Читать книгу Als wär das Leben so - Rainer Moritz - Страница 5
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ОглавлениеDa schlug sie als Fünfjährige oder als Achtjährige das Gartentor so kräftig zu, dass die beiden Flügel nachbebten. Sie pfiff auf zwei Fingern, drei Mal, das Zeichen für Rolf-Dieter, auf schnellstem Weg nachzukommen. Sie sprang voraus, bei Krögers dauerte es meistens länger, weil es Nachtisch gab, Kompott. Abends. Am Ende des Zufahrtsweges bog sie rechts ab. Sie grüßte die wenigen Nachbarn, die sich um diese Uhrzeit draußen zu schaffen machten. Am Kiosk an der Straßenbiegung blieb sie stehen, wartete auf Rolf-Dieter, Steinchen in die Wiese kickend, auf der eine Mähre von Bauer Redecker verloren den Kopf senkte.
Die Holzläden waren verschlossen. Nur am Wochenende öffnete der Schleckikönig seinen Laden, verkaufte Kaffee und Bockwurst an Spaziergänger und Sportler. Ein Geschäft, sagte Papa Karl, sei damit nicht zu machen, mit den paar Städtern, die Bootsausflüge unternahmen und neuerdings die Natur suchten.
Lisa liebte den Kioskmann. In gut verschraubten Glasbehältern, zwei Dutzend mindestens, verwahrte er Süßigkeiten, die er als gemischte Tüte für fünfzig Pfennig anbot. Jedes Kind durfte seine Auswahl selbst zusammenstellen, abwägen, ordern, sich umentscheiden und neu ordern. Brausetabletten, Lollis, Weingummis, Colafläschchen, Lakritzschnecken. Das dauerte, sodass sich an freundlichen Sonntagen Schlangen unschlüssiger Kinder bildeten. Lisa sparte jedes Zehn-Pfennig-Stück auf, bis es für eine Tüte reichte. Die Frau des Kioskmanns war selten zu sehen.
Wenn sie als Dreißigjährige oder als Vierzigjährige zu Besuch bei ihren Eltern war, suchte sie vergeblich nach dem Schleckikönig. Seinen Kiosk gab es nicht mehr, abgerissen hatte man ihn, um Parkplätze zu schaffen. Irgendwas, hieß es, habe er sich zuschulden kommen lassen. Was, sagte niemand. Papa Karl wich Nachfragen aus, Mutter Elisabeth wischte sie mit einem »Das geht uns nichts an« beiseite. Die Frau des Schleckikönigs, die keiner Schleckikönigin nannte, arbeite inzwischen als Aushilfe in einem Friseurgeschäft in Schleswig, sagte man.
Endlich kam Rolf-Dieter, unerträglich langsam, wie Lisa fand. Sie boxte ihn in die Rippen, schimpfte, er suchte mit der Zunge nach Kompottresten zwischen seinen Zähnen, Pflaumenschalen vielleicht, lachte sie an.
Sie redeten nicht viel, nahmen den sanft absteigenden, seit Kurzem asphaltierten Weg zur Schlei. Die Wolken standen hoch, bildeten, vom Wind getrieben, wunderliche Gebilde. Siehst du die Kuh da oben? Sogar mit Euter. Sie streckte den Zeigefinger himmelwärts. Rolf-Dieter nickte. Er war anderthalb Jahre älter als sie, beugte sich ihr aber klaglos. Jungen in ihrem Alter fand sie bescheuert. Gib dir also Mühe, hatte sie zu Rolf-Dieter gesagt. Nur weil du unser Nachbar bist, muss ich dich nicht für was Besonderes halten.
Sie setzten sich auf einen Stein am Ufer, ihren Familienstein, um den herum sie im Sommer oft saßen. Ein Paar, das spazieren ging, ein Fischer, der ein Boot an Land zog. Mehr nicht. Im Sommer wagten sich Fremde aufs Wasser, alles Hamburger, sagte Papa Karl. In funkelnagelneuen Kanus wie aus den Lederstrumpf-Filmen. Eine Familie war im letzten Sommer gekentert, hatte um ihr Leben geschrien, bis zwei Fischer zupackten und das Kanu drehten. So schnell säuft man in der Schlei nicht ab.
Rolf-Dieter erzählte von einem Schulaufsatz, den er nächste Woche schreiben musste. Wie die Wikinger lebten. Woher er das wissen solle. Sie hörte ihm zu, aufmerksam und abwesend. Eine Mischung, die Mama Elisabeth in Rage brachte. Nie weiß man, ob du einen verstanden hast. Meinst du, wegen dir sage ich alles zweimal? Sie schüttelte ihr schwarzes Haar, sah an Rolf-Dieter vorbei zum gegenüberliegenden Ufer. Bis dahin schwimmen war leicht. Und von den Eltern verboten. Rolf-Dieter klagte über seine Lehrerin, eine Brillenschlange, die sich über die Schmutzränder unter seinen Fingernägeln lustig machte. Trauerränder. Wie ein Bergmann aus dem Ruhrgebiet.
Komm, lass uns weitergehen, ich brauche einen großen Stock.
Sie liebte die Schlei, die weder Fluss noch Meer war. Als Fünfjährige, als Achtjährige, als Zwölfjährige, als Fünfzehnjährige. Wenn sie wütend war oder traurig, wenn sie das Alleinsein brauchte, ging sie ans Wasser, suchte nach Treibgut, lief den schmalen Strandstreifen entlang bis zum Wald. Wenn sie dann immer noch wütend war oder traurig, rannte sie weiter bis nach Missunde. Im Frühjahr, Sommer, bis in den Herbst hinein badete sie in der Schlei, prüfte den Salzgehalt mit der Zunge und tauchte den Kopf unter. Sie krähte vor Freude, patschte mit den Händen aufs Wasser.
Sie blieben, bis die Sonne unterging. Länger war nicht erlaubt. Sie gab Rolf-Dieter vor dem Gartentor die Hand. Viel Spaß mit den Wikingern. Sie trödelte, setzte sich auf die Schaukel, die an den hohen Ästen einer Buche festgezurrt war. Sie schwang hoch hinaus, noch ein Stück weiter und noch eins. Sie mochte den Kitzel. Was, wenn die Verankerung nicht hielt, wenn ein Ast brach?