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1. Der Unfall.
ОглавлениеDer Abschied von einer langen und wichtigen Arbeit ist immer mehr traurig als erfreulich.
Friedrich von Schiller (1759–1805) Deutscher Dichter, Philosoph, Historiker
Der Wagen von Marc Bennet fuhr ruhig wie ein Uhrwerk und schnurrte wie ein Tiger, wenn er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. Die Tachonadel kletterte auf gute 240 Sachen. Trotzdem waren kaum Fahrgeräusche im Inneren des Wagens zu hören. Die Lautstärke des Radios hingegen lief auf Maximum. Den neuen Hit von P!nk musste man auch laut hören.
Nur so konnte man abschalten, sagte er sich. Nur so vergaß man alles um sich herum.
Und das wollte Marc Bennet. Es hatte Ärger in der Bank gegeben. Im Vorstand traf man seiner Meinung nach falsche Entscheidungen, die er in seiner Abteilung und gegen seinen Willen umsetzen musste. Das war zwar schon des Öfteren in der Vergangenheit der Fall gewesen, aber die Forderungen der Geschäftsleitung nach ansteigenden Profiten wurden immer massiver. Gewinne standen nicht seit heute auf der Agenda der Banken, jedoch so übervorteilt wie in den letzten Jahren, wurde der Kunde König bei kaum einem anderen Dienstleistungsanbieter.
Insbesondere taten Bennet die Bankkunden leid, die ihre mühsam ersparten Groschen auf Anraten der Sachbearbeiter in Risiko geschäfte und langfristige Immobilien- oder Schiffsanleihen steckten. Mit solchen Anleihen machte die Bank immer ein gutes Geschäft.
Und dann war da die Frage seines Freundes, die ihn wie ein Hammerschlag traf.
Die Autobahn war zu dieser nächtlichen Stunde relativ frei und so konnte er diese hohe Geschwindigkeit fahren. Kontrollen gab es so spät sowieso keine. Die Nachtbesetzung der Autobahnpolizei war dafür personell nicht ausgerüstet.
Marc Bennet fuhr gerne schnell, war aber ein sicherer Fahrer und vermied jedes Risiko.
Er hatte sich nach dem Meeting in der Frankfurter Bank noch mit einem Kollegen zu einem Glas Bier in einer kleinen Gaststätte auf der »Freßgass«, nahe der alten Oper getroffen, was in Insiderkreisen über die Grenzen Frankfurts hinaus als angesagtes Lokal galt.
Von seinem Kollegen erfuhr er von Gerüchten über Unregelmäßigkeiten bei Überweisungstransaktionen seiner Abteilung. Genaues war jedoch nicht bekannt und so konnte der Kollege auch nur Andeutungen machen und keine detaillierten Informationen geben.
Bennet wusste aber, gab es erst einmal ein Gerücht, war dies nur schwer zu entkräften und seinem weiteren Karriereweg in dieser Bank hinderlich. Er musste herausfinden, was an dem Gerede dran war. Und es war Eile geboten, denn wackelte der Stuhl erst mal, dann konnte er auch ganz schnell kippen. Dafür würden dann schon liebe Kollegen sorgen, die in den Startlöchern scharren und auf Ablösung drängen würden.
Sie aßen eine Kleinigkeit im Lokal und tauschten dabei Erfahrungen, das Bankwesen im Allgemeinen betreffend, aus.
Klaus Kollmann war, wie Bennet auch, Leiter der Auslandsdevisenabteilung. Bennet für den Bereich Kundenbetreuung Hessen Nord und Kollmann für Hessen Süd. So tauschten sie sich oft aus und hielten sich, banktechnisch gesehen, auf dem Laufenden. Scherzhaft verglichen sie sich selbst und ihre Tätigkeit mit Aldi Nord und Aldi Süd.
Bennet arbeitete nun schon 21 Jahre bei der deutschen Wertbank in Frankfurt und Kollmann ebenfalls schon stattliche 18 Jahre.
Es entstand im Laufe der letzten zehn Jahre eine Freundschaft zwischen ihnen und sie unternahmen mit ihren Frauen Ausflüge und fuhren auch schon mal zusammen in den Urlaub, wobei die Reisen, durch die eigene Bank organisiert, sie ins europäische Ausland sowie nach Amerika und Afrika gebracht hatten. Beide Paare waren kinderlos. Ihre Interessen aber waren gleichen Ursprungs und drehten sich um Geld, Arbeit, Urlaub und Hobby.
Kollmann hatte eine sehr persönliche Frage auf den Lippen und man sah ihm an, dass er mit sich kämpfte.
Bennet schaute ihm in die Augen und sagte: »He, was ist? Was hast du? Irgendetwas willst du doch wissen. Was? Sag schon!«
»Es geht mich ja nichts an … aber als wir das letzte Mal bei Euch waren …«
»Ja, wir haben im Garten gegrillt. Was war da?«
»Ist mit dir und deiner Frau alles in Ordnung?«
»Ja. Natürlich. Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Maria sagte mir auf der Heimfahrt von euch, dass sie ein komisches Gefühl hätte, als ob deine Frau einen anderen hätte. Sie hätte sich so seltsam benommen.«
Marc Bennet war sprachlos. Erst nach langen Sekunden, in denen sein Freund ein sehr schlechtes Gewissen hatte, sagte er: »Nein. Hat sie bestimmt nicht. Das wäre mir aufgefallen. Das würde ich doch bemerken!«
Kollmann nickte und schaute in sein Bierglas. Er dachte, dass dies wohl eher Frauen bemerken würden. Männer hatten wohl für solche Signale keine allzu große Sensibilität. Das wollte er Bennet aber jetzt nicht sagen.
»Und sonst ist alles zwischen euch in Ordnung?«
»Wenn du unser Liebesleben meinst? Ja. Ist ok. Na ja, es ist nicht mehr so wie früher. Der Alltag eben. Auch nicht mehr so oft. Die vielen Überstunden in der Bank. Da bist du abends schon k.o.«
»Wie oft ist denn bei euch oft?«
»He, wie oft macht ihr es denn noch?«
»Dreimal oder viermal die Woche schon. Und ihr?«
»Puh, was für eine Frage.«
»Schon gut. Du musst mir nicht antworten. Es war auch blöd, dich darauf anzusprechen. Maria sieht bestimmt Gespenster.«
»Ja, sicher. Sag ihr, es ist alles in Ordnung. Jetzt ruf ich mal zu Hause an und werde Sabrina bitten, eine Flasche Sekt kalt zu stellen. Dreimal die Woche muss doch aufzuholen sein.«
Sie lachten und bestellten ein letztes Bier.
Bennet wählte die Festnetznummer zuhause und ließ es klingeln.
Sabrina ging nicht ans Telefon. Marc nahm an, dass sie schon schlief und dachte: Mist, das wird wieder nichts heute Nacht. Dass sie nicht zu Hause war, ahnte er nicht, obwohl der Stachel des Zweifels, den sein Kollege gesetzt hatte, schon sehr stach. Konnte das sein? Hatte Sabrina eine Affäre? Sah er Gespenster?
Bennet lenkte sich ab, indem er der jungen Bedienung hinterher schaute. Kurzer Rock und super Beine machten ihn schon immer an. Da spielte es keine Rolle, ob sie in der Bank arbeitete oder als Bedienung. Marc Bennet legte in solchen Momenten kein großes Gewicht auf Intelligenz. Er brachte aber mangelnde Intelligenz nicht unbedingt mit dem Beruf einer Kellnerin in Verbindung. Die Vorstellungskraft, im Bett eine nicht so intelligente Partnerin zu haben, half ihm über kleine Unsicherheiten hinweg. Das hatte er wohl gemeinsam mit Millionen anderen Männern.
Die Bedienung hatte allerhand zu tun und konnte seine Blicke nicht erwidern, obwohl sie die beiden schon bemerkt hatte.
Klaus Kollmann zahlte und verabschiedete sich von seinem Freund, dessen Gedanken von einer eventuellen Untreue seiner Frau nun doch nicht loskamen.
Konnte das wirklich sein?
Je mehr er darüber nachdachte, umso mehr räumte er die Möglichkeit ein.
Aber mit wem sollte sie ihn betrügen? Und war es eine flüchtige, oder eine tiefergehende Beziehung? Eine Affäre?
Wenn es überhaupt so war! Hatten sie sich schon auseinandergelebt?
Jetzt, wo sein Freund ihn darauf angesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass sie schon seit Monaten keinen Sex mehr hatten. Das war der Grund, warum er jedem Rockzipfel hinterher schaute. Intelligent oder nicht. Das wollte er aber gar nicht. Doch jedes Mal, wenn er seiner Frau näher kam, hatte sie eine andere Ausrede. Kopfschmerzen, Müdigkeit, zu viel zu tun, am Morgen früh aufstehen und viele andere Gründe wurden da vorgeschoben.
Die Stimmung wurde in den letzten Monaten immer schlechter. War sie früher ein lustiger Mensch, immer zu Scherzen aufgelegt, so hatte sie in letzter Zeit kaum gelacht.
Marc Bennet gab sich keine Schuld an dieser Situation. Er arbeitete bis spät in die Nacht. Er wollte ihr etwas bieten und machte das auch mit kleinen Geschenken deutlich.
Aber was hatte sie dann? Sie war nicht der Typ, der fremdging nur um des Sexes willen. Sie hatte nie große Ansprüche an ihr Sexualleben gestellt.
Er musste mit ihr reden. Er würde sie einfach fragen, ob sie ein Verhältnis hätte. Und was dann? Was wäre, wenn sie mit Ja antworten würde? Müssten sie sich dann trennen? Was würde das finanziell bedeuten? Wer würde aus der Wohnung ausziehen? Oje, was kommt da auf mich zu?
Weitere tausend Fragen zuckten in seinem Gehirn herum. Auf keine Einzige fand er eine Antwort.
Er sollte jetzt erst einmal nach Hause fahren und seine Fragen ruhen lassen.
Er hörte die Musik. Er fuhr schnell. Er versuchte, die Fragen in seinem Kopf zu unterdrücken.
Er achtete einfach nicht mehr auf sie. Und er achtete auch nicht auf die Autos hinter ihm. Es gab auch nur für kurze Zeit hinter ihm ein Auto, wenn er es überholt hatte.
Bis auf den schwarzen Chrysler 300 C, der ihn schon seit Frankfurt verfolgte und der nun bis auf wenige Meter an ihn herangekommen war.
In einer leichten Linkskurve fuhr die 218 PS starke Limousine hinten links in die Seite des Mercedes von Marc Bennet. Er hatte den Zusammenstoß nicht kommen sehen. Bennet war so sehr abgelenkt, dass er nicht einmal bemerkte, dass er gar nicht mehr fuhr, sondern flog. Besser gesagt, sein Auto flog. Es streifte die Leitplanke, wurde vorne angehoben und schoss über die Leitplanke hinaus. Beim Aufprall überschlug er sich mehrere Male und blieb 50 Meter weiter unterhalb der Autobahn an einer kleinen Böschung auf der Wiese liegen.
Der Chrysler gab Gas und verschwand noch, ehe Bennets Wagen kopfüber mit dem Dach auf dem Boden zum Liegen kam.
Der Unfall wurde nicht bemerkt, da die nachfolgenden Fahrzeuge erst viel später die Unfallstelle passierten und man in der Dunkelheit nichts Auffälliges erkennen konnte. Selbst die Leitplanke war nur unwesentlich stark nach hinten gebogen.
Marc Bennet war angeschnallt und alle vier Airbags reagierten beim Aufprall sofort, trotzdem schlug sein Kopf an das Seitenfenster an. Er hing kopfüber im Sicherheitsgurt und fiel nach kurzer Zeit in eine tiefe Ohnmacht, aus der er nicht so schnell erwachen sollte.
Erst am nächsten Morgen fand ihn ein Bauer, der sehr früh mit seinem Traktor auf dem Feld unterwegs war. Da er kein Handy dabei hatte, was er auch nicht konnte, weil er überhaupt keines besaß, fuhr er wieder ins Dorf zurück und rief von der Tankstelle aus die Polizei an.
Nach weiteren zwei Stunden war Marc Bennet geborgen und wurde mit einem Rettungshubschrauber ins Klinikum nach Frankfurt geflogen.
Seitdem liegt er auf der Intensivstation im Wachkoma.