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Irgendwann will ich Kinder haben, viele. Sie hörte ihrer Schwester Anika zu und fragte: Bist du sicher? Wie unterschiedlich sie waren. Sie verstand sich gut mit Anika, bildete ein Bündnis mit ihr, gegen das die Eltern nicht ankamen. Anika ging auf die Realschule und machte danach eine Ausbildung, in einem Reisebüro. Glaub nur nicht, hatte sie gesagt, dass ich mich lange hinter einen Schreibtisch setze. Kinder will ich haben, und den Mann dazu finde ich. Lisa nickte und wusste, was sie nicht wollte.

Als Achtzehnjährige hielt sie das Abiturzeugnis in Händen, keins mit Glanz und Gloria, doch eines, das sich sehen ließ. Vor allem in Deutsch und in den Fremdsprachen. Eine Woche später saß sie mit ihren Eltern und Anika in einem Hamburger Fischlokal, das in Restaurantführern gelobt wurde. Ein runder Tisch am Fenster mit Blick hinüber zu den ein- und ausfahrenden Containerschiffen und den Barkassen auf Hafentour. Die Aussicht erwies sich als nützlich, wenn das Gespräch ins Stocken geriet.

Mama Elisabeth, der die Preise auf der Speisekarte einen Schock versetzt hatten, fragte, was sie nun machen wolle, nach diesem Abitur, auf das sie, die Eltern, natürlich mächtig stolz seien. Sie schwieg, konzentrierte sich auf die Dorade im Salzmantel – ein von hart gewordenem Meersalz umschlossener Fisch, der vom Kellner, der sich etwas darauf einbildete, in diesem Restaurant zu arbeiten, mit einem silbernen Hämmerchen aufgehauen wurde. Salzbrocken splitterten ab, fielen auf die Servierplatte, ein paar davon auf das weiße Tischtuch. Was der Kellner zu entschuldigen bat.

Weiß nicht, Mama. Ich such mir erst mal einen Job, mach eine Ausbildung, Buchhändlerin vielleicht. Danach studier ich vielleicht. Ihre Eltern tauschten Blicke aus. Mama Elisabeth fand den Pannfisch zu trocken und die Senfsoße zu senfig. Papa Karl fragte, was die mit der Salzkruste der Dorade machen würden. Einfach wegwerfen?

Was sie sagte, war das, was sie dachte. Wobei es ausgesprochen eindeutiger klang. So als hätte sie sich das ausgiebig überlegt, einen Plan für ihr Leben entworfen. Sie wollte Dinge ausprobieren, um herauszufinden, was sie fühlte, nachdem sie die Dinge ausprobiert hatte. Dass sie damit ihren Eltern viel abverlangte, war klar. Von deren Sicherheitsdenken hatte sie einiges abbekommen. Wird sich schon finden, dumm bin ich nicht.

Hast du einen festen Freund, Lisa? Nein, Anika, hab ich nicht. Oder siehst du einen? Brauch auch keinen. Ihre Schwester lief ums Haus herum und sah im Schuppen nach. Nein, Lisa, da ist keiner, schade für dich. Ich hab die Tür zum Schuppen offen gelassen. Falls einer reinwill.

Sie warf einen Topflappen, einen schmutzigen, nach ihrer Schwester, ohne ihr böse zu sein. Einerseits wollten alle, dass sie sich nicht zu früh festlegte, sich ihren Weg nicht verbaute, wie Mama Elisabeth sagte, und womöglich ein Kind bekam. Andererseits machte ihnen die Selbstständigkeit ihrer Tochter Angst. Werd du nur nicht hochmütig. Wir sind einfache Leute. Auf einen reichen Prinzen kannst du lange warten. Ein Prinz, Mama? Wo lebst du? Eher gehe ich ins Kloster!

Als Achtzehnjährige wollte sie die Zeit still stehen lassen, einen Sommer lang. Sonntags am Mittagstisch gab sie bekannt, dass sie sich im Juli einen Ferienjob als Büroaushilfe oder in einer Boutique suchen und danach vier Wochen unterwegs sein werde. Mit dem Zug, Interrail, und mit Inger. Nach Griechenland. Ja, nur sie beide allein. Man zwang sie nicht, auf ihre Volljährigkeit zu pochen. Santorin und Kreta, sagte sie, das sei nichts Gefährliches, nicht mal für allein reisende junge Frauen. Sie gab sich Mühe, die Route bis ins Detail zu erklären, aus Nettigkeit, um ihren Eltern die Sorge zu nehmen.

Wenn sie an Griechenland dachte, sah sie Aussteiger vor sich. Vom Süden Kretas las sie, von den Höhlen in Matala, von den Zivilisationsgegnern, die sich dort früher eingerichtet hatten, Menschen ohne Karriereziele. Als Inger und sie am Strand von Matala anlangten, spürten sie davon nichts mehr. War Joni Mitchell nicht auch hier gewesen? Übrig gebliebene Althippies hockten im Sand, verdienten sich mit Aushilfsjobs ein paar Drachmen fürs Nötigste, rauchten Hasch und bedachten die Rucksacktouristen mit einem müden Lächeln. Auch Lisa und Inger, mit ihren Gestellen, die sie im Zug – über fünfzig Stunden lang – und auf den Fähren mit sich herumgeschleppten. Ein Trampergestell musste es sein, um echt zu wirken, ein Gestell, das auf der Fähre als Kopfstütze diente. Schafskäse, Gurken, Tomaten und Rotwein, damit bestritten sie die Wochen, die Reiseschecks im ledernen Brustbeutel verstaut, der sich vom Schweiß allmählich dunkel färbte.

Immerhin ließen sie einen in Ruhe, nachdem ihre Versuche, den Mädchen einen nächtlichen Höhlenaufenthalt schmackhaft zu machen, fehlgeschlagen waren. Sie hatte gefaucht, die englischen Schimpfwörter, die sie kannte, lautstark eingesetzt. Inger war ihr dankbar, wäre trotzdem um ein Haar abgereist.

Später, am Strand von Chania, trat sie in einen Seeigel. Sie suchte einen Dorfarzt auf, der keine Fremdsprachen verstand, ihr ein Antibiotikum verschrieb. Zwei Tage und Nächte blieb sie schwitzend in ihrer Unterkunft, einem weißen Haus mit blauen Fensterläden, verschanzte sich auf der Toilette und hoffte, dass sich die Seeigelstacheln bald aus ihrem Fuß lösten.

Die Wunde verheilte endlich, Inger war erleichterter als sie, und nach ein, zwei Tagen fühlte sie, wie die wirren Gedanken aus ihren morgendlichen Wachträumen verschwanden. Alles verblasste so angenehm, versank in wohligem Nebel. Sie blieb lange im Bett, schlug das dünne Laken um ihren nackten Körper, bis Inger von ihren Altstadtgängen zurückkehrte, einen Kaffee, ein Weißbrot mit Feigenmarmelade mitbrachte. Und davon erzählte, wer sie auf dem Markt angesprochen habe und wem sie in letzter Minute entkommen sei. Irgendwann, Inger, sagte sie, musst du stehen bleiben. Oder willst du vor allem davonrennen?

Ans Meer gehen, aufs Meer sehen, sich eincremen, ein Glas Wein trinken und keinmal auf die Uhr schauen. Zwei Ansichtskarten schickte sie nach Hause, mit wenig Text. Inger suchte alle paar Tage nach einer Telefonzelle, um ihre Eltern anzurufen. Lisa dachte nicht daran, solchen Aufwand zu betreiben. Kaufte einem Straßenhändler zwei Fleischspieße ab oder setzte sich in ein Café, wo alte Männer Holzkettchen durch ihre Finger gleiten ließen und diese junge schwarzhaarige Deutsche aus den Augenwinkeln musterten. Einen blaugrünen, furchtbar kitschigen Nixenkörper, um den sich Algen und anderes Gestrüpp rankten, und eine dieser Ketten mit dunkelblauen, an einem braunen Lederband aufgereihten Perlen erstand sie am letzten Tag ihrer Reise. Niemals hätte sie sich davon getrennt.

Als wär das Leben so

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