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Sie pendelte anfangs, als sie als Achtzehnjährige oder Neunzehnjährige ihre Ausbildung zur Buchhändlerin machte. Sie las im Bus und im Zug, jeden Morgen und jeden Abend, stand früher als Mama Elisabeth und Papa Karl auf, trank kaum mehr als einen Schluck Kaffee und kam abends spät zurück. Bis sie auf das Angebot einer Hamburger Tante einging, sich unter der Woche doch bei ihr in Eimsbüttel einzuquartieren. Ein Zimmer mit Dachschräge. Der Tante, die neugierig war, ging sie aus dem Weg. Sie arbeitete im Rundfunkarchiv und erzählte beglückt, wenn sie einem Künstler, Knut Kiesewetter oder Hilde Sicks, auf den Gängen des Senders begegnet war.

In der Filiale der Buchhandlung – ein gediegenes Familienunternehmen – fühlte sie sich wohl. Zehn Minuten zu Fuß brauchte sie. Aus dem, was ihr Kleiderschrank hergab, machte sie das Beste. Aussehen wie die älteren Kolleginnen, die in unförmigen Leinensäcken oder ausgebeulten Jeans zur Arbeit kamen, wollte sie nicht. Zusammen mit Mama Elisabeth hatte sie sich eine Handvoll Blusen und zwei Hosenröcke genäht, in denen sie älter aussah, als sie war.

Sie ignorierte den leisen Spott, wenn sie von ihrem Dorf an der Schlei erzählte. Als würden die alle aus den Elbvororten stammen. Sie stürzte sich auf die Vorabexemplare der Neuerscheinungen und scheute sich bald nicht mehr, in der Kaffeepause und bei Besprechungen ihre Meinung zu sagen. Nie als Erste oder Zweite, doch so, dass sie nicht zu überhören war. Nicht dumm, die Kleine, merkte der Filialleiter im Vorbeigehen an und strich ihr über den Oberarm.

Sie lehnte sich an ein Regal, um niemanden im Rücken zu haben, hörte zu und wartete darauf, wieder verkaufen zu dürfen. Die meisten Kunden wandten sich zuerst an die Stammbelegschaft, doch nach und nach spürten die Ersten, dass sie etwas von der Sache verstand und von den neuesten Krimis nahezu alle gelesen hatte. Vor allem an Samstagen kam sie aus dem Empfehlen und Abraten kaum mehr heraus. Männer um die dreißig, die sich unsicher im Laden bewegten, suchten ihre Nähe, ohne dass sie es darauf anlegte. Überrascht stellte sie fest, dass sie eine gute Verkäuferin war. Man vertraute ihr, und nach einigen Monaten hatte sie ihr Auftreten perfektioniert und setzte ihren zurückhaltenden Charme so ein, dass nicht einmal die skeptischsten Kolleginnen ihr etwas vorwerfen konnten. Schaut nur, wie die Lisa den Hübner um den Finger wickelt, der kauft gleich ein Handarbeitsbuch und lädt sie zum Strickabend ein.

Sie lästerte kaum über Kunden und strafte den Filialleiter mit einer liebenswürdigen Gleichgültigkeit, die ihn nervös machte. Wenn es etwas zu feiern gab, feierte sie mit, steuerte selbst gebackenen Rhabarber- oder Kirschkuchen bei, blieb bis zum Schluss und packte beim Aufräumen und Geschirrabwaschen mit an. So war sie es gewohnt.

Ab und zu traf sie sich mit Kolleginnen beim Italiener und hörte aufmerksam zu, wenn diese von zu Hause erzählten. Zwei, drei der jüngeren waren verheiratet und gaben ihren Job auf, sobald sich Nachwuchs einstellte. Sie interessierte sich für ihre Lebensentwürfe, obwohl sie ahnte, dass die meisten eher planlos agierten, in ihre Ehe, in ihr Familiendasein hineingestolpert waren und nun vor der Frage standen, ob man sich in Henstedt-Ulzburg oder Halstenbek ein Häuschen leisten oder auf eine Erbschaft, ein Grundstück spekulieren konnte. Andere wiederum wogen alles ab, taten keinen Schritt, ohne den nächsten im Blick zu haben. Sie wunderte sich über beide, über die Stolpernden und die Vorausschauenden. Fragen nach ihrer Zukunft wich sie aus. Gab Vages von sich, Sätze, die mit Auslassungspunkten endeten.

Alle paar Wochen gingen sie spontan zusammen aus, auf ein Glas Wein an der Alster. Private Grillabende lehnte sie ab, erfand Ausreden. Kinoeinladungen schlug sie aus, ins Kino ging sie allein. Den abgedunkelten Saal betreten, wenn Werbung und Trailer schon liefen, und sich an den Rand setzen. Mit keinem hätte sie während eines Films, mit keinem nach der Vorstellung reden wollen. Sie vergrub sich in ihren Sessel, verschränkte die Beine so, dass es nach dem Film eine Weile brauchte, um sie wieder zu entwirren, und vergaß das Drumherum. Saß jemand neben oder vor ihr? Sie wusste es bald nicht mehr. Eine zarte Traurigkeit überkam sie, jedes Mal, sie ließ sich hineinziehen in die Geschichte, fühlte sich als Teil davon. Je länger der Film war, umso besser, umso tiefer versank sie und umso verlorener stand sie danach auf der Straße, bog rasch um die Ecke und hoffte, niemandem zu begegnen.

So lachte sie für sich über die Beine von Fanny Ardant, die absichtlich an einem Kellerfenster vorbeischlenderte, um ihrem Arbeitgeber, einem des Mordes verdächtigen Makler, eine kleine Freude zu machen. Sie folgte den Schwarz-Weiß-Bildern, hatte nur Augen für Fanny Ardant und Jean-Louis Trintignant, den Makler, den Geliebten. Als Dreißigjährige oder Vierzigjährige würde sie lesen, dass Fanny Ardant drei Töchter von drei Männern bekommen und nie geheiratet hatte. Frei wolle sie sein, sagte sie in einem Interview, und wäre Lisa jemals interviewt worden, hätte sie nichts anderes gesagt. Das musste man aushalten. Auf Liebe und Tod hieß der Film.

Als Zwanzigjährige, in den letzten Wochen ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin, beschloss sie von heute auf morgen, sich die Haare abschneiden zu lassen. Am Samstagnachmittag fuhr sie nach Ladenschluss ins Schanzenviertel und erklärte ihrem türkischen Friseur, der sich so schwul gab, dass er bei jedem Casting für schwule Friseure durchgefallen wäre, was sie vorhatte. Er jammerte, stieß Flüche aus, die sie nicht verstand, warf die Hände in die Luft. Ich, Dursun, werde mich nicht schuldig machen! Sie genoss das Schauspiel, eine andere Kundin mischte sich ein, wies ihn zurecht und lobte Lisa für ihren Entschluss, sich von ihren halblangen Haaren zu trennen.

Als sie das Geschäft verließ und bemerkte, wie Dursun ihr ängstlich nachsah, als rechnete er jeden Augenblick mit ihrer zornigen Rückkehr, musterte sie sich im Schaufenster und lächelte. Pechschwarz glänzte ihr gegeltes Haar im rötlichen Abendlicht, streichholzkurz war es, am Hinterkopf fühlte es sich wie stachliger Pelz an, Dursuns Rasierer hatte ganze Arbeit geleistet. Sie brauchte nur wenige Stunden, um sich daran zu gewöhnen, fuhr sich den Abend über mehrmals verstohlen durchs Haar. In der Schule hatte sie jenen Mädchen misstraut, die ihr blondes Haar wie Farrah Fawcett trugen, es kokett zurückwarfen, sobald sich ein Junge näherte, dabei blöde lachten und zu Hause stundenlang mit dem Lockenstab hantierten. Lang und blond, das kann jede, dachte sie.

Mama Elisabeth hatte sich beherrscht – »Sicher praktisch im Sommer!« – und zügig den Kaffeetisch eingedeckt. Einer Arbeitskollegin entfuhr ein »Na, ob dich da noch ein Mann anschaut!« und bekam keine Antwort. Sie wusste, dass es Männer gab, die sich vor Frauen mit kurzen Haaren fürchteten, die sie reflexartig für lesbisch hielten, was ihr nicht das Geringste ausmachte.

Zur Verwirrung der Männer beitragen und sie im Unklaren lassen, das lernte sie als Zwanzigjährige, und das behielt sie bei. Wie ihre kurzen Haare, die sie alle drei Wochen bei Dursun nachschneiden ließ. Der nach kurzer Zeit stolz auf ihren Mut war und begann, anderen Kundinnen eine Persönlichkeitsveränderung durch Kurzhaarschnitt nahezulegen. Auch als Dreißigjährige, Vierzigjährige und Fünfzigjährige trug sie ihre Haare so. Sie war froh, über ihren Kopf nicht mehr nachdenken zu müssen, fing an, mit einem feuerroten Lippenstift einen Kontrast herzustellen, der sie zu einer Person machte, die auffiel, ohne zu sehr aufzufallen. Ungeschminkt ging sie nicht mehr aus dem Haus.

Nach und nach passte sie ihre Kleidung an. Schwarze Hosen mit leichtem Schlag, schwarze, eng anliegende, nie weit ausgeschnittene Tops, schwarze Jacketts, schwarze Mäntel. Allenfalls die ausladenden Ohrringe, in Rot oder Grün, fielen aus dem Rahmen.

Wenn sie Jeans trug – zwei Paar besaß sie –, gaben die Kollegen Kommentare ab und schienen ihren Augen nicht zu trauen. Ob sie einen neuen Freund habe, einen mit Schwarzallergie. Tragen Sie doch mal fröhliche Farben, das gefällt der Kundschaft und steigert den Umsatz, wie wissenschaftliche Studien zeigen … einmal nur wagte es der Filialleiter, sie derart anzusprechen. Ihr Blick brachte ihn nach wenigen Sekunden zum Schweigen. And you wonder why I always dress in black, why you never see bright colors on my back – das war das Lied, das sie als Vierzigjährige zu ihrem Handyklingelton machen würde.

Als wär das Leben so

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