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3. Die geschichtspolitische Situation von Aufklärung und Religion

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Die Bewohner Westeuropas und Nordamerikas identifizieren sich gerne mit den Erben der Aufklärung, um die sich zuerst das 18. Jahrhundert in programmatischer Weise bemüht hat. Die Erbschaft dieses Jahrhunderts hat aber selbstverständlich auch eine Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte ist durch nichts tiefer und langfristiger geprägt als durch die christliche Religion sowie durch die Religionspolitik und die Theologie des Christentums. Diese lange Vorgeschichte des sog. Jahrhunderts der Aufklärung leidet indessen auch unter einer tiefen Spaltung. Wenn die Erben der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in unseren Tagen zunehmend in eine kämpferische Auseinandersetzung mit der Religionspolitik islamischer Staaten geraten, dann begegnen sie indirekt auch der gespaltenen Vorgeschichte jener Erbschaft des 18. Jahrhunderts, auf die sie sich so gerne berufen. Ein sehr frühes Schlüsselereignis dieser gespaltenen Vorgeschichte kann man mit Hilfe des berühmten ersten Satzes charakterisieren, mit dem Schiller seinen Don Carlos eröffnet: Denn ‚die schönen Tage von Aranjuez‹ waren für ganz Spanien im letzten Viertel des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung endgültig vorbei, als die politische und die kulturelle Friedensblüte der arabischen Toleranzherrschaft über Spanien von fanatischen christlichen Eroberern zerstört wurde – den Erben einer tief irenischen Religion der Menschenliebe.

Die Bewohner Westeuropas und Nordamerikas werden daher gegenwärtig von Bewohnern anderer Weltgegenden insofern in einer höchst verstörenden Weise auch daran erinnert, daß sie sich die Erbtitel und die Erblasten ihrer Vergangenheit nicht nach ihrem geschichtspolitischen Gutdünken aussuchen können. Der Fanatismus, mit dem diese Erinnerung gegenwärtig von militanten arabischen Migranten unter die Bewohner Europas und Nordamerikas getragen wird, verweist zwar auf denselben Mangel an Aufklärung, der auch den Fanatismus christlicher Eroberer hervorgerufen hat. Doch die religionspolitische Vorgeschichte der Aufklärung, um die sich das 18. Jahrhundert bemüht hat, gehört nun einmal zu den Erblasten, von denen sich in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart auch diejenigen nicht restlos distanzieren können, die meinen, sich auf irgendwelche wohlfeilen Erbtitel der Aufklärung berufen zu können.

Die Philosophie tut gut daran, wenn sie sich an geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die Legitimität solcher Erbtitel und Erblasten zumindest nicht direkt beteiligt. Die Methoden ihrer Arbeit sind den politischen Methoden solcher Auseinandersetzungen aus prinzipiellen Gründen nicht gewachsen. Dennoch hat die Philosophie methodische Möglichkeiten, solche Auseinandersetzungen ernst zu nehmen. Das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Religion scheint sogar wie geschaffen zu sein, um diese Möglichkeiten zu erproben. Denn seit Platon in seinem Hauptwerk Politeia das Schlüsselsymbol der Aufklärung – also die Sonne – mit der Idee des Guten identifiziert hat, ist die Philosophie die wichtigste reflexive Hüterin und Anwältin der Aufklärung. Aber noch älter als die Philosophie ist die Religion. Auf die Gottheiten nicht nur der griechischen Religion wird daher in allen Dialogen Platons mehr oder weniger direkt Bezug genommen. Und im Zwölften Buch der Aristotelischen Metaphysik wird sogar eine kohärente Theologie entwickelt.

Es ist bekannt, welche bibliothekarischen und hermeneutischen Schicksale den Schriften Platons und Aristoteles’ widerfahren sind. Die aristotelischen Schriften wurden bis in die Zeit des beginnenden Hochmittelalters so gut wie ausschließlich im arabischen Raum mit großem Gewinn für die theologische, die wissenschaftliche und allgemein für die kulturelle Selbstverständigung des Islam fruchtbar gemacht. Erst seit dem 12. Jahrhundert sind sie in den lateinischen Übersetzungen Wilhelms von Moerbeke durch Thomas von Aquin für die theologische und die wissenschaftliche Selbstverständigung von Europas Christentum richtungweisend geworden. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß gerade Thomas für die Entwürfe der arabischen Philosophen und Theologen Ibn Sina und Alfarabi stets den größten Respekt gehegt hat.

Platons Schriften wurden zwar kontinuierlich studiert. Aber einem gründlichen und differenzierten Verständnis ihres philosophischen Formats standen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts zwei starre Hindernisse entgegen. Das eine Hindernis wurde von der banalisierenden Interpretation der Ideenannahme Platons durch Cicero gebildet. Diese Interpretation wurde in der Neuzeit noch einmal besonders lebendig, als vor allem durch die Cicero-Begeisterung der Florentiner Humanisten des 15. und des 16. Jahrhunderts Platons Dialoge von neuem in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit rückten, verbunden allerdings mit ganz neuen, extrem einseitigen Akzentuierungen vor allem auf der Theorie des Schönen, des Eros und des dichterischen Enthusiasmus im Symposion. Das andere Hindernis wurde von der ebenso extrem einseitigen Interpretation gebildet, die die Neuplatoniker vor allem durch Plotin und Proklos, aber auch durch Augustinus für die christliche Theologie vorbereitet hatten. Hier standen verständlicherweise Themen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die in Platons Dialogen eher eine randständige Rolle spielen – die schöpfungstheologischen Prämissen des Timaios, die formal-analytischen Dialoge um das Eine und das Viele aus dem zweiten Teil des Parmenides und die Unsterblichkeitsbeweise für die Seele im Phaidon. Man darf diese scheinbar veralteten und in unseren Tagen scheinbar randständigen Themen der Philosophie jedoch mit großem Bedacht erwähnen. Denn die Philosophie der Gegenwart muß mit der Möglichkeit eines Risikos rechnen, wenn sie die Auseinandersetzung mit diesen Themen vernachlässigt oder für obsolet zu erklären versucht.

Dieses Risiko hat die Form eines Dilemmas: Entweder wird die Philosophie auf das unausweichliche theologische, religionsphilosophische und religionspolitische Gespräch mit dem gesamten Osten – also sowohl mit dem Nahen wie dem Mittleren und dem Fernen Osten – so schlecht vorbereitet sein, daß sie sich an einem produktiven Gespräch gar nicht beteiligen kann, ohne sich zu blamieren. Oder aber sie läuft Gefahr, in solchen Gesprächen eine zwar subtile, aber doch fadenscheinige Gestalt des Neokolonialismus zu kultivieren. Denn sie kann dann wohl immer noch die methodische Überlegenheit einer formalanalytischen Kompetenz kultivieren, die zwar die jüngsten Raffinessen der Syntax, der Semantik und der Pragmatik, z. B. der Demonstrativpronomina, beherrscht, aber z. B. die Frage nach der Theophanie mit derselben Unreife für ein Scheinproblem auszugeben versucht, wie man in den Pubertätsjahren der Analytischen Philosophie alle Fragen der überlieferten Metaphysik als Scheinprobleme in Verruf zu bringen versucht hat. Doch bekanntlich haben sich die Fragen der traditionellen Metaphysik während der vergangenen siebzig Jahre auch innerhalb der Analytischen Philosophie als quicklebendig und als höchst fruchtbar erwiesen.

Die Religionspolitik des Nahen, des Mittleren und des Fernen Ostens wartet indessen nicht siebzig Jahre oder länger darauf, daß die Philosophie des Westens das Reifeniveau erreicht hat, auf dem sie ein nicht nur ebenbürtiger, sondern auch respektvoller Gesprächspartner für die religionsphilosophischen Grenzprobleme geworden sein wird, durch die die Erben der neuzeitlichen Aufklärung und die Träger der großen Religionen in der Gegenwart so extrem voneinander getrennt sind. Die letzte Religionsphilosophie des Westens, die noch alle systematischen Voraussetzungen mitbrachte, um hier ein ebenbürtiger Gesprächspartner zu sein, war die Religionsphilosophie Hegels. Im 20. Jahrhundert war es vor allem Heidegger, der durch eine beispiellos kraftvolle Auseinandersetzung mit der Problemgeschichte der Philosophie die philosophische Potenz entwickelt hatte, in solchen Auseinandersetzungen ein ebenbürtiger und respektvoller Gesprächspartner zu sein.

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