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4. Eine gegenreformatorische Epochendiagnose (Paul Hazard)

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An diesem Punkt lohnt es sich, auf die Diagnose zurückzublikken, die in dem berühmten Buch des französischen Ideenhistorikers Paul Hazard Die Krise des europäischen Geistes/La crise de la conscience Européenne von 1935 ausgearbeitet worden ist.1 Er gibt ein Epochenkriterium zu bedenken, das, wenn es tauglich sein sollte, für die bis heute traditionellen Zäsurenbildungen der Ideengeschichte tiefgreifende Revisionen erfordern würde – auch für Mittelstraß’ und für Diderots Aufklärungskonzeption. Hazards Diagnose lautet: »[…] Die entscheidende Ideenschlacht findet vor 1715 und sogar vor 1700 statt. […] Die nun folgende Krise setzt so schnell und plötzlich ein, daß sie überraschend wirkt: während sie im Grunde durch eine Tradition von Jahrhunderten vorbereitet und in Wahrheit nur eine Wiederholung, Fortsetzung ist«;2 »[…] nahezu alle Ideen, die 1760 oder sogar noch 1789 revolutionär erschienen, [waren] um 1680 bereits ausgesprochen. Damals hat das europäische Bewußtsein eine Krise durchgemacht. […] [es gibt] in der Geschichte der Ideen keine, die größere Bedeutung hätte«.3 Die von Hazard diagnostizierte Krise bildet – lediglich mit einem anderen Wort – die damals beginnende Zerreißprobe unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes.

Hazard sieht im Blick auf das siebzehnte und das achtzehnte Jahrhundert nur eine relativ kurze Phase, die dieser Krise durch die Fortsetzung der Ideenschlacht hätte vorbeugen können, wenn diese Phase stabil geblieben wäre: »Ungefähr um die Mitte des 17. Jahrhunderts kommt es zu einem vorübergehenden Stillstand; ein paradoxes Gleichgewicht entsteht zwischen den sich widersprechenden Elementen; es kommt zu einer Aussöhnung zwischen den feindlichen Mächten, und es entsteht jene im eigentlichen Sinne des Wortes wunderbare Leistung: der Klassizismus. Er bedeutet eine Macht der Beruhigung, eine ruhige Kraft, das Beispiel einer Abgeklärtheit, die von Menschen bewußt herbeigeführt wird, die […] nach den Verwirrungen des vorangegangenen Jahrhunderts [Hazard meint die Verwirrungen, die durch die Reformation und die Gegenreformation ausgelöst worden sind] nach einer heilbringenden Ordnung streben«.4 Hazard stellt unmißverständlich klar, wodurch das Ende dieser klassizistischen Ruhephase erreicht worden war: »Als Ludwig XIV. im Monat Oktober 1685 das Edikt von Nantes aufhob. […] Insoweit man überhaupt bestimmte Daten als Wendepunkte für die Entwicklung des Denkens zu geben vermag, kann man mit Recht sagen, das Jahr 1685 bedeutet das Ende des Siegeszugs der Gegenreformation; danach geht es bergab«.5 Gehört es vielleicht zur Taktik eines gegenreformatorischen Eiferers, daß Hazard in seinem Buch den Umstand beschweigt, daß im selben Jahr 1685, in dem Ludwig XIV. das Toleranz-Edikt von Nantes aufhebt, John Locke mit der Arbeit beginnt, die unter dem Titel A Letter Concerning Toleration die staatliche Pflicht zur Toleranz gegen alle christlichen Konfessionen zu rechtfertigen sucht?

1 Vgl. Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes (frz. La crise de la conscience Européenne, 11935), Hamburg 11939, 5. Aufl., o. J.

2 S. 506.

3 S. 24.

4 S. 506.

5 S. 111.

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