Читать книгу Als wär das Leben so - Rainer Moritz - Страница 6
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ОглавлениеDer Holztisch mit der wurmstichigen Bank war ihr Reich, hinter dem Haus, vom Weg nicht einzusehen, überwuchert von einem Rosenstrauch, der nicht mehr viele Winter überstehen würde. Dahin zog sie sich zurück, als Zwölfjährige oder als Vierzehnjährige, wenn sie nachmittags aus Eckernförde zurückkam. Vom Gymnasium. Papa Karl hatte ihr über das lange schwarze Haar gestrichen und sie umarmt, als der Schulwechsel feststand. Als wäre das bei ihnen üblich gewesen. Sie mochte seine Nähe, mochte den ledrigen Geruch des Rasierwassers und seinen rauen Bart. Ungeduldig machte er sich morgens mit dem neuen Elektrorasierer zu schaffen. Nennst du das sauber rasiert?, fragte Mama Elisabeth beim Frühstück, ohne eine Antwort zu erwarten. Deine Kunden werden sich ihren Teil denken.
Lisa geht nach dem Sommer aufs Gymnasium, eine Nachricht, die Eindruck machte. Sie hatte sich in der Volksschule leichtgetan, ohne sonderlich aufzufallen. Lisa-Marie nimmt aufmerksam am Unterricht teil. Im Mündlichen könnte sie lebhafter sein. Sie ist freundlich, zurückhaltend und hilfsbereit gegenüber ihren Mitschülern. Sie saß in der vorletzten Reihe, ganz außen, neben der Korkwand, an der Schülerzeichnungen hingen.
Heimatkunde und Deutsch waren ihre Lieblingsfächer. Ihre Handschrift sorgte für Kopfschütteln. Lisa, du brauchst nicht so groß zu schreiben, dass alles aus fünf Metern Entfernung zu lesen ist. Ihre Banknachbarin war dankbar dafür. Sie machte gern schwungvolle, ausladende Bögen; für das Wort »Heimatkunde« auf dem Heftumschlag reichte ihr eine Zeile nicht. Sie nahm den Tadel hin, änderte nichts an ihrer Schrift. Ohne Mühe fand sie sich an der neuen Schule zurecht. Mit dem Fahrrad legte sie Tag für Tag die Strecke zurück, fast zwölf Kilometer immerhin.
Eckernförde, das war beinahe Stadt. Eckernförde, das waren Kinder, die sie nicht kannte. Zum ersten Mal blickte sie über ihr Dorf hinaus. Anika weinte, als wäre ihre Schwester aus der Welt. Papa Karl zeigte seinen Stolz, während Mama Elisabeth die Dinge nüchtern einschätzte. Musst dich anstrengen, Lisa, wir können dir da nicht bei helfen.
Am schattigen Holztisch machte sie ihre Schularbeiten. Selbst wenn erste Stürme den Herbst ankündigten, saß sie draußen. Neben Mama Elisabeths Gemüsebeeten, den Tomatenstauden, dem Kräutergärtlein. Bald sind wir Selbstversorger. Sie bestimmte, wann es zu kalt für draußen war. Von ihrem Platz aus sah sie das Vogelhaus, das sie alle paar Tage mit Nüssen und Körnern auffüllte, sah die Nachbarskatze, die nur daran zu denken schien, sich einen der Vögel zu schnappen, und das Kaminholz, das sich akkurat unter dem Vordach stapelte. Als Zwölfjährige oder als Vierzehnjährige begann sie Kaffee zu trinken, während sie Vektorrechnung und Reibungsenergie zu begreifen versuchte. Niemand musste sie zum Lernen anhalten, sie beschränkte sich auf das, was ihr notwendig erschien.
Dieser Platz war ihr Platz. Anika traute sich nicht, sie zu stören. Der späte Nachmittag gehörte ihr, seit Mama Elisabeth halbtags in einem Pflanzenmarkt arbeitete, an der Kasse. An heißen Tagen klappte sie die Schulhefte bald zu, holte ihr Rad aus dem Schuppen und fuhr die Straße hinauf bis zum Langsee. Ein privates Gewässer ohne ausgewiesene Badestelle, am Ufer standen seit Kurzem elegante Bungalows mit hölzernen Stegen, bewohnt von Städtern, die am Wochenende herkamen, als Erstes ihren Rasen mähten, sich ansonsten selten zeigten.
Sie schlug sich durch die Sträucher und Zweige, die den Pfad überwucherten. Unten ein Stück Wiese, Felsbrocken und Äste, an denen sie ihre Kleider aufhängte. Sie konnte es kaum erwarten, über die glitschigen Steine ins Wasser zu gelangen. Als Zwölfjährige machte sie keine Umstände und sprang nackt in den See. Als Vierzehnjährige zog sie ihren gepunkteten Bikini an, den ihr die Patentante aus Stade zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein unmögliches Teil, wie Mama Elisabeth schimpfte, das viel zu viel von ihren schnell gewachsenen Brüsten freigab. Papa Karl sagte nichts, wunderte sich, wie groß seine Tochter geworden war.
Sie reagierte nicht, zog den Bikini an. Mit einer Pubertierenden, die ständig Widerworte gab, wäre Mama Elisabeth wohl besser zurechtgekommen. Wenn man nur wüsste, woran man mit dir ist. Lisa schwieg weiter und nahm sie in den Arm, ein paar Sekunden lang.
Sie holte weit aus, schwamm zügig hinaus, mit hoch erhobenem Kopf. Die Haare sollten nichts abbekommen. Abstand gewinnen zum Ufer, in die Mitte gelangen, sich umschauen. Auf andere Schwimmer traf sie fast nur am Wochenende. Oder wenn Inger die gleiche Idee hatte und ein Bad den Schulaufgaben vorzog. Inger, ihre Freundin oder zumindest das Mädchen, mit dem sie nie Probleme hatte. Inger, die Tochter des Gastwirts, die nur redete, wenn sie etwas zu sagen hatte. Inger, die die halb volle Zigarettenschachtel ihres Vaters mit an den See brachte. Die Kippen vergruben sie im Wald.
Frei fühlte sie sich als Vierzehnjährige, wenn sie die Augen schloss, das Wasser um ihren Körper strich. Sie schwamm zu einem der Stege, dessen Planken nach frischem Holz rochen, zog sich hoch, spähte nach oben zum Bungalow, dessen Rollläden heruntergelassen waren, und blinzelte in die Sonne. Sie atmete kaum, stützte sich mit den Ellbogen auf und legte ein Bein übers andere. Langsam strich sie mit den Fingerspitzen über ihre Brüste, den kühlen Bauch und die Schenkel. Sie erstastete ihren Körper, der sich so verändert hatte, wollte herausfinden, wo sich die Haut am zartesten anfühlte.
Für den Heimweg setzte sie ihre Sonnenbrille auf, ein Modell mit tropfenförmigen Gläsern. Kilometerweit fuhr sie zurück, wenn sie die einmal vergessen hatte. Die genau gewählten Augenblicke, wenn sie die teure Brille aufsetzte oder sich ins Haar steckte. Sich hinter den dunklen Gläsern verstecken … bis sie sich, wenn ihr danach war, plötzlich anders entschied und ihr Gesicht wieder zeigte.
Sie schwamm gern, für ihr Leben gern. Nicht um Strecke zu machen. Nie würde sie an einem Ort leben wollen, der fernab von Wasser lag. Ein Flusslauf, ein See, eine Küste, das brauchte sie, und das wusste sie, als Zwölfjährige oder als Vierzehnjährige.
Noch einmal sprang sie ins Wasser, schwamm fast bis zum anderen Ufer, ehe sie langsam zurückkehrte und sich umzog. Ihre Haut fühlte sich angenehm an. Gleich würde sie zurückradeln, gerade noch rechtzeitig, um vor Mama Elisabeth zu Hause zu sein. Sie würde kaum etwas essen, eine Schale Milch mit Erdbeeren vielleicht, die Unterhaltung ihrer Schwester überlassen und sich, sobald der Fernseher lief, auf ihr Zimmer zurückziehen. Seit das Dach ausgebaut war, besaß sie endlich ein eigenes. Sie würde Musik hören, Joni Mitchell oder Leonard Cohen, lesen und warten, auf etwas, von dem sie nicht wusste, was es war.