden.

Der Weckeralarm kreischte zweimal laut auf, bevor eine Hand unter der Decke hervorgeschossen kam und auf die Ausschalttaste schlug.

Dan setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Verdammt, es war eiskalt. Er hievte sich hoch, zog einen dicken Bademantel an und tapste zur Schlafzimmertür. Während er runter ins Erdgeschoss ging, fuhr er mit einer Hand durchs Haar und starrte mit trüben Augen auf die Zeitschaltuhr der Zentralheizung. Er schlug hart mit der Handfläche darauf und hörte befriedigt, wie die Heizungsanlage mit einem sanften Brüllen ansprang.

Gähnend setzte er den Wasserkessel auf und begann, Kaffee zu machen. Dann drehte er sich um und nahm das Handy von der Küchenbank. Keine Nachrichten. Er runzelte die Stirn … er hatte vor drei Tagen gleich nach seiner Rückkehr aus dem Pub versucht, Peter zurückzurufen, doch leider nur seine Mailbox erreicht. Dan überlegte gerade, wen er an der Universität kontaktieren könnte, um Peter aufzuspüren, als Schritte an der Vorderseite des Hauses seine Aufmerksamkeit erregten.

Der Briefschlitz quietschte in seinen Scharnieren und Dan blickte auf. Langsam trottete er durch den Flur, hob das Exemplar der Oxford Times von der Fußmatte auf, dann schlenderte er zurück in die relative Wärme der Küche. Während er darauf wartete, dass das Wasser endlich kochte, setzte er sich an den Küchentresen und blätterte durch die Zeitung, bis sein Blick an einem Bericht auf Seite fünf hängen blieb.

Er spürte, wie seine Kinnlade vor Schock runterklappte. Die Schlagzeile lautete:

Prominenter Dozent in grausamen Kampf getötet.

»Die Polizei bestätigte, dass es sich bei dem Körper, der vor vierundzwanzig Stunden in der Nähe des Flusses Cherwell in Old Marston gefunden wurde, um Doktor Peter Edgewater, Dozent für Geologie am Department of Earth Sciences, Universität Oxford, handelt. Sie beschreibt den Angriff als erschreckend brutal. Doktor Edgewaters Arbeitskollegen alarmierten die Polizei, als er es versäumte, gestern Morgen beim ersten Fakultäts-Treffen des neuen akademischen Semesters zu erscheinen.

Doktor Edgewater, bekannt für seinen Einsatz für mehr Forschung zu alternativen Energiequellen, war anscheinend zu Fuß hinter dem College-Gelände unterwegs, als der Angriff erfolgte. Der namhafte Dozent hatte aktuell eine erfolgreiche Vortragstour in Europa beendet. Bei den Vorträgen setzte er sich für seine Theorie ein, die besagt, dass ein Pulverextrakt aus sogenanntem Weißem Gold eine Alternative sein könnte, um Kohle bei der Stromerzeugung zu ersetzen. Doktor Edgewater nutzte seine Vorträge auch regelmäßig dazu, die Gas- und Kohle-Unternehmen dafür zu kritisieren, dass sie grundlegende Forschungen zu alternativen Energiequellen angeblich verzögerten. Gegenwärtig ist die Mordwaffe noch nicht gefunden worden und die Polizei bittet eventuelle Zeugen, sich umgehend zu melden.«

Was für eine Art, das neue Jahr zu beginnen, dachte Dan. Er las den Bericht ein zweites Mal. Sein Herz schlug heftig, als er darin nach Antworten suchte, die er nicht finden würde. Er schob den Artikel zur Seite und griff nach seinem Handy. Nachdem er seine Mailbox aufgerufen hatte, hörte er sich Peters Botschaft noch einmal an.

Es war seltsam, Peters Stimme nach so vielen Jahren wieder zu hören. Sie waren damals auf der Universität im selben Team gerudert, hatten sich dann aber aus den Augen verloren, Dan sich entschied, zur Armee zu gehen. Kratzend fuhr sich Dan über die Stoppel an seinem Kinn und stierte vor sich hin. Er hatte Peter als großgewachsenen Mann in Erinnerung, der genau wusste, wie man zu kämpfen hatte, wenn es erforderlich war. Es erschien ihm einfach nicht richtig, dass er so leicht angegriffen und überwältigt werden konnte.

Dan konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dass Peter jemals zuvor so verängstigt geklungen hatte. Und als er die Nachricht ein weiteres Mal abhörte, fragte er sich, was dieser durch seine jüngste Forschung wohl aufgedeckt haben könnte, um solch eine Reaktion hervorzurufen.

Er stand auf und bereitete den Kaffee zu, dann nippte er schluckweise daran, während er in der Küche auf und ab ging. Er konnte die letzte Bitte seines Freundes nicht ignorieren. Er musste einfach sicherstellen, dass es Peters Ex-Frau, Sarah, gut ging … allerdings musste er sie dazu erst einmal finden. Von einem gemeinsamen Bekannten hatte er gehört, dass sich Peter und Sarah vor einer Weile getrennt hatten. Er stellte seinen Kaffeebecher ab und holte sich ein Notizbuch und einen Stift. Daraufhin griff er erneut nach seinem Handy. Er erinnerte sich vage daran, dass Peter ihm erzählt hatte, seine Ex-Frau würde jetzt als Reporterin für eine der nationalen Zeitungen arbeiten. Dan gähnte, als er durch die im Online-Telefonverzeichnis aufgeführten Nummern scrollte. Vielleicht würde ja ihr Redakteur ihm verraten, wo er sie finden konnte.

Nachdem er das Zeitungsbüro erreicht hatte, wurde er an den Redakteur Gus Saunders vermittelt. Nach einem kurzen Verhör, auf das die örtliche Polizeitruppe stolz gewesen wäre, gab er Dan widerwillig Sarahs aktuelle Adresse und Telefonnummer heraus.

Dan wählte die genannte Nummer und blätterte die Zeitung durch, während er auf eine Antwort wartete. Es gab jedoch keine. Letztlich beendete er den Anruf und sah sich in der Küche um. Dann seufzte er. Vielleicht sollte er der Ex-Mrs. Edgewater einen Besuch abstatten. Zumindest würde es ihm etwas anderes zu tun geben, als die Wände anzustarren, während er darauf wartete, dass ihn der nächste Bergbau-Job fand.

Eine halbe Stunde später war Dan auf der Hauptstraße Richtung Sutton Courtenay unterwegs. Nachdem er an der Kreuzung abgebogen war, fuhr er die Ringstraße entlang, bis er einen Kreisverkehr erreichte, an dem er nach links abbog. Nach Aussage ihres Redakteurs stand Sarahs Haus in einer kleinen Straße etwa eine Meile in den Ort hinein.

Er entdeckte die Nummer siebenunddreißig ziemlich schnell. Ein hübsches Drei-Schlafzimmer-Cottage, das etwas von der Straße zurückgesetzt stand. Es lag am Ende einer Häuserreihe und hatte einen hübschen, kleinen Garten, der von einem niedrigen weißen Zaun geschützt wurde. Ein öffentlicher Fußweg führte rechts am Grundstück vorbei und wieder zurück zur Hauptstraße.

Dan steuerte sein Auto in eine Parkbucht, schaltete den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, aber Peter hatte ihn darum gebeten und unter den gegebenen Umständen war es das Mindeste, was er tun konnte.

»Also los«, murmelte Dan zu sich selbst, als er den Weg entlangging und die Türglocke läutete.

Während er darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde, versuchte Dan verlegen, seine wilden Haare glatt zu streichen und seine Jacke zurechtzurücken. Er schaute auf seine Stiefel hinunter und bemerkte, wie abgewetzt sie waren. Dann versuchte er sich daran zu erinnern, wann er sie das letzte Mal poliert hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, als das Polieren von Stiefeln seine zweite Natur gewesen war. Er schniefte, zwang die Erinnerung aus seinen Gedanken und blickte zur Haustür hinauf. Die kalte Luft klammerte sich an seinen Ohren und Fingern fest, eine beißende, scharfe Brise peitschte durch seine Haare. Er wollte der Tür befehlen, sich zu öffnen …, und zwar bald, bevor er erfroren war.

Ein Licht wurde eingeschaltet – ein blasses Glühen, das durch die vier Glasscheiben schien, die im oberen Teil der Holztür eingebettet waren. Dans Gesicht glühte in der Reflexion. Das graue Nachmittagslicht verblasste schnell; ein weiterer Schneesturm war im Anmarsch. Dan trat aus dem Schutz der Veranda zurück und blickte nach oben, versuchte die Sturmwolken allein mit seinem Willen zu vertreiben. Er wollte hier nicht feststecken. Wollte einfach nur seine Pflicht erfüllen, herausfinden, hinter welcher Sache Peter her gewesen war und dann schnell wieder abhauen.

Die Silhouette einer Gestalt tauchte hinter der Tür auf. Zögerte.

»Wer ist da?« Eine gedämpfte Frage, die voller Anspannung war. Falls er falsch antwortete, würde sich die Tür nie öffnen.

Dan dachte über den ersten Eindruck nach, den man nur einmal hinterlassen konnte. Und versuchte automatisch erneut, seine Haare zu glätten. Er atmete tief durch. »Mein Name ist Dan. Ich bin ein Freund von Peter.« Er hielt kurz inne. »Ein richtiger Freund.« Er spähte durch das pockennarbige Glas, das stark verzerrte.

Eine große, schlanke Frau mit blassbraunem Haar spähte zurück. Sie zauderte.

Dann hörte Dan das Geräusch einer Sicherheitskette, die gegen die Holzoberfläche der Tür klapperte. Die Frau zögerte erneut, doch schließlich wurde der Bolzen zurückgezogen und die Tür geöffnet.

Dan betrachtete die Frau. Sie war blass und in einen Pullover gewickelt, der dreimal zu groß für ihren Körper war und den sie einfach über ein Paar schmal geschnittene Jeans geworfen hatte. Sie trug dicke Socken. Dan blinzelte, als ihn die Wärme aus dem Haus umhüllte.

»Was wollen Sie?«, flüsterte die Frau.

»Ich will helfen«, antwortete er.

Die Frau nickte. »Er hat mir geschrieben und gesagt, dass Sie vielleicht kommen würden.« Sie streckte ihre Hand aus. »Ich bin Sarah«, sagte sie.

Dan ergriff sie mit einem schwachen Lächeln. »Das hatte ich gehofft«, antwortete er. »Kann ich reinkommen? Es ist arschkalt hier draußen.«

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