Читать книгу Johann Gottlieb Fichtes 'Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794' - Rainer Schäfer - Страница 7
Einleitung
ОглавлениеFichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre entsteht 1794 / 95;1 in ihr bildet das freie Ich das Prinzip, aus dem alle erkenntnis- und praxisrelevanten Bestimmungen abgeleitet werden sollen; durch diese Ableitung aller wesentlichen Bestimmungen aus der Freiheit des Ich erwirbt sich die Philosophie den Titel einer „Wissenschaftslehre“ – sie ist also nicht mehr eine bloße Liebe zur Weisheit, sondern ein systematisch gerechtfertigtes Wissen: „Das Wort Philosophie kann kaum beibehalten werden. Es wird unbrauchbar werden“.2
Fichte hielt sich im Winter 1793 / 94 in Zürich auf. Bis zu dieser Zeit hatte er in Reinholds Elementarphilosophie ein tragfähiges Konzept gesehen, das systematisch Kants kritisches Programm weiterführt. Mit der Transzendentalphilosophie der drei Kritiken Kants hatte sich Fichte im Sommer 1790 intensiv beschäftigt und in ihr „eine unüberwindliche Festung“3 gesehen. – In Leipzig hat Fichte in diesem Jahr als Hauslehrer einem Studenten Privatunterricht in der Philosophie Kants erteilt. – Reinhold entwirft als Basis aller menschlichen Vollzüge eine Theorie der Vorstellung, welche die allgemeinen Voraussetzungen von Kants Idealismus klären soll. Hatte Kant mit sinnlicher Anschauung, reinem Verstandesbegriff, transzendentalem Schema, praktischer Vernunftidee etc. zwar verschiedenartige Wissensquellen entworfen, so fehlt nach Reinhold die Ausarbeitung der gemeinsamen Wurzel dieser Verschiedenartigen, die gemeinsame Gattung. Das Gemeinsame aller menschlichen Vollzüge ist nach Reinhold die Vorstellung im Bewusstsein. Im Zentrum von Reinholds Elementarphilosophie steht daher der Satz des Bewusstseins; er besagt: „dass die Vorstellung im Bewusstseyn durch das Subject vom Object und Subject unterschieden und auf beyde bezogen werde“.4 Wohl seit Herbst 1792 beschäftigt sich Fichte dann mit Reinholds Elementarphilosophie. Noch Anfang 1794 schreibt er die Eignen Meditationen über Elementarphilosophie nieder, dabei handelt es sich um eigenständige Reflexionen, Skizzen und kritische Weiterführungen zu Reinholds Elementarphilosophie.5
Der Skeptiker Gottlob Ernst Schulze hatte allerdings in der anonym veröffentlichten Schrift Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik (1792) sowohl Kants Transzendentalphilosophie als auch die Weiterführung des Kantischen Kritizismus durch die Elementarphilosophie Reinholds derart mit treffenden skeptischen Einwänden angegriffen, dass Fichte die Elementarphilosophie Reinholds hinsichtlich ihres fundamentalistischen Anspruchs als widerlegt ansah. Fichte hatte sich im November 1793 unmittelbar nach der Hochzeitsreise durch einige Schweizer Kantone intensiv mit Schulzes Aenesidemus-Schrift auseinandergesetzt, da er hierüber eine Rezension für die Allgemeine Literatur-Zeitung anfertigen wollte. Fichte hatte Schulze – der auch ein ehemaliger Mitschüler Fichtes in Pforta war – als Autor der anonymen Schrift erkannt. Die Aenesidemus-Rezension Fichtes erscheint dann im Februar 1794. Hier akzeptiert Fichte die skeptische Kritik Schulzes an Reinhold und will sie produktiv für die Erschließung eines wirklich fundamentalen Prinzips des Wissens aufnehmen und umsetzen.
Fichte entwirft daher eine neue Grundlegung der Philosophie, die in der Aenesidemus-Rezension allerdings nur andeutungsweise zur Sprache kommt. Diese durfte nicht mehr den Satz des Bewusstseins zur Basis haben, weil er zu voraussetzungsreich und nicht unmittelbar evident ist. Fichte kritisiert, dass im Satz des Bewusstseins nicht durch sich selbst unmittelbar klar ist, was „unterscheiden“, „beziehen“ und „vorstellen“ bedeuten; des weiteren ist er zwar für das theoretische Vorstellen von elementarer Bedeutung, aber hinsichtlich des praktischen Wollens ist er unbestimmt, denn der praktische Wille unterscheidet und bezieht nicht nur Subjekt und Objekt mittels der Vorstellung, sondern er greift aktiv handelnd auf das Objekt über und kann sich auch selbständig modifizieren; der Satz des Bewusstseins ist auch hinsichtlich einer gemeinsamen Wurzel von theoretischer und praktischer Vernunft unbestimmt. Fichte will als gemeinsame Wurzel beider Vernunftformen die Subjektivität geltend machen. An der Konzeption einer Grundsatzphilosophie hält er fest, denn nur durch einen Grundsatz, auf den alle weiteren Sätze und Bestimmungen zurückgeführt werden können, erlangt die Philosophie den Status einer systematischen Wissenschaft. Der Grundsatz bzw. die Grundsätze dürfen aber nicht mehr das in sich komplex und voraussetzungsreich strukturierte, bloß theoretische Bewusstsein als Fundament allen Wissens aufstellen.
Fichte entwirft das Ich als Fundament des Bewusstseins, das in einem Grundsatz zum Ausdruck kommen soll. So berichtet Heinrich Steffens in Was ich erlebte über Fichtes Einsichten des Winters 1793 / 94: „Ich erinnere mich, wie Fichte in einem engen vertrauten Kreise uns die Entstehung seiner Philosophie erzählte, und wie ihn der Urgedanke derselben plötzlich überraschte und ergriff. Lange hatte ihm vorgeschwebt, wie ja die Wahrheit in der Einheit des Gedankens und des Gegenstandes läge; er hatte erkannt, dass diese Einheit innerhalb der Sinnlichkeit niemals gefunden werden konnte, und, wo sie hervortrat, wie in der Mathematik, erzeugte sie nur einen starren unlebendigen Formalismus, dem Leben, der Tat völlig entfremdet. Da überraschte ihn plötzlich der Gedanke, dass die Tat, mit welcher das Selbstbewusstsein sich selber ergreift und festhält, doch offenbar ein Erkennen sei. Das Ich erkennt sich als erzeugt durch sich selber, das denkende und das gedachte Ich, Erkennen und Gegenstand des Erkennens, sind eins, und von diesem Punkte der Einheit, nicht von einer zerstreuenden Betrachtung, die Zeit und Raum und Kategorien sich geben lässt, geht alles Erkennen aus. Wenn du nun, fragt er sich, diesen ersten Akt des Selbsterkennens, der in allem Denken und Tun der Menschen vorausgesetzt wird, der, in den zersplitterten Meinungen und Handlungen verborgen liegt, rein für sich heraushöbest, und in seiner Konsequenz verfolgtest, müsste nicht in ihm, aber lebendig tätig und erzeugend, dieselbe Gewissheit sich entdecken und darstellen lassen, die wir in der Mathematik besitzen? Dieser Gedanke ergriff ihn mit einer solchen Klarheit, Macht und Zuversicht, dass er den Versuch, das Ich als Prinzip der Philosophie aufzustellen, wie bezwungen von dem in ihm mächtig gewordenen Geiste, nicht aufgeben konnte. So entstand der Entwurf einer Wissenschaftslehre und diese selbst.“6 Mit der abzulehnenden „zerstreuenden Betrachtung, die Zeit und Raum und Kategorien sich geben lässt“, dürfte wohl Kant gemeint sein, der in der Kritik der reinen Vernunft die Anschauungsformen, Raum und Zeit, sowie die Kategorien nicht selbst aus der Einheit des Selbstbewusstseins herleitet, sondern als unhintergehbar gegeben voraussetzt. An dem Zitat wird auch deutlich, dass die Ursprungsfrage des Fichteschen Philosophierens die Bestimmung des Wesens der Wahrheit war. Wahrheit versteht er offensichtlich als die Einheit, d.h. die kohärente Einstimmigkeit von einerseits Gegenstand und andererseits Gedanke. Um wahr zu sein, muss der Gedanke in einem Urteil dem Gegenstand angemessen sein. Das Paradigma dieser Einstimmigkeit ist das Ich, weil in diesem auf ursprüngliche Weise Gegenstand (zu Erkennendes) und Gedanke (Erkennendes) identisch sind.
Zwischen November und Dezember 1793 teilt Fichte aus Zürich dem Professor für Philosophie Johann Friedrich Flatt am Tübinger Stift in einem Brief mit, dass er nach der skeptischen Krise, in die ihn die Abhandlung Schulzes geworfen hatte und die die Grundfesten seines eigenen philosophischen Systems erschütterte, nun den Grundsatz gefunden habe, durch den die Philosophie Wissenschaft und System wird; dieser Grundsatz habe ebensoviel Evidenz wie die Sätze der Geometrie.7
Fichte hielt dann im Hause des Pfarrers Lavater in Zürich zwischen dem 24. Februar und 26. April 1794 annähernd täglich Vorlesungen vor einem ausgesuchten Kreis Gelehrter; diese Züricher-Vorlesung präsentierte erstmalig die Wissenschaftslehre und hat in skizzenhafter Weise denselben Aufbau, wie die nur einige Monate spätere Grundlage.8
Fichte hatte bereits am 5. Januar 1794 eine Anfrage aus Jena erhalten, ob er dorthin eine Berufung als Professor ordinarius supernumerarius annehmen wolle. Die Stelle Reinholds war frei geworden, weil dieser einen Ruf nach Kiel angenommen hatte. Ende Februar schreibt Fichte nach Jena, dass er die Stelle annehme. In der Zeit zwischen Februar und April 1794 entstand noch in Zürich parallel zu den Vorlesungen im Hause Lavaters die Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, die Anfang Mai 1794 erschien und eine Programm- bzw. „Einladungsschrift“ zu den Vorlesungen über die Wissenschaftslehre in Jena bilden sollte. Die Studenten sollten die Gelegenheit haben, sich vorab mittels der Begriffsschrift zu informieren. Fichte überreicht diese Schrift in Jena Goethe und Schiller. Fichte und Schiller waren sich zuvor bereits in Stuttgart begegnet, als Fichte auf der Durchreise nach Jena war; beide freunden sich infolge dieser Begegnung miteinander an.
Am 18. Mai 1794 kam Fichte aus Zürich in Jena an und begann am 26. Mai seine Privatvorlesungen über die Wissenschaftslehre zu halten. Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre erscheint dann seit dem 14. Juni 1794 nach und nach;9 denn von Woche zu Woche werden parallel zu den Vorlesungen jeweils die einzelnen Bogen gedruckt und nur an vorgemerkte Studenten verkauft; die Grundlage ist ursprünglich eine „Handschrift“ bzw. ein Handbuch für die Vorlesungszuhörer. Abschließend erscheint dann im Juli/August 1795 der dritte und letzte Teil „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen“, zusammen mit dem „Vorwort“. Fichte verfolgte mit dieser Art der Veröffentlichung ein pädagogisch an den damaligen Universitäten neuartiges Programm, mit welchem er den Studenten eine bessere Konzentration auf den Stoff ermöglichen und das geistlose Mitschreiben während der Vorlesung ersparen wollte. Gegenüber Goethe betont Fichte, unter welchem Zeitdruck die Bogen jeweils wöchentlich zur Vorlesung entstehen mussten und entschuldigt damit einige Mängel in der Darstellungsform; Fichte bezeichnet Goethe auch als eine Art immanenten und impliziten Kritiker, dessen imaginäres Urteil er sich bei der Abfassung als Anregung immer wieder innerlich vor Augen führt; somit stellt sich Fichte Goethe als „impliziten Leser“ der Grundlage vor.10
Im Januar 1802 erschien eine unveränderte Neuauflage der Grundlage in Tübingen bei Johann Georg Cotta und ebenfalls 1802 eine zweite, verbesserte Auflage in Jena und Leipzig bei Christian Ernst Gabler. Bei diesem war auch schon die erste Auflage 1794 / 95 erschienen; Fichte wollte jedoch die zweite Auflage nicht wieder bei Gabler verlegen lassen, weil sich in die erste Auflage zahlreiche drucktechnische Fehler eingeschlichen hatten und finanzielle Engpässe die Bezahlung Fichtes herauszögerten. Ohne Erlaubnis des Autors hat Gabler dennoch 1802 eine Neuauflage des Werks erscheinen lassen; was zu jahrelangen juristischen Streitereien zwischen Fichte und Gabler führte. Diese Ausgabe enthält Zusätze und Erläuterungen, die Fichte bereits 1800 für eine Neuauflage erarbeitet hatte.
Fichte konzipiert in der Grundlage einen transzendentalen Idealismus, dessen Prinzip die Subjektivität mit ihren Vollzugsformen bildet.11 Er strebt in der Nachfolge Descartes’ und Kants eine Sicherung und systematische, methodische Darstellung des möglichen Wissens an und zugleich eine Abgrenzung gegen unmögliches oder bloß angemaßtes Wissen, ebenso gegen den Skeptizismus. Diese Wissenssicherung ist die zentrale Aufgabe der Philosophie, die Fichte daher als „Wissenschaftslehre“ bezeichnet; d.h. als Wissen vom gesicherten Wissen. Wissen ist hier in einem umfassenden Sinn gemeint. Mit dem Wissen sind sowohl die selbstbezüglichen Bestimmungen des Subjekts bezeichnet als auch die für die Erkenntnis von Objekten begründenden gegenstandsgerichteten Vollzüge des Bewusstseins und zudem die das Objekt bestimmenden praktischen und intersubjektiven Handlungen des Subjekts. In dieser Hinsicht ist Fichtes Ansatz in der Grundlage als transzendentalphilosophisch zu bezeichnen: Die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens sind einerseits in Bezug auf die theoretisch erfahrbare Wirklichkeit und andererseits in Bezug auf unser praktisches Sittenleben zu begründen. Diese Begründung erfolgt durch den Rückgang auf das Ich als das gleichermaßen konstitutive Fundament des theoretischen Wissens und der praktischen Sittlichkeit. Die Subjektivität ist das Prinzip, aus dem heraus die Wissens- und die Praxisbezüge methodisch gesichert ab- und herzuleiten sind.
In Fichtes Schaffen kommt der Grundlage einerseits ein besonderer Stellenwert zu, denn sie expliziert, wie der Titel bereits sagt, die Fundamente der gesamten Wissenschaftslehre so, dass die zahlreichen nachfolgenden Darstellungen der Wissenschaftslehre auf dieser aufbauen; sie teilweise ergänzen und differenzieren, sie aber doch immer wieder voraussetzen; in dieser Hinsicht bildet die Grundlage Fichtes Hauptwerk. Andererseits steht sie noch relativ am Anfang von Fichtes Denkentwicklung und es folgen ihr zahlreiche, in zentralen Aspekten abweichende Umarbeitungen; es handelt sich also nicht um Fichtes letztes Wort zu Struktur, Methode und Inhalt der Philosophie. So wird Fichte z.B. ab 1796 mit der Grundlage des Naturrechts die zentrale Rolle der Intersubjektivität und des alter ego für den transzendental-kritischen Idealismus immer stärker betonen. In der Wissenschaftslehre von 1804 macht er die transzendentale und sittliche Wir-Gemeinschaft sogar zum höchsten Punkt des Systems, zu demjenigen des ursprünglich-einheitlichen Seins.12 Diese fundamentale Rolle der Intersubjektivität ist in der Grundlage so noch nicht ausgeführt, wenngleich sie mit deren Lehre kompatibel ist.
Fichte entwirft in der Grundlage nämlich einen kritisch-praktischen Idealismus, der sich sowohl gegen Einseitigkeiten des Realismus als auch gegen solche eines naiven Idealismus richtet;13 vielmehr versucht Fichte die jeweiligen Stärken idealistischer und realistischer Konzeptionen systematisch positiv für die Erklärung des theoretischen und praktischen Bewusstseinslebens aufzunehmen und zu synthetisieren, indem er Widersprüchliches und Unzulängliches ausgliedert und nur das Sinnvolle und Kompatible beider Positionen zurückbehält. Fichte geht dabei – ähnlich wie zuvor bereits Kant in der Aufstellung und Auflösung der antithetischen Antinomien aus der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft – systematisch und nicht historisch vor; d.h., er stellt nicht historische Positionen des Idealismus und des Realismus einander gegenüber, sondern er versucht deren Bedeutungskern rein für sich auszugliedern, losgelöst von historischen Positionen. In historischer Sicht ist bei der Position eines naiven Idealismus an frühneuzeitliche Konzeptionen wie jene von Descartes oder Berkeley zu denken. Bei dem Realismus lässt sich als historisches Vorbild wohl am ehesten Spinoza ausmachen. Fichte hat jedoch, wenn er sich gegen den Realismus – den er auch als Dogmatismus bezeichnet – wendet, nicht bloß einen dogmatischen Pantheismus vor Augen, sondern zugleich auch die systematische Position eines Materialismus, der das Bewusstsein aus materiell-dinglich vorliegenden Entitäten herleiten will. Wenn sich Fichte also gegen den Realismus richtet, dann ist dabei auch eine Wendung gegen eine naturalistisch-materialistische Position mitzudenken, wie sie auch heute gängig ist, wenn z.B. Geist und Gehirn miteinander identifiziert werden oder wenn Bewusstsein als ein Epiphänomen von bio-chemischen Reaktionen der Gehirnnerven gedeutet wird. Fichtes Argumente gegen den Realismus haben also durchaus aktuelle Bedeutung; zumal sich mehr und mehr ein naturalistisch-biologistischer Standpunkt durchsetzt.
Fichte konzipiert nicht, dass einfach das Ich das Ding hervorbringt, was der naive Idealismus behauptet, und umgekehrt auch nicht, dass das Ding das Ich hervorbringt, was der Realismus/Dogmatismus bzw. Materialismus behauptet. Beides sieht Fichte als Einseitigkeit, die weder dem theoretischen noch dem praktischen Bewusstseinsleben gerecht wird. Wenn der naive Idealismus nämlich entwirft, dass das Ich das Ding hervorbringt, ist auch er dogmatisch, d.h., er behauptet einfach etwas, das sich nicht in der konkreten Erfahrung ausweisen lässt; in dieser dominiert vielmehr das ursprüngliche Gefühl der Determiniertheit der Vorstellung durch das Ding und dessen Eigenschaften. Dieses bei jeder theoretischen Vorstellung mitgegenwärtige Gefühl kann der naive Idealismus nicht erklären und er ist deswegen nicht erfahrungstreu. Darüber hinaus ist mit der Position des naiven Idealismus nicht mehr verifizierbar oder auch falsifizierbar, ob eine jeweilige Vorstellung ein bloßes Phantasieprodukt ist oder ob es sich um eine solche Vorstellung handelt, der eine Realität korrespondiert. Dieser naive Idealismus hätte daher konsequenterweise in einen Skeptizismus zu münden, wie ihn z.B. Fichtes Zeitgenosse Salomon Maimon, in Weiterführung von Kants Erkenntniskritik, konzipiert, wenn er sagt, dass alle Realität verstandesfundiert ist, es somit unerkennbar ist, ob es überhaupt eine den Vorstellungen verstandesunabhängig korrespondierende Realität gibt.14 – Dieser problematische Gedanke eines naiven Idealismus ist es auch, der im Hintergrund von Kleists Schein-Sein-Krise steht. –
Aus der naiv idealistischen Position folgt aber auch, dass ein „Ding an sich“ geleugnet werden muss, das den Affektionen der Sinnlichkeit als Korrelat entspricht. In einer spezifischen Hinsicht hat der naive Idealismus mit dieser Behauptung auch Recht, nämlich dann, wenn sich seine Behauptung gegen ein metaphysisches „Ding an sich“ richtet, das vollständig unabhängig vom Ich existieren soll; eine vollständige Unabhängigkeit eines Dinges vom Ich widerspricht dem – von Kant ausgesprochenen – Gedanken, dass „das Ich denke alle meine Vorstellungen muss begleiten können“,15 weil sonst in mir etwas vorgestellt würde, was a) entweder für mich nichts wäre, was also für mich prinzipiell völlig unbewusst bleiben müsste und daher gar nichts für mich sein könnte, oder b) was sich in sich widerspricht, was also aufgrund seiner sich ausschließenden Merkmale unmöglich wäre. Gegen ein solches dogmatisch-metaphysisches Ding an sich wendet sich Fichte ausdrücklich. Allerdings entwirft er selbst ein mit kritisch-transzendentaler Bedeutung konzipiertes Ding an sich, nämlich ein solches, das dem Ich als bloße Begrenzung entgegenstehend gedacht wird. Ein solches Ding an sich ist nichts anderes als die gedanklich notwendige Konzeption eines inhaltlich völlig Unbestimmten, welches die Tätigkeit des Ich aufhebt. Das kritisch-transzendentale Ding an sich ist bloß aus seiner die Ichtätigkeit vernichtenden Wirkung in einem bloß gedanklichen Rückschluss anzunehmen. Allerdings ist diese realistische Annahme eines Dinges an sich notwendig, will man das endliche Ich nicht mit Gott verwechseln; denn der naive Idealismus kann zwischen Gott und Ich eigentlich nicht mehr unterscheiden: In beiden Fällen produziert das bloße Vorgestelltsein durch einen Vorstellungsakteur das Ding. Vor dieser absurden Konsequenz schützt den kritischen Idealismus die Annahme eines transzendentalen Dinges an sich. Transzendental ist dieses Ding an sich, weil es dazu dient, konkrete Gegenstandsvorstellungen des Erfahrungswissens erklärbar zu machen. Gleichermaßen ist dieses Ding an sich aber auch auf das Ich zurückbezogen, denn es ist inhaltlich völlig unbestimmt, und erst im Zusammenspiel mit dem es vorstellenden Ich ergeben sich im Rahmen spezifischer Affektionsformen und spezifischer Tätigkeitsformen des Ich auch spezifische Gegenstandsvorstellungen. Ohne Subjekt kein Objekt und ohne Objekt kein Subjekt.
Damit ist auch deutlich geworden, inwiefern Fichtes kritisch-transzendental-praktischer Idealismus realistische Elemente positiv in sich aufnimmt, nämlich in der These, dass es eine negative, nicht vom Ich selbst stammende Aufhebung bzw. Aufhaltung der Tätigkeit des Ich gibt. Nun kann auch gesagt werden, weshalb Fichtes Idealismus ein praktischer ist: Das Ich wird mit seiner Wesensverfassung der Tätigkeit nur erklärbar aus seinem es verendlichenden Bezug auf ein Nicht-Ich, das es begrenzend und aufhebend affiziert. Allerdings setzt das Ich wider diesen Widerstand seine Tätigkeit, indem es das es Aufhebende aufzuheben strebt. Die Aufhebungsbestrebung dessen, was das Ich mit dessen Tätigkeit zu vernichten droht, ist die praktische Tätigkeit. Die praktische Tätigkeit bildet insofern die Urbestimmung des Ich, als es sich selbst nur dadurch erhalten kann, indem es die es aufhebende ichunabhängige Begrenzung selbst aufhebt; das Ich strebt beständig danach, das Nicht-Ich zu modifizieren. Das Ich hebt damit sukzessive seine eigene Endlichkeit auf, die gerade in der Begrenzung durch ein Nicht-Ich besteht. Das endliche Ich strebt zum unendlichen Ich; dem „Ich = Ich“, das gar nicht durch anderes begrenzt ist, weil es reine Thesis, reine Setzung ohne Entgegensetzung ist.
Mit dieser Tätigkeit des endlichen Ich in seiner Annäherung an das unendliche Ich liegt ein sich stets wieder selbst reproduzierender und sich selbst stets auch wieder auflösender Widerspruch vor: einerseits strebt das Ich in der Modifikation des Nicht-Ich nach der Annäherung an das unendliche Ich, andererseits geschieht diese Annäherung in einem sukzessiven Sollensakt; das Ich soll nach und nach seine Endlichkeit überwinden, um sich so zum unendlichen Ich zu entgrenzen; allerdings ist jede praktisch-tätige Überwindung der Grenze auch schon wieder die Festsetzung einer neuen Grenze, denn das, was das Ich soeben als Grenze überwunden hat, muss, damit es wiederum etwas Bestimmtes für das Ich ist, fixiert und verdinglicht werden (kein Subjekt ohne Objekt); daher stellt sich, nun allerdings auf höherer Ebene, ein Gegenständliches ein, welches es auch wieder dem Ich gemäß zu transformieren gilt. Das Sollen reproduziert sich unendlich, was dem Ich notwendig und kein beliebiges „Glasperlenspiel“ ist. Die Bestimmtheit impliziert Begrenzung und diese wiederum Endlichkeit. Daher kann es für das Ich keine Bestimmtheit ohne Endlichkeit geben, und gleichermaßen ist es auch die Bestrebung des Ich, seine Begrenzung durch anderes aufzuheben. Die sukzessive Modifikation der Gegenstandswelt ist also zugleich dasjenige, wodurch das endliche Ich erst zum Ich wird, d. h. zu einem Für-sich-Sein gelangt, sie ist aber auch dasjenige, was das Ich zu überwinden trachtet, aber nie überwinden kann, weil es dann nicht mehr das wäre, was es ist, ein endliches Für-sich-Sein in Abgrenzung zu einem Für-anderes-Sein (Ding). Somit vereint Fichte in seinem praktischen Idealismus des sich bestimmt und begrenzt selbst verwirklichenden Ich realistische und idealistische Elemente; ohne sie abstrakt oder einseitig zu nivellieren. Vielmehr stellt Fichtes Grundlage mit ihrem praktischen Idealismus eine konsequente Herleitung der Tätigkeitsweisen und der Bedeutung gebenden Akte des endlichen Ich dar. In dieser idealistischen Synthese wird der Spontaneität und der Bestimmtheit des endlichen Ich gleichermaßen Rechnung getragen, denn das eine wird nicht zugunsten des anderen geleugnet, sondern Spontaneität und Bestimmtheit bestimmen sich wechselseitig. Damit erreicht Fichte eine Position klassischer Ausgewogenheit.
Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die geistige, liebevolle und moralische Unterstützung meiner Freunde und Kollegen: Dr. Dirk Fonfara, Dr. Markus Gabriel, Dr. Brankica Gagic, Dr. Christian Hanewald, Gretel und Dr. Heinrich Kleiner, Prof. Dr. Dieter Lohmar, Antonia und Dr. Barbara Mauersberg, Prof. Dr. Jan Opsomer, Irene Pelka, Dr. Jürgen Pelka, Dr. Klaus Pelka, Ute Pelka, Prof. Dr. Martin Pickavé, Prof. Dr. Ulrich Port, Ehepaar Corinna Pregla und Prof. Dr. Uwe Schnell, Dr. Danil Razeev und Prof. Dr. Shigeru Taguchi. Mein Dank gilt auch der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, für die freundliche Unterstützung.