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6. Die kritische Religionsphilosophie von Innovation und Folgelast (Rainer Specht I)

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Hier kommt der dritte Aspekt ins Spiel, unter dem man allerdings sogleich nach dem Erscheinen von Mittelstraß’ Buch direkt auf eine innere Grenze seiner gespaltenen Aufklärungskonzeption aufmerksam gemacht hat. Der Philosoph Rainer Specht hat zwei Jahre nach der Publikation von Mittelstraß’ Buch eine bedeutsame Untersuchung unter dem Titel Innovation und Folgelast. Beispiele aus Philosophie und Wissenschaftsgeschichte publiziert.1 Der Doppelaspekt von Innovation und Folgelast ist seit damals ganz unabhängig von philosophischen Erörterungen zu einem Leitaspekt der öffentlichen Auseinandersetzungen mit der sogenannten Ambivalenz des wissenschaftsbasierten technischen Fortschritts geworden. Doch eines der bedeutenden Verdienste von Spechts Untersuchungen besteht darin, daß sie die von Hazard beschworene religionspolitische ›Ideenschlacht‹ zwischen Reformation und Gegenreformation auf der hermeneutischen und analytischen Mikrostufe der theologischen, der philosophischen und der naturwissenschaftlichen Faktoren dieser ›Ideenschlacht‹ behandeln: Sie zeigen mit beispielloser Eindringlichkeit, inwiefern es der Streit um ein angemessenes Verständnis des Sakraments des Abendmahls – also der Eucharistie – gewesen ist, der seit der Zeit zwischen 1150 und 1250 und vor allem seit den Schriften Thomas’ von Aquin und bis zu Descartes’ Ontologie im siebzehnten Jahrhundert erstaunliche Fortschritte gezeitigt hat. Doch diese Fortschritte waren, wie Specht zeigen kann, nur möglich, weil die maßgeblichen Theologen die Anwendung vor allem der Aristotelischen Kategorien der Substanz, der Akzidenz und der Quantität auf Brot und Wein und auf Leib und Blut Jesu in bedächtigen und scharfsinnigen Schritten immer wieder von neuem mit dem jeweils aktuellsten Stand der Physik in Einklang brachten, um besser begründen zu können, daß nicht nur Brot und Wein einer wohlbestimmten Wirklichkeit angehören, sondern daß auch ihre Verwandlung in Leib und Blut Jesu einer Wirklichkeit angehört, wenngleich einer ganz andersartigen.

Diese Tradition bricht, wie Specht ebenfalls plausibel machen kann, mit dem Empirismus John Lockes ab. Denn die Wirklichkeitserfahrung, die unter den Vorzeichen seines Empirismus möglich ist, ist zwar jedem Menschen möglich. Doch die Wirklichkeitserfahrung der eucharistischen Verwandlung wird unter diesen Voraussetzungen dazu verurteilt, für unmöglich gehalten zu werden. Um so bemerkenswerter ist es, daß Locke in seinem Toleranzbrief die Atheisten vom Toleranzgebot ausnimmt. Doch das bedeutet unter den systematischen Prämissen dieses Traktats ausschließlich, daß die Atheisten von der Rechtspflicht des Staates und seiner Institutionen zur Toleranz ausgenommen sind. Es bedeutet mitnichten, wie mancher heute angesichts der heillos privatistisch gewordenen Toleranzmaßstäbe meinen mag, daß die gläubigen Theisten und Deisten unter den Menschen damit einen Freibrief hätten, allerlei Formen von Intoleranz gegen Atheisten zu üben.

Doch das Buch von Hazard ist aus Gründen atemberaubend, die Bücher von Ideenhistorikern regelmäßig mehr oder weniger atemberaubend machen. Sie beschreiben die Auseinandersetzungen um die von ihnen thematisierten Ideen mit einer Rhetorik, die man sich mit einer kleinen Auswahl charakteristischer Stichworte aus Hazards Buch in Erinnerung rufen kann: Kampf, Schlacht, Siegeszug, Sieg, Niederlage, Waffenstillstand, Friedensangebot u. ä. Hält man sich nur an diese Rhetorik, dann könnte man meinen, man lese nicht eine Ideengeschichte, sondern Schillers Beschreibung der Schlachtengetümmel, die er in seiner Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung behandelt. Ideen werden von Hazard mit Hilfe dieser Rhetorik behandelt, als würden sie sich aus einer ihnen innewohnenden Kraft oder Schwäche in einem unaufhörlichen Spannungsfeld von Krieg und Frieden bewegen.

Doch Philosophen, Theologen und Wissenschaftler, auf die sich der Ideenhistoriker Hazard in fast übergroßer Zahl bezieht, sind nicht Träger von Ideen, als wären diese Ideen Waffen, mit denen sie Ideenschlachten austragen könnten. Sie untersuchen vielmehr Fragen, die sie jeweils mit Hilfe von mehr oder weniger anspruchsvollen methodischen Einstellungen zu beantworten suchen. Ihre Antworten legen sie ihren mehr oder weniger ebenbürtigen und mehr oder weniger skeptischen Zeitgenossen und Nachfahren privat oder öffentlich zur Prüfung und nötigenfalls zur Verbesserung vor. Daß sich jeder von ihnen dabei auch polemischer Mittel bedient, um seine Auffassungen gegen konkurrierende Auffassungen zu profilieren und abzugrenzen, findet man auch in der Philosophie von Platon bis zu Heidegger, Wittgenstein und z. B. Robert Brandom in der Gegenwart. Doch der interdisziplinäre Respekt gebietet zu berücksichtigen, daß Ideenhistoriker vom Typ Hazards die methodischen Einstellungen in der Regel gar nicht gelernt haben, die nötig sind, um den oft entscheidenden Mikroschritten im Entwurf einer überlieferten Theologie bzw. wissenschaftlichen oder philosophischen Theorien gerecht zu werden. Kein Geringerer als Jacob Burkhardt bemerkt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen: »[…] eine einzelne Zeile in einem vielleicht sonst wertlosen Autor kann dazu bestimmt sein, daß uns ein Licht aufgeht, welches für unsere ganze Entwicklung bestimmend ist. […] Es kann sein, dass im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird«.2 Nur mikrohermeneutische und mikroanalytische Untersuchungen wie die von Specht können in der Philosophie die entsprechenden Mikro-Tatsachen ans Licht bringen. In Ideenschlachten, wie sie von Autoren wie Paul Hazard – ganz unbeschadet ihres enormen gelehrten Fundus – entworfen werden, werden solche Mikro-Tatsachen regelmäßig der Faszination durch ein vermeintliches Ideen-Schlachtgetümmel geopfert: »Die bloße Polyhistorie ist eine zyklopische Gelehrsamkeit, der ein Auge fehlt — das Auge der Philosophie«.3

1 Vgl. Rainer Specht, Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972.

2 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historisch-kritische Ausgabe, Pfullingen 1949, S. 43 bzw. 44.

3 Immanuel Kant, Logik, in: Kant’s gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. (sog. Akademie-Ausgabe), Bd. IX, S. 1–150, hier: S. 45.

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