Читать книгу Das Miami Syndikat - Rafael di Giorgio - Страница 4
Der Moment, der alles veränderte
ОглавлениеDer Frühling erweckte die Natur zum Leben. Die Sonnenstrahlen, die die durch die Feuchtigkeit weichgezeichnete Lichtung durchschmolzen, erwärmten die noch kühle Luft des Waldes. Die Frische, der Geruch des Grases, des feuchten Holzes, des Mooses füllten seine Lungen mit purer Energie. Er war zehn Jahre alt. Und die Spaziergänge mit seiner Mami waren das Schönste was er kannte. Sie hatten ein Picknick eingepackt und spazierten durch den Wald bis zum Mittag. Sie hielten sich an den Händen, lachten, sangen und suchten den perfekten Platz, um Rast zu machen. Das Gezwitscher der Vögel begleitete die zwei auf dem Weg zum Glück. Sie kamen nicht sehr schnell voran, denn sie mussten immer wieder mal nach Vögeln, mal nach Eidechsen, mal nach Blumen, mal nach Eichhörnchen schauen und suchen. Und dieses Geknutsche… immer wieder... das jedes Mal ein so kindliches, freies Lachen hervorrief. Die Wärme ihrer Hand, die Geschmeidigkeit ihrer Haut, der zarte Griff seiner Hand, ihre liebevollen Blicke, die Glück, Liebe und Hingabe verrieten, gaben ihm das Gefühl der Geborgenheit. In der kleinen Welt eines Zehnjährigen, der die Liebe wie kein anderer erfuhr. Das saftige Grün, die warmen, orangenen Sonnenstrahlen, hier und dort der Rest von einem Nebel, der farbige Muster des Lichtes enthüllte, machte das Bild idyllisch. In der perfekten, kleinen Welt eines Zehnjährigen…
Die zu Anfang leisen, dann immer lauter werdenden Schreie, störten ihn. Sie waren schrill, angsterfüllt, immer wieder von einem “nein, bitte nein!!” begleitet, in dem Angst, Panik und Todesfurcht zu hören waren. Ohne Hoffnung. Ohne Chance. Sie rissen ihn schlagartig aus seinem idyllischen Waldbild, weckten ihn aus seinem tiefen Schlaf. Immer wieder diese Stimme, die schrie und bettelte…“nein”… immer und immer wieder. Bis die Stille kam. Tief, schwarz, traurig. Er machte die Augen auf. Fühlte, dass sein Pyjama durchgeschwitzt war. Sah, wie das Mondlicht durchs Fenster schien und das Zimmer bläulich schimmern liess. Die weisse Gardine flatterte im leichten Luftzug und erzeugte furchterregende Schatten an der Wand. Er stand auf, setzte seine nackten Füsse auf den Holzboden und verliess sein Zimmer. Das Holz fühlte sich warm und angenehm an. Er ging durch den Flur ins Schlafzimmer, wo nur das Bett seiner Mami und eine kleine Bibliothek standen. Die Form unter den weissen Laken liess ihn vermuten, wo seine Mami lag. Das Mondlicht schien auch hier durch die Gardinen und warf Schatten auf das Bett. Er legte sich zu ihr, umarmte sie, aber seine Umarmung blieb unerwidert. Stattdessen umarmten ihn die Schatten und sie fühlten sich klebrig und warm an. Er packte seine Mutter an der Schulter und drehte sie um. Die leblosen, grossen Augen starrten ins Leere und verrieten Hilflosigkeit. Furcht… Er schaute sie Minuten lang an und erkannte nur eine leblose Hülle, denn es fehlte die Liebe, das Lachen in ihren Augen. Alles, was er an ihr so liebte. Ihre strahlenden Augen, wie sie ihn ansprach, wie sie ihn anschaute, wie nur das Wunder der Liebe es schaffte aus einem Blick ein Liebesgedicht zu machen. Die Geborgenheit.
Er hörte draussen das Geräusch eines Feuerzeugs. Ging zum Fenster und sah durch die leichten Gardinen… ihn… einfach rauchend. Er ging auf dem warmen Holzboden zum Schrank im Flur und nahm die Schrotflinte. Ohne ein Geräusch zu machen, schob er die Patronen in den Lauf. Seine kleinen Finger schmerzten und hatten kaum die Kraft dazu. Die Kraft kam aus seinem Wunsch Gerechtigkeit walten zu lassen. Und zwar sofort. Seine Gefühle waren taub, er spürte nichts. Wie ein Roboter ging er geräuschlos die Treppe hinunter. Er legte die Waffe auf den Boden. Sie war schwer und er wusste, dass der Rückstoss gewaltig war. Vor der Eingangstür, auf dem Boden, mit dem Kolben auf die Wand fixiert, drückte er den Abzug. Die Patrone durchbrach die Tür und er hörte das Geräusch, das er nie wieder vergessen würde. Das Geräusch einer Patrone, die menschliche Knochen zerfetzte. Er öffnete die Tür und sah ihn. Aufs Gesicht gefallen, der Rücken wie ein Bogen nach oben gerichtet. Er hörte das Zischen der Luft in seinen Lungen. Und obwohl er nur zehn Jahre alt war und noch ein Kind, verspürte er Gerechtigkeit. Die Zigarette brannte noch in seinem Mund und der Kleine sah in dem Blick dieses Monsters alles was er sehen wollte. Panik, Angst und Hoffnungslosigkeit. Minuten lang schaute er ihn an, schaute wie das Leben aus ihm heraustropfte. Minuten lang…
Das leise, kurze Weinen…
Die Nachbarn fanden ihn am nächsten Tag immer noch auf der Treppe, wo er den Mörder seiner Mami anschaute. Mit kaltem, starrem Blick.
Von diesem Tag an war er gebrochen. Und seit diesem Tag träumte er nicht mehr von dem Tag im Wald mit seiner Mami. Von dem Tag, an dem er vollkommenes Glück empfand. In seiner perfekten, kleinen Welt, die jetzt nicht mehr existierte. Und er versprach sich diese Welt wieder zu erschaffen. Egal wie lange es dauern würde, egal wie steil, steinig und schmerzhaft der Weg sein mochte. Er würde ihn bestreiten. Wortlos, kompromisslos. Und er würde sie alle dorthin führen. Und die perverse, dumme Welt mit ihren eigenen Waffen besiegen. Denn die Welt war ein Spielplatz für Monster geworden.