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Lebensweltapriori

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Die Erinnerung an das »lebensweltliche Apriori« ist zugleich eine Erinnerung an Husserl. Dessen Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) ist für die folgenden Untersuchungen ein wiederkehrender Bezugspunkt. In § 36 findet sich jene Bemerkung, an die Kambartel und Mittelstraß anknüpfen: Demnach ist »alles objektive Apriori« der Wissenschaften »auf ein entsprechendes lebensweltliches Apriori« notwendig zurückbezogen.59 Sämtliche in den Wissenschaften erhobenen Geltungsansprüche lassen sich letztlich nur aufgrund ihrer epistemischen Verankerung in der Lebenswelt einlösen. Die Lebenswelt definiert Husserl kurz zuvor als »die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen hinaus als erfahrbar wissen. Wir haben einen Welthorizont als Horizont möglicher Dingerfahrung.«60 Würde es Husserl bei dieser Definition belassen, wäre der Schulterschluss zwischen Konstanz und Freiburg perfekt. Schon Rüdiger Welter hat jedoch ausführlich auf die grundlegenden Differenzen zwischen den Lebensweltkonzepten des Phänomenologen und der Konstruktiven Wissenschaftstheorie hingewiesen.61 Sie müssen deshalb nicht noch einmal hervorgehoben werden. Husserls Theorie der Lebenswelt ist von ihren bewusstseinsphilosophischen Grundlagen bis zu ihren ontologischen Ambitionen ein derart anders angelegtes Projekt, dass sich die anfänglich bemerkte Nähe auf den zweiten Blick mehr als eine von Schlagworten als von Begriffen herausstellt.

Freilich stehen philosophische Begriffe nicht unter Patentschutz, und Husserl hält nicht die Rechte an dem der Lebenswelt. Ein Aspekt, der zu den zahllosen Anschlussunternehmungen beigetragen hat, liegt gerade in der Unschärfe des Husserlschen Lebensweltbegriffs, dessen Bestimmung als »Welthorizont« zudem den Charakter einer absoluten Metapher im Sinne Blumenbergs hat. Prägnanz gewinnt er am ehesten durch die Angabe dessen, was Lebenswelt nicht ist. Sie fällt zum einen nicht mit dem zusammen, was Husserl (historische) Umwelt nennt und was wir heute am ehesten als Kultur im Plural bezeichnen würden.62 Zum anderen ist sie die Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren. Damit markiert das universale Lebensweltapriori methodologisch eine Grenze zum Kulturrelativismus wie zum Positivismus. Lebenswelt ist das Korrelat zu einer Erfahrung, die weder durch einen spezifischen kulturellen Kontext einfach hintergangen noch durch die Wissenschaften übertroffen werden kann.

Die letztgenannte Grenze wird durch den bereits genannten praktischen Fundierungszusammenhang zwischen theoretischer und vortheoretischer Erfahrung deutlich, die erstgenannte durch die Möglichkeit der Übersetzung und der Verständigung zwischen verschiedenen Sprachen und kulturellen Praxisformen sowie durch die Ausbreitung technischer Erfindungen über Ländergrenzen hinweg. Auch wenn es zweifellos Wechselwirkungen zwischen der in Europa entstandenen modernen technisch-wissenschaftlichen Kultur und der lebensweltlichen Erfahrung gibt, so wird die Lebenswelt doch so lange nicht zu einer Kolonie jener Kultur, wie eine Verständigung über deren Eigensinn noch möglich ist. Die Tatsache des Redens über die Leonardo-Welt belegt die Gültigkeit des lebensweltlichen Apriori. Anders gewendet, das Faktum der Vermittlung impliziert die Vermittelbarkeit in einem seinerseits unmittelbar gegebenen Raum der Unterscheidung und Orientierung. Wenn im Folgenden von der Lebenswelt die Rede ist, dann im Sinne dieses intersubjektiv geteilten Raums von Erfahrungsweisen und Praxisformen (die Poiesis eingeschlossen), die zwar vor- und außerwissenschaftlich gewachsen, aber gleichwohl universalisierbar sind.

Die vorwissenschaftlichen Voraussetzungen wissenschaftlicher Theoriebildung umfassen neben dem Komplex aus Unterscheidungs- und Orientierungswissen sowie Argumentationspraxis auch technisches Know-how. Man verfehlt das Wesen moderner Naturwissenschaft, wenn man sie als theoretische Grundlage von Technik und diese bloß als deren Anwendung ansieht. Vielmehr gilt umgekehrt, dass Naturwissenschaft ohne die Verwendung von Mess-, Rechen- und Experimentaltechnik arbeitsunfähig ist. Das Experiment ist keine Frage, auf die die Natur antwortet. Laboratorien sind durchweg künstliche Szenarien, die mit erheblichem Aufwand hergestellt und von Störungen reingehalten werden müssen. Valérys Aperçu, Wissenschaft sei die Gesamtheit der Rezepte und Verfahren, die immer gelingen, trifft einen wesentlichen Punkt. Was wir über die Natur wissen, wissen wir durch die Zuverlässigkeit, mit der die im Experiment eingesetzte Technik innerhalb eines akzeptablen ›Konfidenzintervalls‹ die erwarteten Messwerte liefert. Natur ist demgegenüber, was diese Harmonie stört, was für unerwartete Ergebnisse sorgt, was Widerstand leistet. Die sogenannten Naturgesetze sind methodisch gesehen, wie Holm Tetens pointiert, »Apparategesetze«.63 Sie sind Handlungsanweisungen für den Experimentator: Tue das, und du wirst jenes erhalten.

Auf den Qualitätsunterschied zwischen »normierender Regelung und kausaler Regelung« hat bereits Husserl in seinen Logischen Untersuchungen (1900) nachdrücklich hingewiesen. »Das Beispiel der Rechenmaschine macht den Unterschied völlig klar. Die Anordnung und Verknüpfung wird naturgesetzlich so geregelt, wie es die arithmetischen Sätze für ihre Bedeutungen fordern. Aber niemand wird, um den Gang der Maschine physikalisch zu erklären, statt der mechanischen die arithmetischen Gesetze heranziehen.«64 Apparategesetze sind ein Fall von (Wissenschaftlerhandlungen) normierender Regelung, Naturgesetze ein Beispiel für kausale Regelung. Hier gilt es zunächst, die »mythische Rede von den Naturgesetzen als waltenden Mächten des natürlichen Geschehens« abzuwehren – »als ob die Regeln ursächlicher Zusammenhänge selbst wieder als Ursachen, somit als Glieder eben solcher Zusammenhänge sinnvoll fungieren könnten«.65 Die Reifikation von Naturgesetzen beruht auf einem Kategorienfehler, der Regeln und Ursachen auf eine Stufe stellt. Sodann muss beachtet werden, dass die kausale Regelung in der normierenden methodisch fundiert ist. Kausalzusammenhänge werden nicht einfach beobachtet, sondern empirisch gesättigt hergestellt. Die naturwissenschaftliche Exploration eines Kausalnexus verlangt die Befolgung normierender Regeln für das Wissenschaftlerhandeln bei der Konstruktion von Experimentalanordnungen.

Als promovierter Mathematiker war sich Husserl darüber im Klaren, dass selbst der Mathematiker »in Wahrheit nicht der reine Theoretiker ist, sondern nur der ingeniöse Techniker, gleichsam der Konstrukteur, welcher, in bloßem Hinblick auf die formalen Zusammenhänge, die Theorie wie ein technisches Kunstwerk aufbaut«.66 Auch seine ›Einsichten‹ sind von normierenden Regelungen abhängig, die seine Konstruktionen anleiten. Was es jedoch bedeutet, einer Regel zu folgen, lernt der Mathematiker nicht erst im Mathematikstudium, so wenig, wie der Experimentalwissenschaftler erst im Labor lernt, Gebrauchsanweisungen zu lesen. Die Differenz zwischen normativen Regeln und Kausalzusammenhängen ist Teil jenes lebensweltlichen Unterscheidungs- und Orientierungswissens, das die Philosophie als Studium von Qualitätsunterschieden auf Begriffe bringt.

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