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Dachten die anderen oft über sich nach? Sie stand am Gartentor, das so breit war, als würde es zu einem ansehnlichen Gut führen, als hätte sie ihre Kindheit auf einem imposanten Anwesen verbracht. Dabei war da nicht viel. Eine halbwegs gepflegte Wiese, die andere Rasen genannt hätten, ein paar Obstbäume, ein aus Holzlatten gezimmertes Fußballtor, das keinem kräftigen Schuss standgehalten hätte, ein Schuppen, in dem hinter Papa Karls Kombi die Gartengerätschaften ihren Platz hatten, sorgsam aufgeräumt, wie es sich gehörte. Und dann das weiße Haus, weder groß noch klein, mit seinem tief heruntergezogenen Dach, einer hölzernen Kassettentür und den hellblauen Kastenfenstern. Ein Haus, das einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte, eines, wie man es hier auf dem Land häufig fand. Ihr Elternhaus.

Da stand sie als Fünfjährige oder als Achtjährige, auf dem kaum befestigten Fahrweg neben dem Gartentor, hinter der Hecke, sodass sie vom Haus aus nicht zu entdecken war. Sie sah aufs Feld, Bauer Redecker zu, wenn er den Acker umpflügte oder den Weizen erntete, sah den aufsteigenden Krähenschwarm oder Vögel mit ausladenden Schwingen, deren Namen sie nicht kannte. Manchmal stellte sie einen Kindertisch und einen Stuhl auf den Weg, las oder zeichnete, froh, wenn ihre jüngere Schwester nicht da war, wenn niemand da war. »Lisa, wo steckst du? Abendbrot, dalli, dalli.«

Auf den ersten Ruf ihrer Mutter reagierte sie nie. Erst wenn die Stimme ungehalten klang, wenn sie hörte, wie ein Fensterflügel aufklappte, ging sie ohne jede Eile ins Haus. Lisa, ja, obwohl sie auf den Namen Lisa-Marie getauft war. Was ihren Eltern kurz darauf peinlich gewesen sein musste, denn Marie kam außer in Formularen und Dokumenten nicht mehr vor. Zwei Vornamen, das passte nicht zu ihnen. Zu ihr vielleicht schon. Lisa-Marie, Lisa-Marie … Sie selbst hatte nichts gegen ihn, versäumte es selten, auf ihre Schulhefte in großen Lettern ein Lisa-Marie zu setzen. Anders wollte sie sein, anders als Torben, Jens, Güde, Stine und Solveig. Einige ihrer Liebhaber in Berlin und Hamburg würden sie später so nennen, die, die Lisa zu banal fanden. Sie ließ es zu, hob allenfalls eine Augenbraue, wenn einer über ihr im Bett zusammensank und Zeit für ein »Oh, Lisa-Marie …« fand. Lange hielt sie es mit solchen Männern nicht aus.

Da saß sie am Abendbrottisch, als Fünfjährige oder als Achtjährige. Mit blitzsauberen Händen und zerzausten Haaren. Punkt sieben standen die Wurst- und Käseplatten auf dem Tisch, das Graubrot, das seinen Namen zu Recht trug, die Margarine, die Senfgurken, die Radieschen, die Eiviertel, der Tee, der Johannisbeersaft und die Flasche Bier für Papa Karl. Wenn er den Bügelverschluss aufploppen ließ, strahlte sie. Jetzt war er da, würde von seinem Tag erzählen, von seinen merkwürdigen Kunden, die ihn mit defekten Stehlampen, verschmorten Kabeln oder lockeren Steckdosen behelligten. Er deutete an, wusste, dass er sich vor seinen Kindern nicht über Kunden lustig machen durfte. Sie bezahlten ihn, den selbstständigen Elektromeister, hielten seine Werkstatt über Wasser und hatten es möglich gemacht, dass er dieses einfache Häuschen an der Schlei kaufen konnte. Zu einem günstigen Preis, den er einem besonders aufdringlichen, mit Küchengeräten auf Kriegsfuß stehenden Kunden verdankte.

Sie war stolz auf ihn und hätte nicht sagen können, warum. Beobachtete ihn, wie er das mit Senf bestrichene Jagdwurststück bedächtig kaute, den Kopf geneigt, um nichts von dem zu verpassen, was Mama Elisabeth erzählte. Von den Dorfneuigkeiten, von der beigen Strickjacke, die sie bei einem Modeversand bestellt hatte, und natürlich von dem Trompeter, der am Ende des Weges das halb verfallene Gartenhäuschen angemietet hatte, für ’nen Appel und ’n Ei. In einem Orchester spiele der, vielleicht sogar in Hamburg. Sein Getröte und Geschmettere mache alle Vögel kirre.

Lisa hörte zu, kerzengerade sitzend, mit einem leicht ironischen Lächeln um den Mund. Auf sie war Verlass. Auch wenn es darum ging, die aufgekratzte Schwester zu zähmen, die den Abendbrottisch mit ihren Kindergartengeschichten in Beschlag nahm, jede Redepause nutzte, die Papa Karl machte. Schon gut, Anika. Sie legte die Hand auf den Arm ihrer Schwester, erntete dankbare Blicke der Eltern. Die Schwester beruhigte sich, mümmelte weiter an ihrer Graubrotscheibe, von der Käsekrümel auf den Fliesenboden fielen. Sie würden zwei Leben lang zusammenhalten. Fast. Erst als alles zusammenbrach, ging Anika auf Distanz, konnte nicht anders. Schwesterlein, warum lässt du mich allein?

Sie half beim Abwasch, fuhr mit dem feuchten Lappen über die Wachstuchtischdecke und warf einen Blick auf das Fernsehgerät, das den Reiz des Neuen noch nicht verloren hatte. Tagesschau. Papa Karl legte die Füße hoch. Sie gab ihm einen Kuss auf die stopplige Wange. Er tat überrascht. Sie vergewisserte sich, dass ihre Schwester mit dem Baukasten beschäftigt war, und witschte mit einem »Ich geh noch mal runter« aus der Tür. Mama Elisabeths »Pass auf, Kind« bekam sie gerade noch mit. Aber das bedeutete nichts. Nie sagte sie einen anderen Satz, wenn sich Lisa davonmachte.

Als wär das Leben so

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