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Kulturphänomenologie und Kritische Theorie

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Die an Husserl anschließende Kulturphänomenologie besitzt nicht nur eine Familienähnlichkeit mit der Konstruktiven Wissenschaftstheorie, sondern auch mit der Kritischen Theorie. Weingarten erinnert als Vertreter des Methodischen Kulturalismus daran, dass sich Husserls Diagnose einer Krise der europäischen Wissenschaften mit den Einwänden der Kritischen Theorie deckt.104 Dafür spricht, dass unmittelbar nach Erscheinen der Krisis-Schrift Max Horkheimer im ersten Heft des Jahrgangs 1937 der Zeitschrift für Sozialforschung seine Wertschätzung für die Abhandlung in einer Fußnote von »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« zum Ausdruck bringt: »Bei aller Gegensätzlichkeit der Denkart Husserls zu der hier vertretenen Theorie hat seine Altersstudie mit ihrer höchst abstrakten Problematik mehr mit den gegenwärtigen geschichtlichen Aufgaben zu tun als der sich zeitgemäß dünkende Pragmatismus oder das vermeintlich dem ›Mann am Schraubstock‹ angepaßte Reden und Denken mancher jüngeren Intellektuellen, die sich schämen, es zu sein.«105 Da sich seine Arbeit am eigenen Aufsatz mit der Publikation der Krisis überschneidet, kann Horkheimer zwar nur einen flüchtigen Blick in die Neuerscheinung werfen, erkennt in Husserl aber einen Verbündeten gegen die Neopositivisten des Wiener Kreises, namentlich Carnap und Neurath.

Rudolf Carnap reduziert in einer Reihe von Aufsätzen, die in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift Erkenntnis Anfang der Dreißigerjahre erscheinen, die Philosophie auf Wissenschaftstheorie. Um griffige Formulierungen nicht verlegen, behauptet er: »Es gibt keine Philosophie als Theorie, als System eigener Sätze neben denen der Wissenschaft. Philosophie betreiben bedeutet nichts Anderes als: die Begriffe und Sätze der Wissenschaft durch logische Analyse klären.«106 Ein Aufsatz trägt den programmatischen Titel »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache« (1932). Darin erkennt er nur noch Sätze der Logik, der Mathematik und der empirischen Wissenschaften als sinnvolle Sätze an. Die Sätze der Metaphysik, zu der Carnap auch Wertphilosophie und Normwissenschaft (Praktische Philosophie und Ästhetik) zählt, erzeugen lediglich den Anschein, etwas Sinnvolles zu meinen, während sie mangels empirischer Überprüfbarkeit eigentlich sinnlos sind. Philosophen, die vorgeben, rational über Normen diskutieren zu können, missverstehen als Wissenschaft, was nur »Ausdruck des Lebensgefühls« ist. Dies leiste die Kunst jedoch wesentlich besser: »Kunst [ist] das adäquate, die Metaphysik aber ein inadäquates Ausdrucksmittel für das Lebensgefühl«. »Metaphysiker sind Musiker ohne musikalische Fähigkeit.« Metaphysik, so Carnaps vernichtendes Urteil, sei nur ein unzulänglicher Ersatz für die Kunst.107

Gegen die positivistischen Angriffe versucht Horkheimer ein Denken zu verteidigen, das sich nicht das Wollen versagt, eine Philosophie, die sich nicht zur Magd der Physik macht, und eine Vernunft, die sich auf mehr als bloßes Kalkulieren versteht. Die Reduktion der Philosophie auf Analyse physikalischer Sätze wiederholt die Abstraktion »von allem Subjektiven, von der gesamten menschlichen Praxis«, die diesen Sätzen methodisch zugrunde liegt. Und genau in der Kritik dieser Abstraktion sieht sich Horkheimer in einer Allianz mit Husserl. Die »späte Publikation des letzten wirklichen Erkenntnistheoretikers« erklärt den »unkritische[n] Objektivismus« und »die Verabsolutierung der Fachwissenschaft« in einer historischen Rekonstruktion der mathematisierten Physik.108

Daran knüpft auch Herbert Marcuse in seiner Rezension der Krisis an: Husserl zeige, wie »Produkte einer wissenschaftlichen ›Methode‹ zum ›wahren Sein‹ hypostasiert werden« und wie Rationalismus und Empirismus gleichermaßen »von der ›vorwissenschaftlichen‹ Praxis, von den Subjekten als ›Personen‹ eines personellen und kulturellen Lebens« abstrahieren, »ohne diese Abstraktion jemals zurückzunehmen«. Die Philosophie habe es dagegen »mit den von jener Abstraktion zurückgelassenen Subjekten zu tun«, die Phänomenologie wolle »wieder auf die vergessenen Subjekte zurückgehen«.109 In Husserls Worten lautet die Textstelle, die Marcuse hervorhebt: Galilei »abstrahiert von den Subjekten als Personen eines personellen Lebens, von allem in jedem Sinne Geistigen, von allen in der menschlichen Praxis den Dingen zuwachsenden Kultureigenschaften«.110 Wenige Seiten zuvor führt Husserl aus, wie eine über das Ziel hinausschießende Mathematisierung der Natur dazu führt, »daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«, und vergessen, wozu die mathematische Methode in der Physik eigentlich da ist, nämlich zur Verbesserung des lebensweltlichen Prognosewissens. Der Zweck, dem die neuzeitliche Naturwissenschaft ursprünglich dienen sollte, liegt im außerwissenschaftlichen Leben und ist auf die menschliche Lebenswelt bezogen.

Jede naturwissenschaftliche Beobachtung findet in der »Welt der wirklich erfahrenden Anschauung« statt, und in dieser Welt, in der »wir selbst gemäß unserer leiblich personalen Seinsweise« leben, »finden wir nichts von geometrischen Idealitäten, nicht den geometrischen Raum, nicht die mathematische Zeit mit allen ihren Gestalten«. Diese »Trivialität« ist verschüttet »durch jene Unterschiebung einer methodisch idealisierenden Leistung für das, was unmittelbar, als bei aller Idealisierung vorausgesetzte Wirklichkeit gegeben ist«.111 Eine solche Subreption dreht die wahren Verhältnisse um: Die Lebenswelt, aus der wissenschaftliche Objektivität entspringt und von der sie methodisch abhängig bleibt, wird zur bloß subjektiven Erscheinung einer mathematisch idealisierten ›objektiven‹ Hinterwelt. Die Verselbständigung der Produkte gegenüber den Produktionsbedingungen bleibt nicht folgenlos für den Produzenten: »Ist die anschauliche Welt unseres Lebens bloß subjektiv, so sind die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet.«112

Diese Entwertung des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens ist eine Folge des positivistischen Verdikts, streng zwischen Werturteilen und Erfahrungswissen zu unterscheiden, wie Max Weber es 1904 für die Sozialwissenschaften fordert.113 Ohne Webers Namen zu nennen, bezieht sich Husserl auf dessen Definition strenger Wissenschaft durch die Ausschaltung »alle[r] wertenden Stellungnahmen«. Nach diesem Forschungsprogramm ist »Wissenschaft, objektive Wahrheit […] ausschließlich Feststellung dessen, was die Welt, wie die physische so die geistige Welt tatsächlich ist«.114 Beschränkt man das Denken auf Probleme der Formalwissenschaften Mathematik und Logik einerseits sowie der Erfahrungswissenschaften andererseits und setzt erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis mit der Feststellung von Tatsachen gleich, dann fallen alle diejenigen Probleme aus dem Kreis des Denkbaren heraus, die das Faktische auf ein kontrafaktisches Sollen hin überschreiten.

Husserl nennt diese Probleme Vernunftprobleme, weil sie sich nicht in der begrifflichen Strukturierung des Gegebenen erschöpfen, sondern über das bloß Gegebene hinaus Fragen nach epistemischer Wahrheit und moralischer Richtigkeit, Freiheit und Verantwortung stellen. Werden die Vernunftprobleme von der kulturell dominierenden epistêmê zur doxa und zu bloß subjektiven Befindlichkeiten relativiert, dann wirkt das wissenschaftliche Selbstverständnis auf das außerwissenschaftliche zurück: »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen.«115 Sie verlieren den »Glauben an die ›Vernunft‹«. Verliert aber »der Mensch diesen Glauben, so heißt das nichts anderes als: er verliert den Glauben ›an sich selbst‹, an das ihm eigene wahre Sein, das er nicht immer schon hat«. Der Philosophie fällt angesichts dieser »Krisis des europäischen Menschentums« die Aufgabe zu, die »latente Vernunft zum Selbstverständnis ihrer Möglichkeiten zu bringen«.116

Die publizistische Gleichzeitigkeit von Husserls letzter Einführung in die Phänomenologie und Horkheimers erster programmatischer Begründung der Kritischen Theorie117 greift Habermas auf, als er 1965 Horkheimers Lehrstuhl in Frankfurt übernimmt. Den eigenen Positivismusstreit mit Albert ohne erfolgreiche Verständigung gerade hinter sich gebracht, entwickelt er seine Theorie der erkenntnisleitenden Interessen. Für die Antrittsvorlesung wählt er den Titel: »Erkenntnis und Interesse«. Mit Blick auf die Krisis urteilt Habermas so ausdrücklich wie unmissverständlich: »Husserl ließ sich damals von eben dem Theoriebegriff leiten, dem Horkheimer einen kritischen entgegenhielt.«118 Er kritisiere zwar den positivistischen Schein, der die Konstitution von Tatsachen verdeckt und »dadurch die Verflechtung der Erkenntnis mit Interessen der Lebenswelt nicht zu Bewußtsein kommen läßt«. Aber weil »die Phänomenologie das zu Bewußtsein bringt, ist sie selber, so scheint es, solchen Interessen enthoben; der Titel der reinen Theorie, den die Wissenschaften zu unrecht reklamieren, gebührt mithin ihr. An dieses eine Moment, die Entbindung der Erkenntnis von Interesse, knüpft Husserl die Erwartung praktischer Wirksamkeit.«119 Indem Husserl den positivistischen Schein aufheben will, verfällt er selbst dem Schein reiner, das heißt von allen, auch emanzipatorischen Interessen reiner Theorie.

Der Positivismus werde aber nicht »durch die Kraft einer erneuerten Theoria gebrochen, sondern allein durch den Nachweis dessen, was er verdeckt: des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse«.120 Daher ergänzt Habermas die kritische Gesellschaftstheorie um eine kritische Wissenschaftstheorie, die Methoden mit erkenntnisleitenden Interessen korreliert. Er unterscheidet das technische Erkenntnisinteresse an der operativen Kontrolle vergegenständlichter Prozesse vom praktischen Interesse an (Selbst- und Fremd-)Verständigung sowie dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse an Mündigkeit. Habermas gesteht Husserl zwar zu, das technische Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaft rekonstruiert zu haben. Aber er bestreitet, dass Husserl mit der phänomenologischen Theoriearbeit selbst ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse verbindet. Eine interesselose Erkenntnis gibt es nur als Lippenbekenntnis, nicht in der Erkenntnispraxis. In der Wissenschaft gibt es keine unbeteiligten Zuschauer (siehe Kap. 5). Husserl ist also auf halbem Weg stehen geblieben, als er die wissenschaftliche Theoriebildung in die vor- und außerwissenschaftliche Praxis zurückverfolgt, die eigene philosophische Theorie dagegen von lebensweltlichen Interessen durch epochê entkoppelt hat.

Wer Husserls Wiener Vortrag »Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit« vom Mai 1935 kennt, weiß, dass er weiter gegangen ist. Da für Husserl die europäische Krise letztlich eine philosophische Krise ist, die »in einem sich verirrenden Rationalismus«121 wurzelt, geht er zu den Anfängen der Philosophie im antiken Griechenland zurück. Die geschichtsteleologische Betrachtung legt er aber nicht intellektualistisch, sondern voluntaristisch an, indem er sich an drei verschiedenen Einstellungen orientiert. Unter einer Einstellung versteht Husserl »einen habituell festen Stil des Willenslebens in damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen«, in dem »das jeweilig bestimmte Leben« verläuft. »In irgendeiner Einstellung lebt die Menschheit (bzw. eine geschlossene Gemeinschaft wie Nation, Stamm usw.) in ihrer historischen Lage immer.«122 Die grundlegende Einstellung ist die natürliche Einstellung des praktischen Weltlebens, in der auch historisch die religiös-mythische Einstellung fundiert ist. Von allen praktischen Interessen sieht dagegen die rein theoretische Einstellung ab, die Husserl für eine genuine Erfindung der griechischen Antike hält. Es ist jener »Wechsel der Interessen«123 der sich von der praktischen Feldmesskunst hin zur reinen Geometrie vollzogen hat, die an die Stelle einer realen Messpraxis die »ideale Praxis eines ›reinen Denkens‹ [setzt], das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält«.124 Diese Idealisierung vollzieht sich aufgrund einer »Umstellung des praktischen in ein rein theoretisches Interesse« am »wahre[n]«, »objektive[n] Sein der Welt«,125 unabhängig von praktischen Anwendungsmöglichkeiten.

Doch mit dieser Gegenüberstellung von Praxis und Theorie hat es nicht sein Bewenden. »Denn es ist noch eine dritte Form der universalen Einstellung möglich […], nämlich die im Übergang von theoretischer zu praktischer Einstellung sich vollziehende Synthesis der beiderseitigen Interessen, derart daß die […] Theoria […] dazu berufen wird […], in einer neuen Weise der Menschheit, der in konkretem Dasein zunächst und immer auch natürlich lebenden, zu dienen. Das geschieht in Form einer neuartigen Praxis, der der universalen Kritik alles Lebens und aller Lebensziele, aller aus dem Leben der Menschheit schon erwachsenen Kulturgebilde und Kultursysteme, und damit auch einer Kritik der Menschheit selbst und der sie ausdrücklich und unausdrücklich leitenden Werte«.126 Auf dieses kritische Interesse verpflichtet Husserl auch die Phänomenologie. »Es möchte mir scheinen, daß ich, der vermeintliche Reaktionär, weit radikaler bin und weit mehr revolutionär als die sich heutzutage in Worten so radikal Gebärdenden.«127

Radikal ist die Phänomenologie, weil sie an der Wurzel der Krise ansetzt, und revolutionär, weil sie die Enteignung des arbeitenden Subjekts umkehrt: »Indem die anschauliche Umwelt, dieses bloß Subjektive, in der wissenschaftlichen Thematik vergessen wurde, ist auch das arbeitende Subjekt selbst vergessen, und der Wissenschaftler wird nicht zum Thema. (Somit steht, von diesem Gesichtspunkt aus, die Rationalität der exakten Wissenschaften in einer Reihe mit der Rationalität der ägyptischen Pyramiden.)«128 Wer diese Bemerkung zu schnell als bloße Wissenschaftstheorie abtut, verkennt das weitergehende kritische Anliegen, hinter den Erzeugnissen die Subjekte zur Geltung zu bringen, die sie hervorgebracht haben. Mögen diese Erzeugnisse kulturelle Traditionen, wissenschaftliche Theorien oder die ägyptischen Pyramiden sein, als deren Erbauer allenfalls noch die Pharaonen bekannt sind, nicht aber die Heerscharen von Arbeitern und Sklaven, die sie errichteten. In jeder Tatsache steckt eine Tat, und diese darf nicht zugunsten bloßer Funktionalität und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Husserls Idee einer universal verantwortlichen Wissenschaft129 hat in diesem Sinn etwas mit Gerechtigkeit zu tun.

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