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Kulturphänomenologie und Methodischer Kulturalismus
ОглавлениеDer von Husserl beschriebene Idealisierungsprozess ist ein Fall dessen, was in der Erlanger Schule Konstruktiver Wissenschaftstheorie »Hochstilisierung« heißt. Paul Lorenzen wusste, was er Husserl und der Phänomenologie zu verdanken hat: »Erst im Anschluß an Dilthey und Husserl haben Misch einerseits und Heidegger andererseits deutlich gemacht, was das heißt, daß das Denken vom Leben, von der praktischen Lebenssituation des Menschen, auszugehen hat. Alles Denken ist eine Hochstilisierung dessen, was man im praktischen Leben immer schon tut.«89 ›Hochstilisierung‹ ist hier natürlich positiv gemeint als methodische Verbesserung und Verfeinerung von Messverfahren und Prognosen.
Husserl stellt diesen Vorgang für unser lebensweltliches Kausalwissen folgendermaßen dar: »Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion, beruht alles Leben. […] Alle Praxis mit ihren Vorhaben impliziert Induktionen, nur daß die gewöhnlichen, auch die ausdrücklich formulierten und ›bewährten‹ induktiven Erkenntnisse (die Voraussichten) ›kunstlose‹ sind gegenüber den kunstvollen ›methodischen‹ […] Induktionen.«90 Wissenschaft verdankt sich einer Hochstilisierung lebensweltlicher Praxis91 mit dem Ziel, eine objektive Erkenntnis »für jedermann«92 zu ermöglichen. Ihre Objektivität besteht in Transsubjektivität, das heißt, es kommt nicht darauf an, wer ein bestimmtes (z. B. Mess-)Verfahren anwendet, weil begründet sichergestellt ist, dass es ceteris paribus verlässliche Ergebnisse liefert. In der modernen Experimentalwissenschaft spiegelt sich dieser Transsubjektivitätsanspruch in der Norm, dass Messergebnisse (auch von anderen Forschern) replizierbar sein müssen.
Lorenzen will zeigen, »daß die theoretische [d. i. erkennende] Vernunft selber ein normatives Fundament hat«. In diesem wohlverstandenen Sinne beginnt die Philosophie damit, praktische »Vernunft in die Wissenschaften zu bringen«.93 Genauer versteht Lorenzen darunter, erstens die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis an ihrer Transsubjektivität festzumachen und zweitens diese Transsubjektivität auf die Praxis ihrer Sicherstellung zurückzuführen. Der Anspruch auf objektive, d. h. transsubjektive Geltung wissenschaftlicher Aussagen wird methodisch gesichert durch Experiment, Auswertung von Archivmaterialien und dergleichen mehr. Das Erlanger Programm sieht vor, Wissenschaft als eine Praxis des Redens und Handelns zu rekonstruieren, in der Normen durch Begründung gegenüber Anderen kritisch angeeignet werden.
Argumente sind, nach einer Formulierung Karl-Otto Apels, »Sinn- und Geltungs-Ansprüche, die nur im interpersonalen Dialog expliziert und entschieden werden können«.94 Eine Behauptung, die mehr ist als eine bloße Meinung, hat demnach prinzipiell die folgende implizite Struktur: Ein Proponent beansprucht gegenüber einem Opponenten mit Gründen die Geltung einer Aussage. Jemand, der eine Behauptung aufstellt, so formuliert den gleichen Gedanken Jürgen Habermas, »muß über eine ›Deckungsreserve‹ guter Gründe verfügen, um erforderlichenfalls seine Gesprächspartner von der Wahrheit der Aussage zu überzeugen und ein rational motiviertes Einverständnis herbeiführen zu können«.95 Diskursive Behauptungen erheben einen Anspruch auf Geltung gegenüber einem Anderen, der dazu berechtigt ist, Gründe für diesen Anspruch einzufordern.
Es sind nicht nur der diskursive Ansatz und der Begriff des Geltungsanspruchs, die eine Nähe zwischen Konstruktiver Wissenschaftstheorie und Kritischer Theorie begründen. Im Kern verbindet beide die (letztlich Kantische) Überzeugung, dass die Vernunft praktisch ist. Gegen den gemeinsamen Gegner des Positivismus machen sie den Primat praktischer Vernunft geltend. Nachdem Lorenzen und Habermas 1969 in Düsseldorf auf dem Deutschen Kongress für Philosophie zum Kongressthema »Philosophie und Wissenschaft« gesprochen hatten, war sogar von einer »Großen Koalition« zwischen Erlanger und Frankfurter Schule die Rede.96 Die Konstruktive Wissenschaftstheorie ist freilich nicht in Erlangen verblieben. Die Lorenzen-Schüler Jürgen Mittelstraß und Peter Janich gründeten in den 1970er bzw. 1980er Jahren die Konstanzer bzw. Marburger Schule. Janich wählte für seine Weiterentwicklung des Erlanger Programms die Bezeichnung Methodischer Kulturalismus. Den pragmatistischen Ansatz, der theoretisches Kennen aus einem methodischen Können rekonstruiert, ergänzt Janich um die kulturalistische These, dass das methodische Können der Wissenschaften stets in einen kulturellen Kontext eingebettet ist.
Der Janich-Schüler Michael Weingarten stellt einen Zusammenhang zwischen der kulturalistischen Wende der Konstruktiven Wissenschaftstheorie mit der Husserlschen Phänomenologie her: »Die Wendung vom ›Kennen‹ zum ›Können‹ muß also weitergeführt werden zur Rekonstruktion der Art und Weise der kulturellen Einbettung wissenschaftlichen Tuns; Husserl hat mit seinen Überlegungen zu Wissenschaft und Lebenswelt dazu das Stichwort gegeben.«97 Naturwissenschaften kulturalistisch zu verstehen, bedeutet nach Janich, Kultur nicht naturalistisch zu einem »Teilbereich der Natur« zu erklären, sondern vielmehr umgekehrt, »Natur als Gegenstand menschlicher Praxis, von Ackerbau und Viehzucht bis zum Gegenstandsbereich moderner Naturwissenschaft« zu betrachten.98 Janich weist darauf hin, dass der Kulturbegriff etymologisch (von lat. colere für ›bebauen, bearbeiten, Ackerbau betreiben‹) mit dem Naturbegriff über die Landwirtschaft verbunden ist: Natur ist das vom Menschen nicht Gemachte, auf das sich menschliches Machen zweckorientiert bezieht. Anders formuliert: Natur ist das an den Mitteln Unverfügbare,99 wie z. B. das Wachsen und Gedeihen oder Eingehen und Verdorren der Feldfrüchte. Für den Methodischen Kulturalisten unterscheidet sich dieses Naturverhältnis nicht substantiell von dem der Naturwissenschaften. Auch in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis erscheint Natur als das Unverfügbare an den zu bestimmten Zwecken eingesetzten methodischen Mitteln.
Der Methodische Kulturalismus neigt mit seinem Primat der Methode vor der Sache allerdings dazu, das Natürliche allzu sehr auf das Widerständige im Gelingen oder Misslingen von Handlungen zu reduzieren. In seiner Erwiderung auf einen Einwurf von Hermann Schmitz stellt Janich den »Widerfahrnischarakter des Gelingens und Mißlingens« als passiven Aspekt »an jeder Einzelhandlung« gegenüber den aktiven Aspekten der Zielsetzung und Mittelergreifung heraus.100 Während sich der Methodische Konstruktivismus stärker mit dem aktiven Handlungsaspekt beschäftigt, steht zumindest in der sogenannten Neuen Phänomenologie eher der passive Aspekt im Fokus. Beide Philosophien, so Janich, arbeiten »an zwei komplementären Aspekten ein und derselben Sache […], an einem philosophischen Verständnis nämlich des Menschen und seiner kulturellen Hervorbringungen«. »Das ›Machen‹ z. B. der Gegenstände von Wissenschaft ist nichts, was einem Roboter oder einer Maschine übertragen werden könnte, sondern ist immer eine aus vielen Einzelhandlungen bestehende Kulturleistung, die ohne den Einfluß des Sensiblen nicht zustande kommen könnte.«101
Freilich ist Komplementarität leichter gesagt als getan. Nicht jedes Widerfahrnis setzt eine Handlung voraus. Nicht jedes Handeln ist an klare Gelingensbedingungen geknüpft. Die Sache der Kulturphänomenologie: der Mensch und seine kulturellen Hervorbringungen, ist eingelassen in Horizonte, die in Handlungsbegriffen nicht adäquat zu beschreiben sind. Die Konstitutionsanalyse führt, wie bereits erwähnt, auf eine naturale Dimension unmittelbarer, elementarer Bedürfnisse, die wir auch mit Tieren gemeinsam haben. Auf der anderen Seite wirkt die jeweilige Kultur, in der wir leben, wie eine zweite Natur, die jedoch kein »Einfluß des Sensiblen« ist. Der Begriff des Menschen lässt sich nur »in Begriffen menschlicher Kultur« bestimmen.102 Eine Phänomenologie der kulturellen Praxis muss daher ausgehen vom Menschen als »Subjekt-Objekt der Kultur und als Subjekt-Objekt der Natur«.103 Natur und Kultur sind nicht bloße Komplemente; im Menschen sind sie ineinander verschlungen.