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2. In der Klinik.

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Ich schätze seine völlige Abwesenheit sehr.

William Shakespeare (1564–1616) Englischer Dramatiker

Es war dunkel und Bennet nahm an, gerade in seinem Bett in einem Hotel nach durchzechter Nacht aufzuwachen. Sein Kopf brummte und er glaubte, das käme vom Alkohol. Er konnte sich jedoch nicht an ein Saufgelage erinnern.

Er führte Selbstgespräche. Er sprach laut und deutlich. Doch hören konnte ihn keiner.

»Noch einen Moment ausruhen. Wo bin ich hier überhaupt? Mann, ich muss wohl alles an Schnaps getrunken haben, was da war. Wo war die Feier eigentlich? Kann mich nicht erinnern. Hallo, ist da wer?«

Die Fragen blieben unbeantwortet. Er war allein im Zimmer. Durch das Fenster schien etwas Licht in den Raum.

Marc Bennet wollte den Kopf drehen, um nachzusehen, in welchem Raum er sich befand. Dies aber gelang ihm nicht. Nicht einmal seine Augen konnte er bewegen. Seine Hände und Beine gehorchten ihm auch nicht, obwohl sein Gehirn ständig Befehle an alle Extremitäten sandte, sich bemerkbar zu machen.

Panik kam in ihm auf. Was war hier los? Warum konnte er sich nicht bewegen?

Dann ging die Tür auf und das Licht wurde eingeschaltet. An seinem Fußende ging eine Frau in weißer Kleidung vorbei und zog den Vorhang vom Fenster weg.

Bennet sprach mit ihr: »He, wo bin ich hier? Wer sind Sie?«

Sie beachtete ihn aber nicht. Dann kam eine ältere Frau, ebenfalls in Weiß gekleidet in den Raum. Sie tadelte ihre junge Kollegin.

»Du sollst doch mit den Patienten sprechen, wenn du ins Zimmer kommst!«

»Wozu? Er kann mich doch sowieso nicht hören.«

»Man weiß es aber doch nicht so genau. Vielleicht können Komapatienten doch etwas hören. Musik soll da wahre Wunder bewirken, sagt der Arzt.«

»Soll ich jetzt singen, oder was?«

Die ältere Krankenpflegerin schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, trat an das Bettende und sah Bennet an. »Guten Morgen, Herr Bennet. Haben Sie gut geschlafen? Ach so, Sie schlafen ja ständig. Na ja, dann wollen wir Sie mal im Schlaf frisch machen.«

Mit diesen Worten schlug sie die Bettdecke zurück.

Bennet protestierte.

»Nein. Nicht! Lassen Sie das!«

Doch die beiden kannten kein Erbarmen und so wurde ihm sein Krankenhausnachthemd über den Kopf gezogen.

»He! Nein. Nicht! Ich bin ja nackt. Gehen Sie raus. Was machen Sie mit mir?«

Er bekam eine Gesichtswaschung und die beiden Frauen arbeiteten sich mit dem Waschlappen weiter nach unten, was Bennet zu neuen Gefühlswallungen aufrief.

»Nicht da! Weg mit den kalten Händen. Oh. Wie peinlich. Nein, lassen Sie das gefälligst sein!«

»Jetzt ist er schon vier Wochen hier und immer noch ist keine Besserung in Sicht.«

»Ja, so ein Wachkoma kann lange dauern. Bei einer Tante meiner Schwägerin hat es drei Jahre gedauert, dann erst ist sie aufgewacht. Und dann war sie ganz deppert. Kein vernünftiges Wort hat sie danach herausgebracht.«

»Hoffentlich geht es bei ihm etwas schneller, das Aufwachen meine ich. Ist ja ein süßer Kerl. Könnte ihn gerade ein bisschen knuddeln. So, jetzt müssen wir den kleinen Pipimann und den knackigen Po auch noch waschen, dann sind wir auch schon fertig.«

»Was! Was? Nimm bloß die Hände weg. Nein, fort. Oh, ist das peinlich. Oh, warte. Ich pinkle dir die Hände voll, du Drachen. Willst du ihn wohl loslassen?!«

Es nützte Bennet nichts, sie wuschen ihn am ganzen Körper. Sie drehten ihn auf die Seite. Die jüngere Krankenschwester stützte Bennet. Dabei lag sein Gesicht weich gepolstert auf ihrem Busen, was ihm dann doch recht angenehm erschien.

»Ja, so bleib stehen. Das ist schön weich. Du solltest mir deine Telefonnummer geben, kleine Krankenfee. He, was machst du da unten? Weg da!«

Die ältere Pflegerin packte kräftig zu und trocknete Bennets untere Gefilde ab. Sie zogen ihm ein frisches Nachthemd an und deckten ihn wieder zu. Dann ließen sie ihn wieder alleine.

Er konnte langsam wieder klar denken. Also im Wachkoma liege ich hier. Und das schon seit vier Wochen. Aber wieso? Wie bin ich hierher gekommen? Und überhaupt, was bedeutet es, im Wachkoma zu liegen? Ich muss den Arzt fragen. Ach so, das geht ja nicht. Die können mich ja nicht hören. Aber ich kann sie hören. Und das wissen sie nicht. Oh Gott, was soll ich nur tun?

Marc Bennet fand keine Antworten auf seine Fragen. So stellte er nach einiger Zeit, als er sich etwas beruhigt hatte, die Fakten dar.

Also, ich heiße Marc Bennet, bin 42 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder. Wo ist eigentlich meine Frau? Jedenfalls nicht hier. Ich liege im Krankenhaus und kann mich nicht bewegen. Und das schon seit vier Wochen. Halt! Denken und hören kann ich erst seit heute. Das konnte ich vier Wochen lang nicht? Oh Gott, Oh Gott. Was ist nur mit mir geschehen?

Dann kamen zwei Krankenschwestern ins Zimmer. Sie hängten eine neue Flasche mit einer klaren Flüssigkeit an den Metallständer neben Bennets Bett und kontrollierten Blutdruck und Puls. Dabei unterhielten sie sich über den neuen Chefarzt, der seit zwei Tagen an der Klinik tätig war.

»Hasst du ihn schon gesehen? Er sieht sehr gut aus. Ist aber, soweit ich weiß, verheiratet.«

»Na und? Erstens will ich nichts von ihm und zweitens war das noch nie ein Hinderungsgrund.«

»Was macht eigentlich deine Beziehung?«

»Was soll sie schon machen. Wenn er mal da ist, ist er müde. Ich mache das nicht länger so mit. Ich suche mir jetzt was anderes.«

»Viel Glück. Oh. Visite. Sie kommen schon. Lass uns gehen.«

Es erschien eine ganze Kompanie weißgekleideter Damen und Herren. Der neue Chefarzt stellte sich ans Bett und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in das rechte Auge von Bennet.

Der wurde unangenehm geblendet.

»Au. Mach den Scheinwerfer aus. Das tut weh. Nein, nicht auch noch das linke Auge. Au! Aua!«

Der Chefarzt fragte nach: »Also, was haben wir?«

Er wurde aufgeklärt.

»Marc Bennet, 42, Autounfall. Apallisches Syndrom ohne weitere Schädigung des Gehirns, soweit wir das bis jetzt feststellen konnten. Vermutlich ausgelöst durch langes Überkopfhängen im Sicherheitsgurt. Knochenbrüche beider Unterschenkel sowie eines Schlüsselbeins und zweier Rippen, die alle sehr gut verheilt sind aufgrund der langen Ruhezeit des Patienten. Platzwunde am Kopf, ebenso verheilt.«

»Wie lange schon komatös?«

»Vier Wochen.«

»Was wissen Sie über die Gehirnfunktion?«

Eine junge Ärztin antwortete dem Chefarzt.

»Normalerweise wird das Apallische Syndrom durch schwerste Schädigungen des Gehirns hervorgerufen. Dabei kommt es zu einem funktionellen Ausfall der gesamten Großhirnfunktion, wobei Zwischenhirn, Hirnstamm und Rückenmark unbeeinträchtigt werden. Die Betroffenen wirken wach, haben aber aller Wahrscheinlichkeit nach kein Bewusstsein.«

Der Chefarzt schaute die Ärztin von oben bis unten an und nickte. Ob er damit ihre Figur guthieß, oder ihr Wissen, war nicht erkenntlich. Ein junger Arzt aus der zweiten Reihe glaubte zu wissen, dass es um ihre Figur ging und musste, um nicht laut zu lachen, einen kleinen Hustenanfall vortäuschen. Dafür handelte er sich einen missbilligenden Blick des Chefarztes ein.

»Gut. Was bedeutet das?«

Ein männlicher Kollege beeilte sich zu antworten.

»Der Patient nimmt nichts um sich herum wahr. Es gibt keine Kommunikation mit ihm. Er kann nicht hören und nicht sprechen. Außerdem ist seine Motorik total eingeschlafen, sprich, er kann sich überhaupt nicht bewegen.«

»Was sind die Ursachen?«

»Meist eine schwere Schädigung des Gehirns, ausgelöst durch ein Schädel-Hirn-Trauma oder Sauerstoffmangel als Folge eines Kreislaufstillstandes. Es können aber auch weiterhin Schlaganfälle, Meningitis oder Hirntumoren …«

»Ja. Schon gut. Das trifft auf unseren Patienten nicht zu. Also, was haben wir hier de facto?«

Die junge Ärztin war wieder einmal schneller.

»Einen Patienten, der im Koma liegt, aber keine ersichtlichen Hirnschädigungen aufweist, nicht künstlich beatmet werden muss und sonst auch einen gesunden Eindruck macht.«

»Exakt. Eine Seltenheit bei den 10.000 Komapatienten, die wir zurzeit in Deutschland haben. Wie ist die Versorgung bisher?«

»Nach MRT (Magnetresonanztomographie) und EEG (Elektroenzephalogramm) haben wir es nicht für notwendig gefunden, eine Ernährungssonde zu legen. Lediglich eine Urinableitung wurde bis gestern angelegt. Nach vollständiger Verheilung der Knochenbrüche haben wir vor einer Woche damit begonnen, therapeutische Übungen zu absolvieren. Ebenso konnten wir eine leichte Besserung der Schluckfunktion feststellen. Mit einer Musiktherapie sollte nächste Woche begonnen werden.«

»Ja, gut so weit. Machen Sie das. Wie lange hat es gedauert, bis der Patient eingeliefert wurde?«

»Man hat ihn erst am Morgen gefunden. Der Unfall geschah schon abends.«

»Also doch noch unter 24 Stunden. Das erhöht die Chancen auf über 50 %. Kann eine weitere Versorgung im Familienkreis geschehen?«

»Seine Frau hat ihn schon mehrmals besucht. Ich glaube aber nicht, dass sie ihn pflegen kann. Und es war auch noch die Polizei da. Wahrscheinlich wegen des Unfalls. Er kann allerdings auch irgendetwas angestellt haben.«

»Gut. Ist nicht unsere Sache. Noch Fragen?«

Diese Frage war nicht ernst gemeint und der Chefarzt erwartete auch keine weiteren Fragen. Er drehte sich um und war im Begriff, das Krankenzimmer zu verlassen.

Eine angehende Ärztin traute sich noch im letzten Moment, eine Frage zu stellen.

»Können wir nicht doch irgendwie mit dem Patienten kommunizieren?«

Der Chefarzt blieb stehen und ging auf ihre Frage ein.

»Wie viele Patienten haben wir hier? Wie viele Ärzte und Pflegepersonal haben wir? Welche Zeit ist notwendig, die für jeden Patienten erbracht werden müsste, um eine bessere Genesung zu erzielen?«

Wiederum wollte der Chefarzt gehen, aber die junge Frau war eine »harte Nuss« und ließ nicht locker. »US-Forscher haben erst kürzlich Hirnströme von Menschen hörbar gemacht. Sie analysierten die Aktivität des Gehirns in einer bestimmten Region, während die Studienteilnehmer Stimmen lauschten. Die Daten wurden in ein Computermodell eingespeist. Dann hat man den Computer mit neuen Hirnstromdaten gefüttert, so konnte man ansatzweise Wörter rekonstruieren, welche die Probanten gehört hatten. Können wir hier nicht auch so was machen?«

Der Chefarzt war beeindruckt. Seine Gedanken drehten sich um die Frage, wie er es anstellen konnte, die junge Frau zum Essen einzuladen, ohne dass dies einer bemerkte. Erst einmal brauchte er ihren Namen. Das ging direkt.

»Ihr Name ist?«

Als sie ihn errötend sagte, gab er sich weltmännisch.

»Also Frau Hingsen, Sie haben die Zeitung gut studiert.

Auch ich habe den Artikel gelesen. Für die anderen zur Erkenntnis: Ein Team aus Hirnchirurgen und Neurowissenschaftlern von der Universität Berkeley in Kalifornien hofft, dass man in Zukunft einmal gedachte Wörter oder Sätze analysieren kann. Somit will man den Patienten helfen, die beispielsweise nach einem schweren Schlaganfall nicht mehr sprechen können. Man forscht dort schon seit Jahren. Ein nennenswerter Durchbruch ist noch nicht ersichtlich.«

Er schaute auf die Uhr.

»Um das Gespräch abzukürzen: In Deutschland fehlen für solche Forschungen einfach die Gelder. Ergebnisse aus den Forschungen der amerikanischen Kollegen können wir hier erst Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später verwerten. Wer ist der nächste Patient?«

Sie gingen aus dem Zimmer und Bennet musste das Gehörte erst einmal verkraften. Jetzt wusste er, dass er einen Verkehrsunfall hatte. Aber wie und wo? Gab es weitere Beteiligte oder Verletzte? Seine Frau hatte ihn besucht. Aber war da nicht etwas mit seiner Frau?

Warum war die Polizei da? Und was sollte er angestellt haben?

Er zermarterte sich das Hirn.

Marc Bennet, denke logisch! Du bist eigentlich kerngesund. Na gut, ein paar Knochenbrüche, die aber fast ausgeheilt sind. Dann liegst du nur noch im Koma und kannst dich nicht bewegen. Sprechen kannst du auch nicht. Aber seit heute kannst du wieder verstehen, was die Leute so reden. Also geht es doch aufwärts mit dir. Jetzt brauchst du nur noch ein Weilchen, und du kannst wieder tanzen. Ha! Was ist mit deiner Bank … wer leitet jetzt deine Abteilung? Wo bleibt denn die Bedienung hier? Ich habe Durst.

Wachkoma

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