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7. Die Wegscheide John Locke (Rainer Specht II)

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Mittelstraß hat seine am Leitfaden von Platons Sokrates-Bild entwickelte Orientierung am fruchtbaren Spannungsverhältnis von Aufklärung und Wissenschaft ausdrücklich einer Bewährungsprobe ausgesetzt: ›Wenn hier die Unterscheidung zwischen einer ›guten‹ und einer ›schlechten‹ Aufklärung vorgezogen wird, so in der Hoffnung, daß sie sich gerade auch im Hinblick auf die zweite Aufklärung, die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, als besonders geeignet herausstellen möge‹ (vgl. oben S. 13 f.). Läßt sich diese Hoffnung mit Blick auf die überlieferten Dokumente erfüllen?

Mit dem Enthusiasmus, der Diderot im 18. Jahrhundert auf der europaweiten Plattform der Encyclopédie die Möglichkeit einer Aufklärung durch Wissenschaft propagieren läßt,1 scheint Mittelstraß’ Hoffnung auf die neuzeitliche Bewährungsprobe in Erfüllung zu gehen. Der publizistische Erfolg der Encyclopédie spricht eine überaus beredte Sprache. Der wohl beste Kenner der publizistischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts um Aufklärung, der amerikanische Sozialhistoriker Robert Darnton, hat der Verbreitung der Encyclopédie ein Buch unter dem Titel Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?2 gewidmet. Mit statistischen Vergleichskriterien hat er gezeigt, daß sie, wenn man die Maßstäbe des 18. Jahrhunderts anlegt, den größten publizistischen Erfolg der Buchgeschichte erzielt hat. Die Erfolgsgeschichte der Konzeption einer Aufklärung durch Wissenschaft hält, wenn man sich an den rhetorischen Bekenntnissen zu ihr orientiert, bis heute unvermindert an.

Rainer Specht hat mit Hilfe seiner ungewöhnlich tiefen und scharfsinnigen Einblicke in die Geschichte von Theologie, Philosophie und Wissenschaft vom Mittelalter bis in die Gegenwart eine teilweise skeptische und teilweise pessimistische Gegenbilanz aufgemacht. Er macht zunächst darauf aufmerksam, daß »der lockesche Empirismus […] theoretisch unzulänglich und im Ansatz unzutreffend ist«.3 Denn im Rahmen von Lockes Ansatz »[besteht] Wissen in der Perzeption der Übereinstimmung von Ideen […], wie Lockes Wissensdefinition erklärt«.4 Doch »dann kann man überhaupt kein Wissen von Außenexistenz besitzen«,5 weil Ideen nicht außerhalb der Wissensprätendenten existieren. Um trotzdem »verständigerweise die Möglichkeit empirischen Wissens zu vindizieren, [führt er] am Ende kurzerhand das sensitive knowledge ein[…] und [desavouiert] dadurch seine offizielle Definition des Wissens […], stellt [also, R. E.] unausgesprochen zwei unterschiedliche Wissensdefinitionen einander gegenüber. Entweder ist also nicht klar, was Wissen bedeutet, oder es gibt kein empirisches Wissen«.6 Der Leser des Essays wird mit diesem Dilemma in die Situation entlassen, in der entweder Wissen »[…] vom jeweiligen Subjekt ad placitum hergestellt [wird]«,7 weil es zum Wissen genügt, Ideen ad placitum in Übereinstimmung zu bringen; oder das zum Skeptizismus verurteilte Subjekt weiß grundsätzlich nicht, ob es etwas weiß oder nicht. »Die praktischen und die religiösen Konsequenzen«8 von »Lockes theoretische[m] Handicap«9 sind, wie Specht zutreffend bemerkt, »für Christen nicht haltbar«.10 Denn das Dilemma »veranlaßt letzten Endes den Abfall vom Christentum zum free thinking mit seinen bedenklichen Folgen […] für die Individuen, die er um ihre einzige ernst zu nehmende Hoffnung bringt – ihre Rettung«.11

Den Ausblick seines Buchs stellt Specht unter eine Generalbilanz der realen Geschichte nach Locke: »Der Rest des Weges ist bekannt«12 sowie unter eine den Rest dieses Weges durchdringende Diagnose: »Europa entschied sich gegen den Rat nicht weniger Autoren für das neue Kriterium«13 – also für Lockes Kriterium, das aber gar keines ist, weil es mit dem Dilemma infiziert ist, daß es jeden seiner Benutzer bei der Frage in die Aporie stürzt, im akuten Fall nicht beurteilen zu können, ob er etwas weiß oder aber nicht weiß. Europas Bürger sind daher im tiefen aporetischen Schatten dieses neuen Pseudo-Kriteriums zum free-thinking verurteilt und damit – je länger sie das free-thinking praktizieren – vor allem in der Praxis und in der Religion zu der einzigen möglichen Konsequenz – »desto größer wird ihre Desorientierung«.14

1 Vgl. oben S. 17–19.

2 Robert Darnton, Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? (amerik. 11971), Berlin 1993.

3 Specht, Innovation, S. 189.

4 S. 220.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 S. 207.

8 S. 225.

9 S. 224.

10 S. 225.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Ebd.

14 Ebd. In einem anschließenden Aufsatz hat Rainer Specht, Über den Zugang zu Theodizeen, in: Einheit und Vielheit. Festschrift für Carl Friedrich v. Weizsäcker zum 65. Geburtstag (Hg. E. Scheibe und G. Süßmann), Göttingen 1973, S. 91–97, im einzelnen erörtert, welche gravierenden Gestaltwandlungen die Kriterien durchgemacht haben, seit die mit den Theodizee-Auffassungen Malebranches, Berkeleys und Leibniz’ verbundenen Gerechtigkeitskonzeptionen in den Bannkreis des free-thinking geraten sind.

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