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5. Ein sozialökonomisches Hoffnungsprojekt (Peter Gay / Emil du Bois-Reymond)
ОглавлениеDoch ist Hazards religionspolitisches Kriterium für das Ende einer produktiven Ideenschlacht und für den Anfang einer sterilen Fortsetzung dieser Ideenschlacht das einzige oder sogar das bedeutsamste Kriterium für das, was für Menschen wichtig ist? Gehören Mittelstraß’ gespaltenes epistemisches bzw. praktisches Aufklärungskriterium und Diderots optimistisches Kriterium der Aufklärung der Menschen durch die für sie angeblich absolut nützlichen Innovationen der Wissenschaft in die von Hazard diagnostizierte Verfallsgeschichte der Ideen?
Eine Erinnerung an eine alles andere als ideengeschichtliche Dauerkrise der Menschen mag hier helfen. Der deutsch-amerikanische Sozialhistoriker Peter Gay hat die alltägliche Lebenssituation der Menschen in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in seinem zweibändigen Buch von 1966 und 1969 Enlightenment. An Interpretation so beschrieben: »[…] the pitiless cycles of epidemics, famines, risky life and early death, devasting war and uneasy peace – the treadmill of human existence«.1 Der Wirtschaftshistoriker David Landes hat in seinem Buch von 1969 The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present im Gegenzug die Situation beschrieben, die sich in der Zeit von 1750 bis 1900 durch die Industrielle Situation entwickelt hatte: »The result [of the Industrial Revolution, R. E.] […] has changed man’s way of life more than anything since the discovery of fire: The Englishman of 1750 was closer in material things to Cesar’s legionnairs than to his own great-grandchildren«.2
Im Licht von Peter Gays Erinnerung an die Jahrtausende währende elende Tretmühle der menschlichen Existenz wird man diesen bis heute anhaltenden Fortschritt der alltäglichen Komfortbedingungen des Lebens der Menschen in den sogenannten materiellen Angelegenheiten zumindest in der sogenannten westlichen Welt nicht leichtfertig als materialistisches Vorurteil abtun können. Nimmt man überdies das Jahr 1751 der Publikation von Diderots optimistischem utilitaristischen Kriterium der Aufklärung der Menschen durch die für sie angeblich absolut nützlichen Innovationen der Wissenschaft zum Maßstab, dann gilt zweifellos nach wie vor, was der deutsche Biologe Emil du Bois-Reymond am Ende des neunzehnten Jahrhunderts über Autoren sagte, die solche Auffassungen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert angesichts der nützlichen Anwendungspotentiale vor allem der Naturwissenschaften ihrer Zeit formulierten: »Sie träumten«.3 Doch derselbe du Bois-Reymond konfrontiert diese geträumten Anwendungspotentiale mit denen vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts und stellt nüchtern fest: »Wovon jene bloß träumten, ist sogar noch übertroffen«.4 Doch können wir uns gegenwärtig oder noch in der Zeit von Mittelstraß’ Publikation auch unter Aspekten der Philosophie der euphorischen Fortschrittsdiagnose anschließen, mit der du Bois-Reymond den wissenschaftsbasierten Fortschritt seiner Zeit begleitet?
1 Peter Gay, The Enlightenment. An Interpretation, 2 vols., New York 1966, 1969, vol. II, p. 3.
2 David Landes, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present (11969), Cambridge/New York 1999, S. 5.
3 Emil du Bois Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (11877), in: Reden, 1. Folge: Literatur, Philosophie, Zeitgeschichte, Leipzig 1886, S. 137.
4 S. 137.