Читать книгу Als wär das Leben so - Rainer Moritz - Страница 11

7

Оглавление

Ganz einfach sei es ja mit ihr nicht immer gewesen, aber sie habe ihre Ausbildung mit Bestnote abgeschlossen und werde als engagierte Kraft geschätzt. Als Zwanzigjährige saß sie auf ihrem Stuhl, ohne die Rückenlehne zu berühren, während der Seniorchef weit ausholte. Frauen wie sie könne der Buchhandel gut gebrauchen, Frauen, die Einsatz zeigten und Überstunden machten, wenn Not am Mann sei. Kurzum, man würde sie gern fest anstellen, in einer Vorortfiliale, wo sie in ein paar Jahren zur stellvertretenden Leiterin aufsteigen könne.

Sie nickte, bedankte sich mit zwei Sätzen und erklärte, dass sie nicht wisse, was sie in nächster Zeit tun wolle. Wenn es möglich sei, werde sie über das Angebot nachdenken und sich melden. Der Seniorchef beugte sich vor, als ob er sie nicht verstanden hätte, und schüttelte den Kopf. Lange könne man ihr die Stelle aber nicht frei halten. Andere würden sich darum reißen.

Sie verabschiedete sich, ging nach Hause, um Quiche Lorraine zu backen, für die kleine Feier mit den Kolleginnen. Immerhin war sie nun quasi diplomierte Buchhändlerin. Ihren Eltern gegenüber erwähnte sie das Gespräch mit dem Chef nicht, sie wusste, wie Mama Elisabeth reagieren würde. Ein solches Angebot ausschlagen! Bist du verrückt?

Sie fuhr übers Wochenende an die Schlei, schlief wie immer in ihrem Mädchenzimmer, neben ihrem ältesten Kuscheltier, einer ramponierten schwarz-weiß gefleckten Kuh, und vertrödelte die Tage. Sie legte sich in den Liegestuhl, las Romane von Dorothy Sayers, pflückte Äpfel und half Mama Elisabeth beim Marmeladekochen. Ein säuerlicher Geruch, der sie zehn Jahre jünger machte.

Wie früher ging sie abends hinunter ans Ufer, setzte sich irgendwohin und ließ Kiesel übers Wasser flitzen. Ein Kanufahrer winkte ihr zu, sonst war niemand zu sehen. Ob es ihr gut gehe, fragte sie sich selbst, ein Verhör, das sie nur alle paar Monate führte, um sich Klarheit zu verschaffen, worüber auch immer. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die ständig ihr Inneres befragten. Sie wollte leben für den Augenblick und diesen Augenblick nicht zerreden.

Bald würde sie die Schlei vielleicht ganz verlassen. Sie verabredete sich mit Inger, die inzwischen mit Bauer Redeckers Sohn zusammen war, und Katrin, die vor drei Jahren mit ihren Eltern ins Dorf gezogen war. Katrin, die Großstädterin aus Hannover, die sich schwertat, Eckernförde oder Schleswig als Alternativen in Betracht zu ziehen.

In der Buchhandlung arbeiten oder in einer anderen, das lief ihr nicht davon. Sie schreckte davor zurück, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben, und sie würde keinen unterschreiben, fürs Erste. Das klang so, als wäre sie eine Erwachsene mit Perspektiven.

Sie nahm den Shell Atlas aus dem Regal und fuhr mit dem Zeigefinger nach Holland, England, Frankreich, Spanien und Portugal. Eine Rundfahrt, vier Wochen mindestens, im Auto. Mit der ängstlichen Inger, sie hatten gemeinsame Reiseerfahrungen und kamen gut miteinander klar. Wenn die es schaffen würde, sich eine Weile von ihrem Jungbauern zu trennen. Und vielleicht mit der undurchschaubaren Katrin, die Jura studieren wollte und einen VW Polo besaß, ein lindgrünes Gefährt mit ersten Rostflecken.

Männer kamen als Mitreisende nicht infrage. Sie war in Hamburg mit dem einen oder anderen ins Bett gegangen, einmal sogar mit einem Kunden, einem Krankenpfleger, Ende zwanzig, der sie vor dem Laden abgepasst und zu einem Alsterwasser eingeladen hatte. Zu wissen brauchte das niemand. Von Dauer war nichts gewesen, und sie trauerte keinem nach.

Mitte Juni brachen sie auf. Katrin hatte für den Herbst einen Studienplatz in Berlin bekommen, Inger würde eine Ausbildung als kaufmännische Angestellte beginnen, in einer Rendsburger Firma für Kälte- und Klimatechnik. Ein Onkel hatte den Kontakt hergestellt. Interessiert dich das denn?, fragte Lisa. Inger zuckte mit den Achseln. Sie freue sich auf die Frankreich-Tour, alles andere sei ihr im Moment egal. Fünftausend Kilometer würden sie mindestens zurücklegen, das frisch gewartete Auto würde die Strecke meistern. Lisa saß im Fond des vollgepackten Wagens, als sie losfuhren. Sie winkte Mama Elisabeth zu, die es sich nicht nehmen ließ, sie am Straßenrand zu verabschieden. Gleich nach der ersten Kurve schalteten sie den Kassettenrekorder ein und sangen mit. Inger und Katrin würden sich am Steuer abwechseln.

Viereinhalb Wochen waren sie unterwegs. Mal übernachteten sie im Zelt, mal in einer Jugendherberge, mal in schäbigen Hotels. Sie fuhren über die Schweiz nach Frankreich, saßen an der Fontäne des Genfer Sees, kauften in Grasse kleine Flakons mit fremdartigen Parfums, schafften es bis an die Côte d’Azur, weil sie unbedingt Station in Monaco, im Fürstentum, machen wollten, besuchten den Jardin Exotique, übernachteten auf dem Dach der Jugendherberge in Nizza, deren Toiletten sie mieden, blieben am Mittelmeer, in Cannes und St. Tropez, das sie enttäuschte, sonnten sich in abgelegenen Buchten, aßen Baguette, Oliven und Tomaten, besuchten in der Provence, was alle besuchten, und blieben endlich für ein paar Tage in Valras-Plage, nicht weit von Béziers entfernt.

Katrin machte Strandspaziergänge, unterhielt sich mit jedem, verschwand für Stunden und kehrte ausgelassen zurück, mit Knutschflecken am Hals, die niemand kommentierte. Inger blieb meist in der Nähe der Unterkunft, schrieb Ansichtskarten an ihre Verwandtschaft und achtete ängstlich auf ihre Sachen. Lisa war am Strand, breitete nah am Wasser ihr Badetuch aus, verbrachte die Zeit damit, zu lesen und sich der Sonne entgegenzurecken.

Die Zeit verging langsamer als zu Hause. Sie ließ den fast weißen Sand durch ihre Finger rieseln und warf sich in die Wellen, sobald die sich wie richtige Wellen benahmen. Sich in die Brandung stürzen, mit einem Aufschrei, die Augen schließen, sich von den Beinen reißen lassen und torkelnd auf die nächste Welle warten. Aufs Meer hinausschauen, nicht zurück an den Strand, wo Inger, vermutlich am Boden kauernd, darauf hoffte, dass sie nicht weiter hinausschwimmen würde.

Erst nach einer halben Stunde kam sie heraus, zögernd, innehaltend, unsicher, ob sie das Glück zur Genüge ausgekostet hätte. Sie legte sich, nass, wie sie war, auf ihr Badetuch. Keine Mama Elisabeth, die ihr riet, den Badeanzug zu wechseln, um keine Blasenentzündung zu riskieren. Die Tropfen verdunsteten auf ihrer Haut, das Salz verkrustete auf ihren Beinen. Sie rief nach Inger und Katrin. Ob es nicht an der Zeit wäre für einen Aperitif in der Strandbar, deren Betreiber sie bereits als Stammkundinnen betrachtete.

Katrin und sie streckten sich im Bikini auf den wackligen weißen Plastikstühlen aus, Inger hatte sich ein Frotteecape übergeworfen. Sie bestellten einen Martini oder einen Pastis, der ihnen nicht schmeckte, manchmal einen Muscat de Frontignan, dessen Süße durch die Eiswürfel erträglich wurde. Sie verständigten sich mit Händen und Füßen. Katrin sprach am besten Französisch und kam dennoch mit dem Akzent der Einheimischen schlecht zurecht. Sie aßen Salat, das dunkelgelbe Olivenöl rann über die Gurkenscheiben und die gegrillten Sardinen, die so salzig waren, dass sie die zweite Karaffe Weißwein bestellten. Danach gingen sie in die Diskotheken an der Promenade. Sie verloren sich auf der Tanzfläche nicht aus den Augen, tanzten miteinander, ließen sich von den Dorfjungs einen Drink ausgeben, ja sogar ungeschickt in die Arme nehmen und küssen.

Mehr nicht, das hatten sie vor der Reise ausgemacht, keine Jungs im Zelt oder auf dem Zimmer. Sie fühlte nachts im Bett, wie es in ihrem Kopf vibrierte, wie sich ein vager Schwindel ankündigte. Die Hitze des Tages breitete sich in ihrem Körper aus. Wenn sie sicher war, dass Katrin und Inger schliefen, begann sie sich zu streicheln, ihre Haut, deren Glühen erst nachließ, als sie in das längliche Kissen biss.

Sie ließen Valras-Plage zurück, versprachen sich in die Hand, im nächsten Jahr wiederzukommen. Und im Jahr darauf. Was sie nicht taten. Als Einundzwanzigjährige wollte sie sich nicht vorstellen, dass dieses Sommergefühl je verginge. Als Einunddreißigjährige und Einundvierzigjährige schickte sie Katrin und Inger im Juni irgendwelche Postkarten, die das Mittelmeer zeigten, versehen mit einem Erinnert-Ihr-Euch?-Gruß. Die beiden antworteten einsilbig, und sie merkte, dass nur sie es war, die die Woche in Valras-Plage nicht vergessen hatte.

Andorra, Andorra! Da müssen wir hin!, rief Inger aus, und so fuhren sie los, über Narbonne und Carcassonne, wo sie die Burganlage durchquerten, auf dem Pont Vieux Fotos machten, eine Dose Noix de Carcassonne kauften, die sie in der Mittagssonne am Fluss aßen, und flohen nach kurzer Zeit vor den Touristenhorden.

Die Landstraße schlängelte sich die Pyrenäen hinauf, Inger kam ins Schwitzen, sobald ihnen ein größerer Wagen entgegenkam, und Katrin erzählte, dass man in der Hauptstadt, in Andorra la Vella, Schallplatten und Spirituosen ungeheuer preiswert einkaufen könne, was mit irgendwelchen Steuervergünstigungen zu tun habe. Mit Mühe fanden sie einen Parkplatz, die Menschen schoben sich von Geschäft zu Geschäft. Sie kaufte für Mama Elisabeth und Papa Karl einen spanischen Weinbrand als Mitbringsel und für sich eine Langspielplatte, Bye, bye, Miss American Pie … das Lied, das auf Klassenfeten zu später Stunde gespielt worden war, acht Minuten Stehblues. Es gab nur einen Jungen, mit dem sie dazu eng umschlungen getanzt hatte. Ein Junge, über den sie nie sprach. Ein Junge, der nicht mehr lebte, auf dem Fahrrad von einem Sattelschlepper überrollt worden war.

Nach viereinhalb Wochen kamen sie zurück, abgebrannt, erschöpft und zufrieden. Katrin hupte mehrmals, als sie auf der Wiese vor Lisas Elternhaus den Motor abwürgte. Zum ersten Mal auf der ganzen Fahrt. Sie nahm Inger und Katrin in den Arm und glaubte, sich besser zu kennen als zuvor. Was man mag und was man nicht mag, das macht den Menschen aus, macht ihn unverwechselbar, dachte sie und freute sich auf das Kommende.

Als wär das Leben so

Подняться наверх