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2. Ein szientistisches Aufklärungsmodell (Denis Diderot)

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Damit sind die Elemente gesammelt, die geeignet sind, zunächst Licht auf die grundsätzlichen Verdienste von Mittelstraß’ Untersuchungen zu werfen. Doch wie kann man im Licht derselben Elemente dem einen oder anderen mehr oder weniger neuralgischen Punkt dieser Untersuchungen auf die Spur kommen?

Die Umstände haben es gefügt, daß dies ausgerechnet unter Vorzeichen eines der beiden Jahrhunderte der Neuzeit möglich ist, die Mittelstraß für eine Bewährungsprobe seines Ansatzes bei den Tugenden des Vernünftigen ins Auge gefaßt hat. Denn gerade seine Verbindung der epistemologischen Aufklärungsfrage mit der Tugend der methodisch disziplinierten Rechtschaffenheit der wissenschaftlichen Arbeit findet in dem wohl bedeutsamsten neuzeitlichen Dokument dieser aufgeklärten wissenschaftlichen Tugend ein unmittelbares Echo – in der von d’Alembert und Diderot seit 1751 in drei Dutzend Bänden herausgegebenen Enzyklopädie der Wissenschaften, der Technik und der Berufe.1

In seinem programmatischen Artikel zum Thema Encyclopédie schreibt Diderot dem Wissenschaftler, dem unter den Vorzeichen von Mittelstraß’ epistemologischer Aufklärungsfrage die Tugend der methodischen Rechtschaffenheit zukommt, eine aufgeklärte Kunst (L’art éclairé2) zu. Diese aufgeklärte Kunst zeige sich darin, daß der entsprechende Wissenschaftler mit allen Verfahren und allen Operationen3 seines Forschungsfeldes vertraut ist und sie mit jener Leichtigkeit, jenem Überfluß an Ressourcen und mit jener Promptheit4 ausüben kann, die seine aufgeklärte Methodenkultur ausmacht. Diese befähigt ihn dazu, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, das Wahre vom Wahrscheinlichen, das Wahrscheinliche vom Wunderbaren und Unglaublichen, die gewöhnlichen Phänomene von den außerordentlichen, die gewissen Tatsachen von den zweifelhaften und diese von den absurden und gegen die Ordnung der Natur verstoßenden.5

Diderot geht über die Formulierung von Methodennormen der aufgeklärten Kunst des tüchtigen Wissenschaftlers sogar noch einen entscheidenden Schritt hinaus. Er charakterisiert hier zwei Mittel, von deren Gebrauch die zunehmende Aufklärung aller Menschen abhängt. Das eine Mittel besteht darin, die Menge der Erkenntnisse, über die die Menschen jeweils schon verfügen, durch die Entdeckungen der Wissenschaften zu vermehren.6 Das andere Mittel besteht darin, diese Entdeckungen in einem geordneten Zusammenhang – also im Stil einer Enzyklopädie – zusammenzufassen.7 Beiden Mitteln schreibt Diderot den Zweck zu, damit viel mehr Menschen aufgeklärt sein möchten.8

Damit findet Mittelstraß’ Ansatz bei der innerwissenschaftlichen Aufklärungsfunktion der Tugend der methodischen Rechtschaffenheit offensichtlich zunächst einmal ein unmittelbares und außerordentlich prominentes neuzeitliches Echo. Mit diesem Echo ist zwar eine in mehrfacher Hinsicht bedeutsam verfeinerte Charakteristik dieser innerwissenschaftlichen methodischen Tugend verbunden. Doch es wird auch deutlich, daß die Entdeckungen des wissenschaftlichen Fortschritts nicht länger eine exklusive Angelegenheit der wissenschaftsinternen Aufklärung sein sollten. Durch ihre Aneignung sollen sogar, wie Diderot formuliert, viel mehr Menschen auch außerhalb der Wissenschaft aufgeklärt werden. Die Legitimität dieser grundsätzlichen Auffassung von der Aufklärung der Menschen durch Wissenschaft wird von Diderot sogar durch die Berücksichtigung eines unmißverständlich praktischen Kriteriums geltend gemacht: Die absolute Nützlichkeit der Wissenschaften ist eine ausgemachte Sache.9 Mit dieser Beschwörung der absoluten Nützlichkeit der Wissenschaften für die Menschen kündigt Diderot jedoch die Trennung auf, die Mittelstraß’ Ansatz sorgfältig beachtet, um den Grundsatz der klassischen griechischen Philosophie fruchtbar machen zu können, den Grundsatz, daß die beiden Leitfragen der Aufklärung unabhängig voneinander beantwortet werden sollten – die epistemologisch-wissenschaftstheoretische Aufklärungsfrage, was ich wissen kann, und die praktische Aufklärungsfrage, was ich tun soll. Mit Hilfe seines absolut gesetzten utilitaristischen Kriteriums rückt Diderot die praktische Tragweite der Wissenschaften für die Menschen in den Mittelpunkt der Bemühungen um die Aufklärung: Die Entdeckungen der Wissenschaften dienen deswegen der Aufklärung der Menschen, weil diese Entdeckungen für sie absolut nützlich sind.

Es ist unübersehbar, daß Diderot damit ein optimistisches Fortschrittsmodell sowohl für die Wissenschaften wie für die Aufklärung wie für eine wissenschaftsbasierte Praxis der Menschen umreißt.

1 Vgl. Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris 1751 ff.

2 Art. Encyclopédie, in: Encyclopédie, Bd. I, S. 642.

3 »[…] familier tous les procédés, toutes les opérations […]«, ebd.

4 »[…] avec cette facilité, cette abondance de ressources, cette promptitude«, ebd.

5 »[…] distinguer le vrai du faux, le vrai du vraisemblable, le vraisemblable du merveilleux et l’incroyable, les phéno-mènes communs des phénomènes extraordinaires, les faits certains des douteux, ceux-ci des faits absurdes et contraires à l’ordre de la nature«, ebd.

6 »[…] l’un d’augmenter la masse des Connaissances par des découvertes«, S. 637.

7 »[…] l’autre de rapprocher les découvertes et de les ordonner entre elles«, ebd.

8 »[…] a fin que beaucoup plus d’hommes soient éclairés«, ebd.

9 »[…] en prenant l’utilité absolue des sciences pour une donnée«, Art. Chymie, S. 421.

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