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9. Die nächste Etappe

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Durch die Zeitarbeitsfirma in Teuma wurde er an eine Elektrofirma vermietet, die in der ehemaligen EHfL, jetzt Kunstakademie, umfangreiche Installationsarbeiten zu bewältigen hatte. Pünktlich traf er früh an der mit dem nächsten Arbeitgeber vereinbarten Stelle einen Monteur, der fast gleichaltrig wie Frank-Peter war. Thilo Eckert ließ sich vom Firmenfahrzeug bringen, das aber gleich darauf zur nächsten Baustelle fuhr. Thilo Eckert war sympathisch und erklärte genau, was zu tun sei. Die Arbeit war angenehm, erforderte Genauigkeit und branchenübergreifende Kenntnisse. So musste Frank-Peter als erstes einen Anschlussschutzkasten einbetonieren. Anschließend wurden Funktionskontrollen an Seilzuganlagen für Lampen in einer riesigen Halle, der Soltauhalle, durchgeführt. Die Halle war komplett eingerüstet, Thilo war auf der Rüstung in einer eingezogenen Arbeitsebene unter der Decke und Frank-Peter unten an einem dicken Strang Kabel. Man rief sich die zu prüfenden Kabelnummern zu. Nicht immer erfolgreich bei den Geräuschen der anderen Gewerke, wie etwa die zwei Meter nebenan arbeitende Mischmaschine. In diesem Augenblick kam der Chef und holte, als er das sah, aus dem Auto zwei Handfunkgeräte. Eine wesentliche Arbeitserleichterung. Das erste Mal seit Wochen war pünktlich Feierabend. Auch der folgende Tag war angenehm. Obwohl bei der Wärme wieder Kabel gezogen wurden, war das Arbeitsklima nicht von der Hektik geprägt, die Frank-Peter auf anderen Baustellen stets kennen gelernt hatte. Thilo Eckert erzählte seine Lebensgeschichte. Sein Sohn, jetzt 33, sei schon mit 18 aus dem Haus gegangen. Er hatte wie er Elektriker gelernt und ging danach zur Bundeswehr, wo er jetzt noch beschäftigt ist. Einzig die verschiedenen Standorte mit den langen Heimfahrten am Wochenende zu Frau und Kind waren ein Problem. Sein Sohn wohnte im Nachbarhaus von Thilo Eckert, der seit sieben Monaten stolzer Opa war. Thilo Eckert war früher Elektriker in der Landwirtschaft. Er hatte Berufsausbildung mit Abitur gemacht, wollte auch studieren, war aber nach dem Militärdienst der Meinung, dass er zu lange aus dem Lernbetrieb heraus war. Dafür baute er sich ein Häuschen auf Bodenreformland. „Und war der frühere Eigentümer da und wollte das Land wieder haben?“, fragte Frank-Peter. „Natürlich, aber an das bereits vergebene Bodenreformland kam der nicht mehr ran, nur an das, was noch im Besitz der Kommune war“. Thilo Eckert erzählte von seinem früheren Arbeitgeber, der einmal in Konkurs gegangen war. Die Beschäftigten hatten davon nur wenig mitbekommen. Das Verfahren wurde mangels Masse eingestellt, die Frau übernahm die Firma. Nach sieben Jahren setzte sie die Firma auch in den Sand und der alte Firmeninhaber war danach wieder der Chef. Auch hier sollte das Verfahren mangels Masse eingestellt werden. Einer der kleinen Chefs einer geprellten Firma, die ihre Außenstände nun unwiderruflich den Bach herunter gehen sah, hatte einen Schwager bei einer Bank. Dieser fand heraus, dass sein Chef noch über ein weiteres Konto mit 80.000 Euro verfügte, genau dem Zahlungseingang der letzten Baustelle. Dieses machte der kleine Chef bei Gericht geltend. Das Konto wurde nun in die Konkursmasse einbezogen und es kam nicht zu einer Einstellung mangels Masse. Hier zeigt sich grenzenlose Raffgier. Wie die Arbeitnehmer oder die geprellten Lieferanten abschneiden, interessiert herzlich wenig. Oder sollte man das „herzlich“ in diesem Zusammenhang verbieten?

Abends fuhr Frank-Peter noch in den Garten, die Pflanzen brauchten dringend Wasser, vor allem diejenigen, die in Kübeln standen. Hier kam er ins Gespräch mit der Tochter seines Gartennachbarn Ulrike. Sie ist Kontrolleurin bei den Leipziger Verkehrsbetrieben.

„Ich denke, die Kontrolleure sind von einer Fremdfirma?“, fragte Frank-Peter. „Ja, aber diese ist eine 100-prozentige Tochter der Verkehrsbetriebe“. Frank-Peter erfuhr, dass mit der Ausgliederung der Kontrolleure in eine Tochtergesellschaft 1997 der Lohn um 300 Euro verringert wurde. Urlaubsgeld wurde gestrichen und das Weihnachtsgeld wurde in 1/​12-Teilen jeden Monat gezahlt, aber nur, wenn man nicht krank ist. Als erstes nach diesem Lohneinschnitt musste sie ihr Auto verkaufen. Zum Glück bekamen sie im Jahr 2000 einen Haustarifvertrag. Die neuen Kollegen erhalten 800,- Euro im Monat, sie gerade einmal 100 Euro mehr, aber das seit dem Jahr 2000. Jede Lohnerhöhung der „neuen“ Kollegen wird aufgrund des Haustarifes bei ihr nur umgerechnet.

„Seit nunmehr 10 Jahren mit dem gleichen Einkommen, aber alles herum wird ständig teurer!“, schimpfte sie. „Ich weiß nicht, wie lange sich die Leute das noch gefallen lassen!“

„Noch lange“, sprach Frank-Peter, „noch lange. Für eine Solidarisierung untereinander geht es den Leuten ja noch zu gut“.

„Und dann wissen sie nicht, was sie machen sollen“, ergänzte die Frau, die die 50 schon ein Weilchen erreicht hatte.

Am Donnerstag kam der Chef auf die Baustelle. Er war mit dem Fortgang der Arbeiten sehr zufrieden, obwohl Frank-Peter andere Tempos gewohnt war. Hier war auch nicht jeder Handgriff planbar und die benötigte Zeit mit anderen Leistungen nicht vergleichbar. Er sprach Frank-Peter gleich mit „du“ an und verkündete: „Also, du wirst mindestens vierzehn Tage hier gebraucht.“ Beim Frühstück holte Thilo Eckert einen Brief aus der Tasche. „Mein Lohnzettel“, verkündete er. „Du hast doch bestimmt einen zweistelligen Stundenlohn?“, fragte Frank-Peter. „Bei meinem vorherigen Arbeitgeber hatte ich 8,40 Euro, jetzt habe ich 8,20 Euro“, berichtete Thilo Eckert und zeigte Frank-Peter seine Lohnbescheinigung. Auszuzahlender Betrag 1044 Euro, konnte Frank-Peter lesen. „Ist es nicht komisch, dass die Elektriker auf den Baustellen den niedrigsten Lohn haben, aber die fundierteste Ausbildung nachweisen müssen?“, begann Thilo Eckert. „Jeder Trockenbauer, der in vierzehn Tagen angelernt wird, bekommt mehr!“ Thilo Eckert kannte unendlich viele Witze. Damit lag er mit Frank-Peter gleichauf und die Arbeit verging wie im Fluge, auch wenn das schwül warme Wetter die ganze Woche körperlich von ihnen viel abverlangte. Selbst Freitagmittag war es noch 35° C und die Luft im großen Hörsaal, wo die Kabel gezogen wurden, stickig. Jedes einzelne Kabelpaar, das gezogen werden musste, war eher eine leichte Aufgabe. Nachdem aber pro Tag zwei Kilometer Leitung gezogen worden waren, merkte man jeden daran beteiligten Muskel. Bis Dienstag zog Frank-Peter mit seinem Kollegen acht Kilometer Datenleitung im großen Hörsaal, wobei Frank-Peter die Position auf dem Gerüst bekam. Diese acht Kilometer wurden zwar von zwei Kabeltrommeln abgespult, aber Frank-Peter musste wie bei Klimmzügen auf dem Gerüst jeden Meter Stück für Stück von den Trommeln ziehen.


Ein Bündel Datenkabel bei der Verlegung


Der große Hörsaal mit dem Raumgerüst. Oben links sind die Datenkabel erkennbar.

Eines Tages kam der Elektroplaner in den Hörsaal. Das war gut, denn es gab einige Detailfragen zu klären. Nebenbei bemerkte Frank-Peter: „Das ist ja eine riesige Baustelle. Gibt es auch schon einen Fertigstellungstermin?“ Der Ingenieur winkte ab. „In der Tat, die Baustelle ist gewaltig. Aber wir bauen nicht nach Termin, sondern nach Finanzen. Immer wenn Geld da ist, wird gebaut. Und gegenwärtig gibt es wieder Fördermittel!“ Dieses bauen nach dem Geldbeutel ist eine riesige Geldvernichtungsmaschine. Allein im großen Hörsaal ist ein Raumgerüst seit März aufgebaut. Betrachtet man nur die Mietkosten dieses Gerüsts, von den anderen Baustelleneinrichtungen ganz zu schweigen, ist schnell klar, dass es hier eine Menge Leute geben muss, die sich eine goldene Nase verdienen.

Am Mittwoch wollte Frank-Peter seine Stundezettel vorbereiten. Er hatte eine Folientasche, in der neben einem Block ein Notizbuch und die Stundezettel verstaut waren. Der Schreck war groß, als Frank-Peter erkennen musste, dass die vermeintliche Reserve an Formularen nach Entnahme der vergangenen Woche nur der leere Block war. „Scheiße“, entfuhr es ihm. Die Stundenzettel als Formulare für den Tätigkeitsnachweis waren alle. Es war bereits 17 : 00 Uhr. Wenn er anruft und sich neue schicken lässt, ist nicht sicher, dass diese auch am Donnerstag im Briefkasten stecken werden. Also rief Frank-Peter bei seiner Zeitarbeitsfirma an und erkundigte sich, wie lange noch jemand im Büro anzutreffen sein würde. Man versprach, auf Frank-Peter zu warten und so fuhr er nach Teuma, um neue Stundenzettel in Empfang zu nehmen. Dort erfuhr er von der Chefin, dass sein derzeitiger Arbeitgeber mit ihm sehr zufrieden sei und bereits eine Verlängerung des Einsatzes von Frank-Peter beantragt habe. „Die andern waren doch bestimmt auch alle zufrieden?“, wollte Frank-Peter wissen. „Ja, sehr sogar, vor allem der aus dem Westen. Irgendetwas müssen sie dem gesagt haben. Er fragt jedes Mal nach Ihnen!“

Die Lohnüberweisung war das reinste Desaster. Für die Arbeit des ersten Monats, davon vierzehn Tage Montage in den alten Bundesländern, gab es gerade einmal 83 Euro mehr, als das Arbeitslosengeld betragen hatte, rund 885 Euro. Diese 83 Euro wurden aber mehr als aufgebraucht durch die damit verbundenen Unkosten, wie Verpflegungskostenmehraufwand, Fahrkosten zu den einzelnen Arbeitsstellen (auch wenn mit dem Jahressteuerlohnausgleich ein kleiner Teil als Rückerstattung wieder zurück kommt), den Dauerbetrieb der Waschmaschine am Wochenende für die Arbeitssachen, Arbeitsschutzschuhe und nicht zu unterschätzen die fast wöchentlichen Fahrten zur Zeitarbeitsfirma, natürlich in der Freizeit. Für diese „immense“ Lohnzahlung gibt es auch noch einen Haken: fast eine weitere Hälfte unbezahlter, aber erforderlicher Stunden als Fahrzeit, unbezahlte Anfahrten zu den Großhändlern, Wartezeiten, weil ein Monteur verschlafen hatte usw. Die privaten Belange wurden der Arbeit völlig untergeordnet und blieben dabei auf der Strecke. In dieser Konstellation kommt Frank-Peter zu dem Schluss, dass er lebt um zu arbeiten, nicht umgekehrt, wie ihm schlaue Personaltrainer in unzähligen Schulungen einzureden versuchten. Zu den Fahrkosten hatte Frank-Peter vor Jahren einmal eine interessante Studie des ADAC gelesen. Demnach sind die Spritkosten nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Kosten. Fahrzeugversicherung, Unterhaltungskosten, Abschreibung …, wenn Frank-Peter dieses alles in seine Rechnung einbezieht, muss er zwangsläufig feststellen, dass sich die Arbeit nicht lohnt. Mit dem realen Nettolohn, also abzüglich der oben angeführten umfangreichen Nebenkosten, liegt Frank-Peter mit seinem Einkommen deutlich unter Hartz IV. Der Vollständigkeit halber sei aber erwähnt, dass für den ersten Monat eine Woche fehlt, der Start war am 07. 06. 2010! Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich Frank-Peter die Arbeit überhaupt leisten kann? Legt er sich dagegen zu Hause in seinen Sessel, bezieht Hartz IV (sofern er bezugsberechtigt wäre), hat er alle diese Ausgaben nicht und es bliebe am Ende sogar noch mehr übrig. Er könnte dann auch mit Schwarzarbeit hier und da ein paar Euro hinzu verdienen. Der Markt dafür ist riesengroß. Wenn er, wie er später noch feststellen wird, offiziell bei einem Kunden einen Schalter wechselt, ist eine Anfahrtspauschale, mindestens eine halbe Stunde Arbeitszeit und die zu vernachlässigenden Materialkosten fällig. Alles in allem sind das etwa 70 Euro. Für 25 Euro wechselt Frank-Peter diesen Schalter als Schwarzarbeit. Es wird immer gesagt, Schwarzarbeit macht die Wirtschaft kaputt. Das trifft bestimmt dort zu, wo ganze Grundstücke in dieser Art entstehen. Nicht selten sind die Bauherrn Juristen und andere Personen des öffentlichen Lebens. Die kleinen Handlangungen dagegen würden niemals beauftragt werden, wenn die offiziellen Gebühren erhoben werden würden. Das kann sich der kleine Mieter mit seinem schmalen Einkommen oder seiner Bonsai-Rente nicht leisten, zumal in den meisten Mietverträgen steht, dass Kleinreparaturen bis 70 Euro, neuerdings meistens bis 100 Euro vom Mieter selbst zu tragen sind. Warum eigentlich? Ist die Miete nicht schon genug? Diese Aufwendungen fehlen also in den Aufrechnungen niemals!

Am 26. 07. 2010 arbeitete Frank-Peter mit dem seit einer Woche aus dem Urlaub zurück gekehrten Marco Rechenberger7, Thilo Eckert hatte für einen Tag vorbereitende Arbeiten in der Firma zu erledigen. In ihrem Materialraum mussten sie Lampen für die Installation vorbereiten. Die werksseitig montierten Kabel waren zu lang und mussten gekürzt werden. Dabei erzählte der sonst so wortkarge Marco Rechenberger, dass seine Eltern beide arbeitslos seien und Hartz IV bezogen. Seine Mutter, Jahrgang 1955 ist gelernte Verwaltungsfachfrau, sein Vater, Jahrgang 1951, also ein Jahr älter als Frank-Peter, Kfz-Elektriker. Er ist schon so lange arbeitslos, dass er keinen Mut mehr hat, eine Arbeit anzunehmen. Er traut sich den heutigen Stress einfach nicht mehr zu. „Wirkt sich das nicht aufs Familienleben aus?“, fragte Frank-Peter. Marco Rechenberger nickte stumm und nachdenklich.

Abends traf Frank-Peter im seinem Wohnhaus einen Mitbewohner, der seit kurzer Zeit Rente bekam. „Die haben mir den Abschied wahrlich sehr leicht gemacht“, sprach Dietmar Dullmann, einst Hausmeister mit Leib und Seele in einer der größten Wohnungsgenossenschaften Deutschlands. Erst haben sie allen 90 Hausmeistern den Lohn um 400 Euro gekürzt, weil das Unternehmen angeblich rote Zahlen schreibt. Es muss gespart werden, hieß es. Dietmar Dullmann, die nahe Rente schon sicher, fragte auf einer Betriebsversammlung: „Der Bereich Hausmeister besteht doch nicht nur aus den 90 Hausmeistern, sondern auch noch aus einer Verwaltung und einer nicht mal geringen Führungsetage. Werden dort auch solche Einsparungen vorgenommen?“ Es wurde dort nicht gespart, sagte er verbittert zu Frank-Peter. Als nächstes sollten die Überstunden, die noch aus dem vergangenen Jahr stammten, ersatzlos gestrichen werden. Dietmar Dullmann ist sofort zum Betriebsrat und hat damit gedroht, vor Gericht gehen zu wollen. Seine Überstunden wurden daraufhin nicht gestrichen, wohl aber die aller anderen Hausmeister, die sich nicht trauten, den Mund aufzumachen. Deren Zeit bis zur Rente ist noch bedeutend länger und die Möglichkeit, missliebige Kollegen zu kündigen schwebte wie ein Damoklesschwert über deren Häuptern. Erpressung mit staatlicher Genehmigung?

Am Dienstag erfuhr Frank-Peter, was für vorbereitende Arbeiten Thilo Eckert in der Firma gemacht hatte. Er durfte Leuchtenteile für die große Halle umlackieren. Die Firma hatte weiße bestellt und silberfarbene sollten eingebaut werden. Weiß ist die Standardfarbe und ohne Preisaufschlag zu bekommen, konnte Frank-Peter später bei anderen Produkten feststellen. Der Chef war dagegen, dass Thilo Eckert die Umlackierung auf der Baustelle vornimmt, denn das darf keiner sehen, sagte er. So gab es also einen Tag Innendienst für Thilo Eckert und neue Erfahrungen beim Umgang mit Sprayflaschen und Felgenlack.

Auf der Gerüstdecke arbeitete auch ein Malermeister. Der war damit beschäftigt, die ursprüngliche Farbgebung wenigstens an einem kleinen Teil der Decke als Hommage an den Denkmalschutz wieder herzustellen. „Warum wird nicht die ganze Decke so gemalt?“, fragte Frank-Peter. Der Malermeister schaute über seinen Brillenrand und machte eine unmissverständliche Körperbewegung. „Das ist viel zu teuer!“, und mit einem Blick auf die von Frank-Peter und Marco Rechenberger installierten Lampen, die zum Leuchtenwechsel an einem eingebauten Lift herabgelassen werden können mit einem verschmitztem Augenzwinkern: „weil eure Lampen zu viel kosten!“ In einer anderen Halle zeigte Thilo Eckert Frank-Peter, wie dort damals die Farbgebung vorgenommen wurde. Die gesamte Wand wurde mit einem farbigen Putz versehen. Anschließend wurde eine zweite, andersfarbige Putzschicht darüber aufgetragen und das gewünschte Muster so tief ausgeschnitten, dass dort die erste Farbschicht sichtbar wurde. Im Rahmen der Rekonstruktion hat man sich aber dort nur auf Farbe verlassen. Die Grundsteinlegung für das gesamte Areal war 1953. Damals hatte das geschundene und mit vielen Kriegsnarben verunstaltete Land die Mittel aufbringen können, die gesamte Decke der riesigen Halle und die Wände der anderen Hallen farblich anspruchsvoll zu gestalten und eine regelrechte Talentfabrik für Künstler entstehen zu lassen.

In den Medien wurde in diesen Tagen eine Statistik veröffentliche. Demnach stieg in Deutschland und überproportional in Ostdeutschland zum einen der Anteil an Minilohn-Empfängern und zum anderen war bei Neueinstellungen der Anteil der Zeitarbeiter von 25 % in Januar auf über 34 % gestiegen. In Ostdeutschland hatten 2008 fast 13 Prozent der Beschäftigten in den neuen Ländern einen Stundenlohn von unter sechs Euro. Im Westen seien es dagegen 5,4 Prozent gewesen. Jeder fünfte Beschäftigte (20,7 Prozent)8 erhielten 2008 einen Niedriglohn. Nach einer OECD-Definition heißt das, Betroffene im Westen bekamen weniger als 9,50 Euro, in Ostdeutschland weniger als 6,87 Euro brutto pro Stunde. Etwa jeder dritte Geringverdiener (gut 2,1 Millionen) arbeitete sogar für Stundenlöhne unter sechs Euro brutto, 1,15 Millionen für weniger als fünf Euro. Seit 1998 ist die Zahl der Geringverdiener um fast 2,3 Millionen gestiegen! Sind denn die Ossis alle doof? Gibt das nicht auch mit der damit verbundenen Kaufkraft eine Rückwirkung auf die Industrie und den seit 20 Jahren erwarteten Aufschwung? Schlaue Gewerkschaftsfunktionäre deuteten dies als eine staatlich gewollte Maßnahme zur Lohnsenkung. Der DIHT-Präsident kritisiert hingegen die seiner Meinung nach noch zu wenigen Lenkungseingriffe vom Staat, damit noch kürzere Kündigungsfristen möglich werden und noch mehr befristeter Anstellung keine Bremse für einen Aufschwung sind. Warum wird immer der Wolf gefragt, wenn es um vegetarische Kost geht? „Gesundheit ist eine hässliche Krankheit - sagen die Bakterien.“9. Mit gleicher Präsenz müssten einmal die Arbeitnehmer gefragt werden, was sie vom Minilohn und von den Lohnsenkungen halten. Selbst in den relativ gut zahlenden Firmen werden durch Tarifwechselaktionen Zustände geschaffen, die für Neueinstellungen gewaltige Einschnitte bringt und bei den so hoch gelobten Tariferhöhungen den „alten“ Mitarbeitern nur eine Verschiebung des so genannten Auffüllbetrages bringt. Quasi erfahren diese dann im Laufe der Jahre eine Lohnkürzung in Höhe der Teuerungen. Frank-Peters Ehefrau hat so seit mehr als zehn Jahren keine Lohnerhöhung mehr erfahren. Die Beeinflussung durch die Medien ist schon prekär. Wenn Eisenbahner (gleiches betrifft auch alle anderen Bereiche) streiken, kolportiert die Presse die Auffassung der Arbeitgeber, die Beschäftigten würden die Bahnkunden als Geisel für die Durchsetzung ihrer (natürlich überhöhten) Lohnforderungen missbrauchen. Ist es nicht eher umgekehrt? Die oberen Führungsetagen missbrauchen die Bahnkunden als Geißel, um die Arbeitnehmer mit Dumpinglöhnen zu erpressen?

Der Mittwoch brachte einen neuen Baustellenbereich im gleichen Areal. „Ganz schnell“ sollte am Treppenhaus hinter dem großen Hörsaal mit den Arbeiten angefangen werden. Also erst einmal Aktionismus, damit es nach Arbeit aussieht. Was sich so banal anhörte, erwies sich bei näherer Betrachtung als Arbeit für die nächsten vierzehn Tage. Der Denkmalschutz verlangte die Verwendung der alten Lampen. Die heutigen Vorschriften und der erkennbare Verschleiß durch über fünfzig Jahre Betrieb erlaubten indes die unsanierte Nutzung nicht mehr. Wer zum Teufel ist also nun für die Aufarbeitung der Lampen zuständig? Absprache? Fehlanzeige! Erst einmal wurden diese sehr vorsichtig demontiert, ein Kraftakt im Treppenhaus. Wie immer lassen die Verantwortlichen die Monteure „wursteln“, um sie bei Schäden abzustrafen, aber keinesfalls bei erfolgreichen Engagement mit Lob zu verwöhnen. Die Verantwortung wird durch Unterlassung von notwendigen Absprachen einfach nach unten delegiert. Der Haustechniker Dietmar Lohmann lagerte die Lampen auch freundlicherweise ein, damit sie im Bereich der Baustelle nicht noch mehr zu Schaden kommen. Die vorhandenen Unterlagen warfen für Marco Rechenberger und Frank-Peter eine Menge Fragen auf, die entscheidenden Einfluss auf Arbeit hatten. In einem Telefonat versprach der Chef, am Donnerstag auf die Baustelle zu kommen. Und er kam. Wie immer tat er sehr wichtig und versprühte eine Aura, die nach Hektik anmutete. Auch er hatte für einige der Fragen keine Antworten und wollte diese mit dem Elektroplaner klären. Für Frank-Peter hatte er eine schlechte Nachricht: „Du bist ab kommender Woche abgemeldet! Das hat nichts mit dir zu tun“, sprach er zu Frank-Peter. „Aber du siehst ja, die großen Hängepartien haben wir geschafft und jetzt können die eigenen Leute allein weiter machen!“ Frank-Peter hatte an diesem Tag ein Kabelsuchgerät von zu Hause mitgebracht, um den Verlauf der Zuleitungen zu den Lampen herauszubekommen und wenigstens die alten Rohre nutzen zu können. „Das erspart eine Menge Arbeit“, meinte Thilo Eckert, als er Frank-Peter bei der Arbeit zusah. Wenn Zeitarbeiter als „Feuerwehr“ auf die Baustellen bestellt werden und dort mehr machen, als man das von normalen Gesellen erwarten könnte, müssten doch diese Spezialisten, die also die Karre aus dem Dreck ziehen, einen höheren Verdienst bekommen, als die Festangestellten. Das würde ihren Einsatz sicher auch zeitlich befristen. Aber damit will sich in der Politik ja niemand beschäftigen. Die Wirtschaft soll schon selber machen, was sie für richtig hält. Den Unternehmen zumindest erspart es eine Menge an Kosten und flexibler ist man alledem. Auftragsschwankungen werden so besser abfedert und auf die Schultern der Kleinen verladen. Reicht das nicht mehr, muss der Staat mit Hartz IV die Grundsicherung übernehmen. Sicher kann man nicht alle Firmen über den gleichen Kamm scheren. Ein gewisser Trend ist jedenfalls nicht zu verkennen.

Als uralte Schalter demontiert wurden, fiel Frank-Peter die kyrillische Schrift auf. „Da siehst du mal“, sprach Thilo Eckert, dem er das Typenschild zeigte, „da heißt es immer, die Russen haben als Reparationen alles weg geholt, hier haben sie sogar geliefert!“ Ein Irrtum, wie sich bei genauer Betrachtung des Typenschildes heraus stellte. Es handelte sich ein Erzeugnis des Stalin Werkes in Berlin-Treptow.


Die Typenschilder der demontierten Schalter in deutscher und kyrillischer Schrift

Von vier Schaltern war ein Typenschild in deutscher Sprache, drei in russischer. Das bedeutet, dass dort Produkte vor allem als Reparationsleistung für die Sowjetunion hergestellt wurden und ein Teil der Produktion seinerzeit für die Kunstschule abgezweigt worden war. Der Freitag war gekennzeichnet von Stemmarbeiten mit dem Bohrhammer. Obwohl der Schutt gleich zusammengekehrt wurde, zog eine gewaltige Staubwolke durch den 800 Meter langen Quergang. Jeder Schritt aus diesem Areal heraus zeichnete eine weiße Fußspur, die jeden Kriminalisten begeistert hätte. Aber hier nicht. „Du wirst am Montag bestimmt vom Bauleiter etwas zu hören bekommen“, sprach Frank-Peter zu Marco Rechenberger. Der zuckte mit den Schultern. „Als man hier den Putz abgehackt hat, war mit Folie eine Staubschutzwand errichtet worden. Vielleicht machen wir das auch. Aber jetzt ist schon der größte Teil der Wandschlitze gestemmt“. Nicht ganz, wusste Frank-Peter. Es kam noch einiges auf die Kollegen zu. Aber das mussten sie ohne ihn erledigen.

Ich kann mir die Arbeit nicht leisten

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