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II. Der zweite Grundsatz (Form unbedingt; Gehalt bedingt): Nicht-Ich ≠ Ich (21 – 25/FW I, 101 – 105)

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Der zweite Grundsatz von Fichtes Grundlage geht mit seiner spezifischen Form über den ersten hinaus; er lautet: „dem Ich [ist] schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich“ (24/FW I, 104); Ich ≠ Nicht-Ich. Es wird bereits an dieser Formulierung des zweiten Grundsatzes deutlich, dass mit ihm eine fundamental neuartige Leistung des Ich vorliegt: nämlich das Entgegensetzen. Die Leistung des Setzens ist bereits im ersten Grundsatz expliziert worden, dass es aber eine Tätigkeit gibt, die vom Setzen verschieden ist und die sogar eine zum Setzen entgegengesetzte Tätigkeit ist, folgt nicht vollständig aus dem ersten Grundsatz; daher sagt der zweite Grundsatz tatsächlich etwas radikal, d.h. wurzelhaft Neuartiges aus und ist nicht bloß eine weiterführende Explikation dessen, was ohnehin schon im ersten Grundsatz gesetzt war. Deshalb ist es konsequent, wenn Fichte hinsichtlich der Tätigkeit des Entgegensetzens von einem „zweiten Grundsatz“ spricht; die dort zu bestimmende Tätigkeit ist in gewisser Hinsicht unabhängig von der Tätigkeit des ersten Grundsatzes.

Da jedoch dem Inhalt nach Entgegensetzen Setzen voraussetzt, hat der zweite Grundsatz auch bedingte Aspekte, nämlich sein Inhalt ist bedingt (vgl. 23/FW I, 103). Inhaltlich ist ein Entgegensetzen nur dann möglich, wenn ein Setzen – der Sache nach, nicht der Zeit nach – vorangegangen ist. Das Entgegensetzen ist nur relativ zu einem Setzen zu vollziehen. Deshalb ist der zweite Grundsatz nur zweiter und hat nicht dieselbe Fundamentalposition wie der erste. Es kann also nach Fichte zwei Grundsätze geben – wie sich noch zeigen wird gibt es drei –, ohne dass der Status eines Grundsatzes paradox wird. Der erste Grundsatz ist Grundsatz im vollen Sinne, nämlich als ein Satz, der absolut unbedingt durch anderes gilt; ein solcher Satz gilt kategorisch notwendig. Der zweite Grundsatz ist nur hinsichtlich seiner unbedingten Form Grundsatz im strengen Sinne unbedingter Gültigkeit, hinsichtlich seines Gehaltes ist er jedoch bedingt. Bedingt heißt hier, er gilt hypothetisch notwendig: Wenn ein Setzen erfolgt, dann kann auch ein Entgegensetzen erfolgen. – Auch der dritte Grundsatz gilt in verschiedenen Hinsichten jeweils bedingt und unbedingt, daher ist auch er hypothetisch notwendig. –

Bei der Hinführung des alltäglichen, weltbezogenen Bewusstseins zu seinen transzendentalen Vorbedingungen des zweiten Grundsatzes verfährt Fichte methodisch genau parallel zum ersten Grundsatz: Auch bei dem zweiten Grundsatz geht er von einer gewöhnlicherweise nicht sinnvoll bezweifelbaren Tatsache des Bewusstseins aus und führt diese auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit zurück. Diese zweite Tatsache ist der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. Er besagt, dass etwas nicht zugleich es selbst und nicht es selbst sein kann: ¬A ≠ A.

– Aristoteles hat den Satz bereits im 4. Buch seiner Metaphysik formuliert: „Dass nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, das ist das sicherste unter allen Prinzipien“.63 Nach Aristoteles ist der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch das Prinzip aller anderen Axiome und als solches unbegründbar, weil es der Prüfstein für alle Begründungen ist, woher auch seine Sicherheit rührt. Deutlich wird hier die Unhinterfragbarkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch. Aristoteles meint das „zugleich“ wohl nicht in einer zeitlichen, sondern eher in der sachlichen Bedeutung, nämlich dass einem Ding nicht in derselben Hinsicht Entgegengesetztes zukommen kann. Auch Leibniz64 sieht den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch – neben dem Satz vom zureichenden Grund – als Fundament rationalen Argumentierens und Denkens; nach Leibniz handelt es sich um eine ewige Wahrheit, an deren Einhaltung selbst das Denken Gottes gebunden ist. Wie bei Aristoteles ist es also auch bei Leibniz nicht bloß ein logisches, sondern gleichfalls ein ontologisches Prinzip. –

Fichte versucht aufzuzeigen, dass es durchaus möglich ist, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch noch weiter zu hinterfragen, nämlich auf seine durch die Vollzüge der Subjektivität konstituierte Handlungsebene. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist zwar auch ein Satz, aber nach Fichte ist er kein Grundsatz. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist zwar für die Logik ein fundamentaler Satz/Gesetz, er lässt sich aber auf Handlungen und Leistungen des Ich zurückführen und erst wenn diese in einem Satz fixiert werden, erhält man einen Grundsatz.

Diese Hinterfragung ist allerdings kein Beweis des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch in dem Sinne, dass die Gültigkeit von „¬A ≠ A“ aus „A = A“ logisch abgeleitet werden könnte (vgl. 22/FW I, 102). Wenn dies der Fall wäre, dann wäre der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bloß ein unselbständiger Folgesatz des Satzes der Identität; was seinen Grundlegungscharakter für die Logik aufheben würde.

Fichte verweist zunächst darauf, dass der Satz: „¬A ≠ A“ den Satz „A = A“ voraussetzt (22/FW I, 102). Dennoch kann der Satz „¬A ≠ A“ nicht in den Satz „A = A“ umgewandelt werden, ohne seine Bedeutung, die Entgegensetzung von „¬A“ zu „A“ zu verlieren. Höchstens lässt sich mit „A = A“ begründen, dass „¬A = ¬A“ ist, aber in dieser Gleichung fällt gerade die Entgegensetzung (≠) weg und es wird nur wieder die Identität gesetzt. Man hätte dann nicht einen weiteren Satz aufgewiesen, der neben dem Satz der Identität gilt, sondern nur wieder den Satz der Identität. Die Entgegensetzung im formalisierten Satz vom zu vermeidenden Widerspruch „¬A ≠ A“ kommt gerade dadurch zum Ausdruck, dass auf der einen Seite der (Un-)Gleichung etwas anderes steht als auf der anderen, nämlich einerseits ein verneintes Subjekt („¬A“) und andererseits ein gesetztes Prädikat („A“) und dass beide durch eine verneinende Kopula miteinander verbunden sind. Das negative Urteil lässt sich nicht vollständig als logische Verbindungsfunktion von Urteilsgliedern aus dem setzenden Urteil der Identität herleiten (vgl. 22/FW I, 102). Daher muss die Nichtidentität gegenüber der Identität eine selbständige logische Bedeutung haben; nämlich das Entgegensetzen, d.h. das Nichtidentifizieren.

Identität und Nichtidentität sind nicht identisch. Nichtidentität und Identität müssten in einem gemeinsamen Dritten identisch sein, wenn es möglich sein sollte, das eine aus dem anderen herzuleiten; weder kann die Identität aus der Nichtidentität noch die Nichtidentität aus der Identität hergeleitet werden. Eine solche Herleitung würde voraussetzen, dass es ein tertium comparationis beider gäbe, ein allgemeineres Drittes, in dem beide vergleichbar wären; sie sind aber prinzipiell ungleich: Die Selbigkeit/Identität von Identität und Nichtidentität verstößt nicht nur gegen den Satz der Identität, sondern auch gegen den des zu vermeidenden Widerspruchs, und damit offensichtlich auch gegen den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der im Satz vom zu vermeidenden Widerspruch impliziert ist. Etwas kann in ein und derselben Hinsicht nur entweder „A“ oder „¬A“ sein bzw. „A“ oder „¬A“ als Eigenschaft haben, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht, denn ein solches müsste sowohl „A“ als auch „¬A“ vereinen, was wiederum ein logisch kontradiktorischer Widerspruch wäre, der sich nicht sinnvoll denken lässt. Es wird deutlich, dass der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch unhintergehbar ist; es kann in dem Sinne nicht hinter ihn zurückgegangen werden, als es unmöglich ist, ihn aus dem Satz der Identität herzuleiten; daher hat der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch eine eigenständige Bedeutung: Die Form der Entgegensetzung ist nicht aus der Setzung herleitbar; obgleich die Entgegensetzung inhaltlich die Setzung voraussetzt. Denn wenn nicht vorgängig überhaupt etwas gesetzt wurde, kann diesem auch nichts entgegengesetzt werden. Das Entgegensetzen ist daher der Form nach unbedingt, d.h. hinsichtlich der Art und Weise, wie gesetzt wird, nämlich entgegen. Die Setzung, welche die Entgegensetzung auch enthält, ist allerdings bedingt, nämlich dadurch, dass überhaupt ein Setzen stattfindet; daher ist die Entgegensetzung dem Inhalt (bzw. der Materie) nach bedingt (vgl. 23/FW I, 103).

Eine Bemerkung Fichtes wirkt zunächst kryptisch: „Und so steht denn auch wirklich die Form dieses Satzes, insofern er bloßer logischer Satz ist, unter der höchsten Form, der Förmlichkeit überhaupt, der Einheit des Bewusstseins.“ (22/FW I, 102) Dies bedeutet wohl, dass der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch bzw. der Satz der Entgegensetzung „¬A ≠ A“ die Identität voraussetzt, da ja einerseits „¬A“ mit „¬A“ und andererseits „A“ mit „A“ identisch sein muss und die Identität als gedachte Selbigkeit nur unter der Voraussetzung der durchgängigen Einheit bzw. Identität des Ich möglich ist. Diese durchgängige Einheit des Bewusstseins bildet die Bedingung aller Vorstellungsinhalte, und diese in allen Vorstellungsinhalten mitpräsente Bedingung ist als Form der Vorstellungsinhalte zu bezeichnen, weshalb Fichte die „Einheit des Bewusstseins“ hier als „Förmlichkeit überhaupt“ bezeichnet. Die noetische Einheit des Bewusstseins ist die durchgängig mit sich selbst identische Vollzugsform der noematischen Identität von Vorstellungsinhalten.

– Etwas Ähnliches entwirft bereits Kant: „Die analytische Einheit des Bewusstseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an, z. B. wenn ich mir rot überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgendworan angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann“.65 Damit meint Kant, dass das durchgängig mit sich identische Selbstbewusstsein die Voraussetzung dafür ist, dass wir diskursive Begriffsallgemeinheiten bilden können, denn nur wenn es ein in den verschiedenen Vorstellungen mit sich durchgängig identisches Ich gibt, kann es auch die aus verschiedenen Vorstellungen das Gemeinsame herausabstrahierende Leistung eines Allgemeinen geben; in diesem Allgemeinen sind individuelle Unterschiede nivelliert und die wesentliche Gemeinsamkeit wird komparativ und reflektiert festgehalten. Ein solcher Durchgang durch verschiedene Vorstellungen setzt nach Kant ein durchgängig mit sich identisches Selbstbewusstsein (analytische Einheit der transzendentalen Apperzeption) voraus, weil sonst nie das Gemeinsame im Verschiedenen festgehalten werden könnte. –

Aus dem bloßen Setzen der Identität ist Entgegensetzung nicht herzuleiten (vgl. 22/FW I, 102). Ebenso ursprünglich wie ein „A“ gesetzt sein muss, muss ein diesem entgegengesetztes „¬A“ gesetzt sein. Der Akt des Entgegensetzens ist selbst dem Akt des Setzens entgegengesetzt, er ist nämlich dessen Gegenteil; was wiederum zeigt, dass der Entgegensetzungsakt nicht aus dem Setzungsakt abgeleitet werden kann.

Für den Akt der Entgegensetzung ist allerdings aus transzendentalphilosophischer Sicht eine Voraussetzung zu machen, nämlich eine Handlung des Ich. Erst die Entgegensetzungshandlung des Ich macht erklärbar, dass es so etwas wie ein Entgegengesetztes („¬A“ gegenüber „A“) geben kann (vgl. 23/FW I, 103). Ohne die noetische Ichleistung kann es keine noematische Entsprechung geben. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist nur eine Tatsache des Bewusstseins, d.h., es handelt sich um ein vorgefundenes Faktum. Bei einer bloßen Gegebenheit darf die Wissenschaftslehre nicht stehen bleiben; der Akt des Entgegensetzens impliziert einen Akteur, das Ich, welches die Entgegensetzung vornimmt. Tatsachen sind auf Handlungen zurückzuführen.

Fichte führt genau aus, welchen Handlungsablauf das Ich vollziehen muss, damit die Entgegensetzung zustande kommen kann (22 f./102 f.; in der Klammeranmerkung): Den Ausgangspunkt für das Entgegensetzen bildet das Setzen im Satz der Identität mit „A = A“; dem Subjekt-A wird ein Objekt-A gleichgesetzt. Das zweite A ist ein Objekt, weil es nicht das schlechthin gesetzte ist – dieses ist das erste A, das Subjekt-A –, sondern es wird als objektiv prädizierbare Eigenschaft des ersten A gesetzt und ist somit ein Objekt der Reflexion. Nun folgt ein Schritt über den Satz der Identität hinaus: Dem zweiten A, dem Objekt der Reflexion wird zunächst durch den ursprünglichen Akt der Entgegensetzung ein „¬A“ entgegengesetzt. Ein weiterer Schritt besteht darin, dass hinsichtlich des Satzes der Identität die Identität des zweiten „A“ mit dem ersten „A“ zu konstatieren ist, was dazu führt, dass, weil das „¬A“ dem zweiten „A“ entgegengesetzt ist, geschlossen werden kann, dass es auch dem ersten „A“ entgegengesetzt sein muss, weil dieses mit dem zweiten „A“ identisch ist.

Für den ersten Grundsatz war von zentraler Bedeutung, dass im Vollzug des Satzes der Identität „A = A“ das Ich mit sich selbst identisch sein musste, damit der Identifikationsakt des ersten mit dem zweiten „A“ gelingen kann; weil zwei verschiedene Ich nicht zwei „A“ miteinander als identisch vereinigen könnten. Offensichtlich ist die Setzung von „A = A“ und „Ich = Ich“ eine notwendige Vorbedingung für das Entgegensetzen; daher ist dann auch die durchgängige Identität des Ich mit sich eine notwendige Vorbedingung für das Entgegensetzen. Dies gilt auf mehreren Ebenen: Das Ich muss durchgängig mit sich selbig sein, wenn zunächst im Satz der Identität das Subjekt-A gleich dem Objekt-A gesetzt werden soll, dann muss es aber auch ein und dasselbe Ich sein, das dem Objekt-A ein „¬A“ entgegensetzt und dann muss es wiederum ein und dasselbe Ich sein, das die Entgegensetzung nicht nur hinsichtlich des Objekt-A, sondern auch hinsichtlich des Subjekt-A aus dem Satz der Identität vollzieht. Wenn es nicht jeweils dasselbe Ich wäre, das Setzungen und Entgegensetzungen leistet, dann bestünde weder bei der Identität noch der Nichtidentität die Einheit eines Gedankens, vielmehr könnte es ohne einheitlich durchgängiges Ich nur verschiedene Gedankenphasen geben, aber nicht die Einheit des oben beschriebenen Gedankenzusammenhangs. „Mithin ist auch der Übergang vom Setzen zum Entgegensetzen nur durch die Identität des Ich möglich“ (23/FW I, 103).

Wenn man Setzen und Entgegensetzen als zwei verschiedene Bewusstseinsleistungen differenziert, dann ist es dennoch notwendig, dass beides vom selben Bewusstsein geleistet wird, weil sonst nicht die Entgegensetzung von Setzen und Entgegensetzen als ein Gedankenzusammenhang erklärbar wäre: „Das Entgegensetzen ist nur möglich unter Bedingung der Einheit des Bewusstseins des Setzenden, und des Entgegensetzenden. Hinge das Bewusstsein der ersten Handlung nicht mit dem Bewusstsein der zweiten zusammen; so wäre das zweite Setzen kein Gegensetzen, sondern ein Setzen schlechthin.“ (23f./FW I, 103)

Fichte untersucht das durch den Satz „¬A ≠ A“ gesetzte Resultat der Handlung genauer (vgl. 24/FW I, 104), also das noematische Produkt der noetischen Handlung des Entgegensetzens. Dieses noematische Produkt ist das Entgegengesetzte, das „¬A“. Hierin liegt ein Abstraktionsschritt, denn nun wird das Entgegengesetzte vom Bewusstseinsakt des Entgegensetzens abgetrennt bzw. abgezogen. Auch hinsichtlich des Entgegengesetzten als Resultat unterscheidet Fichte Form und Materie/Inhalt und konstatiert, dass das „¬A“ bezüglich seines Inhalts bedingt ist, weil ein „¬A“ ein A voraussetzt, das es nicht ist, und wenn etwas seine Bestimmung dadurch erlangt, dass es etwas anderes nicht ist, dann setzt es dieses andere voraus, von dem es sich abgrenzt. „¬A“ ist das, was „A“ nicht ist; „und sein ganzes Wesen besteht darin, dass es nicht ist, was A ist“ (24/FW I, 104). Die Negation einer Setzung setzt die Setzung voraus. Die Form des „¬A“ als Handlungsresultat besteht in der „Art und Weise“, in dem „Wie“ der Setzung und diese ist das „Entgegensein“ des „¬A“. Hiermit zeigt sich, dass das Verhältnis von Inhalt und Form völlig parallel ist zwischen dem gesamten Satz „¬A ≠ A“ zu dem gesamten Satz „A = A“ und zwischen dem jeweiligen (noematischen) Resultat dieser Sätze „¬A“ zu „A“; jeweils ist der Inhalt bedingt und die Form ist unbedingt.

Nachdem die Bestimmung der Bewusstseinstatsache des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch geklärt ist, geht Fichte auf die egologische Basis dieses logischen Gesetzes zurück: Nachdem aufgewiesen ist, dass es, damit der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch denkbar ist, ein Entgegensetzen und ein Entgegengesetztes als Resultat des Entgegensetzungsaktes geben muss, dann muss es auch als transzendentale Bedingung der Möglichkeit dieses logischen Satzes eine Entgegensetzung zum Ich geben. Nur wenn es in ursprünglicher Weise einen Akt der Entgegensetzung zum Ich gibt, kann es eine logische Entgegensetzung geben, und damit es den Akt der Entgegensetzung geben kann, den das Ich leistet, muss es auch ein dem Ich selbst Entgegengesetztes geben. Nachdem im ersten Grundsatz nur das bloße Ich gesetzt wurde, kann das diesem entgegengesetzte Produkt der Handlung des Ich nur ein „Nicht-Ich“ sein (24/FW I, 104); es ist „streng erweislich, dass das Entgegengesetzte = Nicht-Ich sein müsste“ (26/FW I, 105). Die strenge Beweisbarkeit, dass das Entgegengesetzte des Ich ein Nicht-Ich sein muss, folgt daraus, dass im ersten Grundsatz ausschließlich ein Ich gesetzt ist, und wenn nun etwas anderes gesetzt werden soll, dann kann dies nur dessen logische Negation sein, welche ein Nicht-Ich ist.

Vorgängig zu allen spezifischeren Entgegensetzungen und Unterscheidungen zwischen zwei Verschiedenen muss mit dem transzendentalen Entgegensetzungsakt eine ursprüngliche Leistung des Ich vorausgesetzt werden. Entgegensetzung setzt eine vom Ich geleistete Handlung des Entgegensetzens voraus; wiederum gilt, dass es keinen Akt und kein Aktergebnis ohne Akteur geben kann. Der zweite Grundsatz: „Nicht-Ich ≠ Ich“ kann dieselbe unbezweifelbare Gewissheit beanspruchen, wie der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch „¬A ≠ A“, weil er sogar dessen Voraussetzung ist. So wie vom Satz „¬A ≠ A“ und vom Produkt der Entgegensetzung „¬A“ gilt, dass sie der Form nach unbedingt, dem Inhalt nach aber bedingt sind, so gilt dasselbe auch vom zweiten Grundsatz „Nicht-Ich ≠ Ich“. Er ist auch dem Inhalt nach davon abhängig, dass überhaupt ein Ich gesetzt ist. Der Form nach ist er unabhängig vom „Ich = Ich“ des ersten Grundsatzes, weil darin nicht die spezifische Handlungsweise (d.i. Form) des Entgegensetzens eines Nicht-Ich enthalten ist; das Nicht-Ich in seiner Entgegensetzung zum Ich ist eine spezifisch neuartige Leistung. „Und so wäre denn auch der zweite Grundsatz alles menschlichen Wissens gefunden“ (24/FW I, 104).

Das Entgegensetzen des Nicht-Ich ist die Urbestimmung von Entgegensetzung; sie ist der grundlegende Fall von Entgegensetzung und kann somit auch kein Abstraktionsprodukt sein, das wir aus der Erfahrung mit konkreten Gegenständen gewonnen hätten. Es kann also nicht sein, dass wir uns in der Erfahrung ein ums andere Mal etwas entgegensetzen (den Stuhl, den Tisch, das Buch etc.) und dann das all diesen verschiedenen Entgegensetzungen Gemeinsame festhalten und daraus erst den allgemeinen und diskursiven Begriff von „Entgegensetzung überhaupt“ als Abstraktion bilden. Wenn dem so wäre, dann wäre das Nicht-Ich und mit ihm der Entgegensetzungsakt keine transzendentale, d.h. Erfahrung erklärende Bestimmung, sondern das Nicht-Ich würde Erfahrung und Gegenstände bereits voraussetzen. Jede Art von Gegenständlichkeit in der Erfahrung setzt aber bereits eine Entgegensetzung zum Ich voraus und kann sie nicht erklärend begründen. Würde man entwerfen, dass wir die Ichaktivität der Entgegensetzung aus der Erfahrung erlernen, hätte man einen fehlerhaften Zirkel in der Erklärung begangen, denn Erfahrung von Gegenständen setzt Entgegensetzung bereits voraus und hat sie nicht zur Folge. Daran wird auch deutlich, weshalb der vom Ich geleistete Entgegensetzungsakt nach Fichte kein abstrakt-diskursiver Begriff ist, sondern eine transzendentale Bestimmung, er muss für die Erfahrung immer schon vorausgesetzt werden und kann nicht aus ihr erklärt werden; wenngleich es empirisch gesehen so sein mag, dass wir uns der ursprünglichen Handlung des Entgegensetzens anlässlich von konkreten Gegenstandsentgegensetzungen bewusst werden, muss aber, um überhaupt Erfahrung machen zu können, die Entgegensetzung des Nicht-Ich gegenüber dem Ich immer schon erfolgt sein (vgl. 24 f./FW I, 104 f.). Gerade in diesem Verständnis des Akts der Entgegensetzung als gegenstands- und erfahrungsbegründend liegt nach Fichte ein besonders klares Argument für den „transzendentalen Idealismus“ (25/FW I, 105), denn einerseits zeigt sich, dass mittels der Bestimmung der Entgegensetzung Erfahrung überhaupt erst erklärbar wird (transzendental), und andererseits zeigt sich, dass es sich bei der Entgegensetzung um eine Handlung, die einen Handelnden voraussetzt, also um eine freie Leistung des Ich handelt (Idealismus).

Analog zum ersten Grundsatz, bei dem aus der Tathandlung vermittels einer zweifach durchgeführten Abstraktion zunächst eine logische Grundlage des Bewusstseins und dann die Kategorie gefolgert wurde, wendet Fichte nun auch beim zweiten Grundsatz das doppelte Abstraktionsverfahren an. Wird bei dem Grundsatz „Nicht-Ich ≠ Ich“ vom Ich und Nicht-Ich als Inhalt abgesehen, abstrahiert, dann erhält man durch Einsetzung abstrakter Variablen den Satz „¬A ≠ A“. Dies bezeichnet Fichte als „den Satz des Gegensetzens“, es ist der oben bereits als Tatsache des Bewusstseins und als eine Grundlage der Logik untersuchte Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. Hier zeigt sich, dass die transzendentale Entgegensetzungshandlung „Nicht-Ich ≠ Ich“ fundamentaler ist als der logische Satz „¬A ≠ A“; weil dieser der Sache nach aus der Ichhandlung abzuleiten ist und nicht umgekehrt, wenngleich das methodisch-propädeutische Verfahren Fichtes im zweiten Grundsatz analog zum methodisch-propädeutischen Verfahren des ersten Grundsatzes war, und aus dem logischen Satz als einer Tatsache des Bewusstseins auf die transzendentale Handlungsebene der reinen Subjektivität zurückgegangen wurde. Dieser Rückgang von der Logik zur Transzendentalebene ist aber nur eine propädeutische Hinführung des Bewusstseins, die sachliche Ordnung ist genau umgekehrt, die Transzendentalebene ist die Voraussetzung der logischen Ebene.

Bestand diese erste Abstraktion, die zur Logik und dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch führt, in einem Absehen vom Inhalt des zweiten Grundsatzes, so sieht die zweite Abstraktion davon ab, dass es sich bei „¬A ≠ A“ um ein Urteil handelt. Nur noch das noematische Produkt, das Resultat des Urteils wird gesehen. Dieses Resultat ist das Entgegengesetzte, das bloße Etwas-anderes-nicht-Sein, „die Kategorie der Negation“ (25/FW I, 105); damit ist nach der Realität die zweite Kategorie, die der Negation aus der Einheit des Ich hergeleitet.

Johann Gottlieb Fichtes 'Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794'

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