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Gegenwartsarchäologie

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Simmels Formulierung des neuzeitlichen Erkenntnisideals, das nicht zuletzt in der Geldwirtschaft eine materielle Grundlage hat, führt von der Diagnostik der Gegenwart auf ihre Archäologie zurück. Die Idee, »alle qualitativen Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein quantitative aufzulösen«, ist charakteristisch für die europäische Neuzeit und Moderne. Weder in der Antike noch im Mittelalter war dies die beherrschende wissenschaftliche Weltansicht. Mit Blick auf das Naturverhältnis tauchen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung immer wieder zwei prominente Namen auf: Leonardo da Vinci (1452–1519) und Galileo Galilei (1564–1642). Diese beiden stehen emblematisch für einen Epochenbruch in der Naturforschung, der sich am Anfang der Neuzeit im 16. und 17. Jahrhundert vollzogen hat.

Paul Valéry erkennt in Leonardo den Vorläufer einer Wissenschaft, deren Wesen darin besteht, »das Wissen vom Können abhängen zu lassen«. Die moderne Wissenschaft definiert Valéry als »die Gesamtheit der Rezepte und Verfahren […], die immer gelingen […]: alles andere ist Literatur«. »Ihr Vertrauen beruht einzig und allein auf der Gewißheit, ein bestimmtes Phänomen mittels bestimmter wohldefinierter Handlungsschritte reproduzieren oder wiedersehen zu können.« Das Herstellen übernimmt die »Bürgschaft« für das Wissen. »Wir wissen, was wir können. Alles übrige ist nur Austausch von Worten.«37 Die Philosophie, »zuständig für Qualitäten«, mit dem Wort als »Mittel und Zweck«, wandert somit von der Seite der Wissenschaft auf die der Literatur.38 Leonardo verstand unter »echtem Wissen nur etwas, dem irgendein Handlungsvermögen entsprach. Schöpferisches Tätigsein, Konstruieren waren für ihn untrennbar von Erkennen und Verstehen.« Mit diesem Denken »schlug er einen Weg ein, auf dem unser Geist sich heute bewegt«.39 Die »Arbeit des Geistes« hat »nicht mehr eine letzte Schau zum Ziel«;40 der aktive Geist löst den kontemplativen ab, und eine seiner wesentlichen Aktivitäten ist das Experiment. Im Experiment wird das Naturphänomen mittels Apparaten hergestellt. Die Technik ist das neue Prinzip der Naturerkenntnis. Für diesen Primat des Könnens steht in Valérys Rekonstruktion der modernen Episteme Leonardo Pate: »Das Trachten nach dem Automaten, nach Erkenntnis durch Konstruktion behauptete in seinem Denken die oberste Stelle.«41

Das von Vico zugunsten der erst später sogenannten Geisteswissenschaften ins Feld geführte Axiom von der Austauschbarkeit des Wahren und des Gemachten trifft nach Valéry ebenso gut, wenn nicht noch besser auf die experimentierenden Naturwissenschaften zu: »Ich verstehe nur, was ich zu machen verstehe42 Aber auch die Theoretische Physik ist keine kontemplative Schau der Natur – erlauben die von ihr verwendeten mathematischen Gleichungen es doch, einen Naturvorgang durch Berechnung in Gedanken herzustellen. Das Experiment entscheidet dann über die Belastbarkeit der Formel in der äußeren Natur. Die Wissenschaft im Geiste Leonardos ist eine Wissenschaft von Handlungen.43 »›Ich kann‹, ›Wir können‹ – ist wesentlich für die Naturwissenschaften, insbesondere für die Mathematik.«44 Messen und Berechnen, Quantifizieren und Digitalisieren sind diejenigen Handlungen, die das Naturverhältnis der modernen Wissenschaften prägen. Valéry pointiert das Originelle dieser neuartigen Weltbeziehung in dem Satz: »Einzig Vermögen und Voraussicht sind also das wahre, solide Objekt der Wissenschaft und nicht die Erkenntnis, die Anschauung der Welt.«45 Es ist nicht nur der Finger (digitus), es ist die ganze Hand (manus), die zum Begreifen nötig ist. Wissenschaftliche Erkenntnis erhält somit manipulativen Charakter.

Dieses technische Naturverhältnis, das die Neuzeit prägt, ist in der Lesart Hans Blumenbergs eine Reaktion auf den Nominalismus, der für das ausgehende Mittelalter charakteristisch ist. »So sind die Begriffe nur ›nomina‹, nicht ›conceptus‹, und ›richtig‹ und ›falsch‹ drücken nur die ökonomische Funktion des innerweltlichen Sich-Einrichtens und Sich-Zurechtfindens aus. Damit aber hat unser Erkenntnisvermögen von vornherein einen Charakter erhalten, den man getrost als ›technischen‹ ansprechen kann: es ist nicht vernehmend hingegeben an das Seiende, das ihm doch verschlossen ist, sondern es ist originär schöpferisch, eine ganz und gar menschliche, nur auf die menschliche Weltaufgabe hingeordnete Einheit von Begriffen und Gesetzen produzierend.« Auch für Blumenberg ist Leonardo eine »Schlüsselgestalt der beginnenden Neuzeit«.46 Nach dieser Interpretation ist die moderne Orientierung wissenschaftlicher Theorie an der Poiesis Ausdruck einer Entfremdungserfahrung. Während das Wesen der Dinge der theoretischen Erkenntnis unerreichbar bleibt, werden sie zum Material der praktischen Verfügbarkeit.

Nicht Nominalismus, sondern gerade einen Platonismus sieht Ernst Cassirer bei Galilei am Werk, der die Platonische Unterscheidung einer Welt des Seins von einer Welt des Werdens durch Mathematik überwindet. Fortan erfassen Maß und Zahl nicht mehr nur das Unveränderliche, sondern auch den Bereich des Veränderlichen.47 Zugleich fällt die Aufteilung des Kosmos in eine sublunare, terrestrische und eine supralunare, himmlische Sphäre – das Universum lässt sich durch eine Mechanik beschreiben und deren Sprache ist die Mathematik. Außerdem verschwimmt die von Platon gezogene Grenze zwischen reiner und angewandter Mathematik.48 Es ist also gerade diese neoplatonische Mathematisierung der Natur, durch die sich nach Cassirer die Neuzeit vom Mittelalter unterscheidet.49 Die Mathematik war zwar schon lange vor der Renaissance ein Element der Kultur, aber erst durch Denker wie Leonardo oder Galilei wurde sie zu einer »neuen kulturellen Macht«. Mathematik ist fortan nicht bloß ein Feld, sondern das einzig gültige Kriterium des Wissens.50

Für die neuzeitlich-moderne, »wissenschaftsgestützte technische« Kultur hat Jürgen Mittelstraß den Ausdruck Leonardo-Welt vorgeschlagen, die als solche »Produkt« und »Werk des Menschen« ist.51 Das Neuartige dieser mit der Renaissance anhebenden neuzeitlichen Welt sieht Mittelstraß wie Valéry in der »methodische[n] Verbindung von technischem Können und theoretischer Vernunft«.52 Charakteristisch für die Leonardo-Welt, in der wir nun seit 500 Jahren leben, ist die gegenüber Antike und Mittelalter neue Form instrumenteller, hergestellter Erfahrung auf der Grundlage technischer Konstruktionen. Mittelstraß unterscheidet zugespitzt zwischen dem Aristotelischen und dem Galileischen Erfahrungsbegriff: »Kennzeichnend für den Aristotelischen Erfahrungsbegriff ist […], dass er in Form einer noch vor-theoretischen Praxis […] sowohl Basis als auch Begründungsmittel einer theoretischen Praxis, der Praxis empirischer Wissenschaften ist.«53 Die Begriffe und Lehrsätze der Physik des Aristoteles werden aus der Alltagssprache gebildet, und die alltägliche Lebenspraxis ist es auch, die sie bestätigen soll.

In der neuzeitlichen Naturwissenschaft tritt mit der systematischen Einführung des Experiments an die Stelle »der vor-theoretischen Lebenspraxis […] die technische Praxis« des Herstellens von Experimentalanordnungen, Messgeräten und letztlich auch von Erfahrung selbst. Der Galileische Erfahrungsbegriff ist im Gegensatz zum Aristotelischen »an die Bedingungen einer messenden Physik gebunden; als empirisches Wissen tritt nicht mehr auf, was sich als ein vor-theoretisches Wissen theoretisch fassen läßt, sondern was mit den Instrumentarien einer physikalischen bzw. technischen Praxis […] gewonnen wurde«.54 Angesichts dieses veränderten Verständnisses von Empirie verlieren die empirischen Wissenschaften methodologisch das »Interesse an einer vor-theoretischen Erfahrungsbasis«. Der vortheoretische Erfahrungsbegriff »gilt nunmehr als ›unwissenschaftliches‹ Pendant zur wissenschaftlichen, d. h. auf eine Theorie des Messens gegründeten Empirie«.55 Im Gegenzug wird jene Erfahrung als ›bloß subjektiv‹ abqualifiziert.

Mittelstraß versucht, den vor-messtheoretischen Aristotelischen Erfahrungsbegriff methodologisch zu rehabilitieren, und übernimmt das für diesen Zweck von Friedrich Kambartel eingeführte Konzept des »lebensweltlichen Apriori«, das seinerseits auf Edmund Husserl zurückgeht. Der Galileische Erfahrungsbegriff soll durch den Aristotelischen nicht substituiert, sondern vielmehr supplementiert werden. Das Ziel ist die »Ergänzung« der ›Galileischen‹ theoretischen Praxis »um ihre vor-theoretischen […] Voraussetzungen«.56 Zu diesen vortheoretischen Voraussetzungen zählt Mittelstraß einerseits die »sprachliche Unterscheidungs- und Orientierungspraxis«, die auch eine Argumentationspraxis einschließt, und andererseits die »technische Praxis«, die ein elementares Herstellungswissen implementiert.57 Beides lässt sich, wie wir noch sehen werden, sehr gut an Husserls Rekonstruktion der Geometrie aus der Feldmesspraxis nachvollziehen. Genauso geeignet ist aber wiederum die Messbarmachung von Wärme als Temperatur. Die Erfindung des Thermometers setzt nicht nur ein Unterscheidungswissen über die Differenz zwischen warm und kalt voraus, sondern auch ein Herstellungswissen für die Produktion von Glasröhren usw. Naturwissenschaftliche Theorie ist undenkbar ohne verlässliche Messtechnik, und Messtechnik ist undenkbar ohne die kundige Herstellung von Messgeräten. Zielgerichtetes und interessegeleitetes Herstellungshandeln mit der ihm eigenen Normativität von Gelingen und Scheitern ist jedoch kein Naturvorgang, sondern eine menschliche Praxis.

Allerdings ist festzuhalten, dass der von Mittelstraß beschriebene »Galileische Erfahrungsbegriff« beim Übergang von der Neuzeit in die Moderne eine doppelte Transformation durchlaufen hat: Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Abkopplung des Messens vom Erleben (z. B. Wellenschreiber, sog. Kymographen) und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Einsatz von Computersimulationen. Das vielleicht elaborierteste Beispiel für die Abkopplung des Messprozesses von jeglicher Anschauung ist heutzutage ein Teilchenbeschleuniger, der zwar ein Messgerät ist, jedoch keinerlei sinnliche Beobachtung ermöglicht. Die Forscher lesen vielmehr abstrakte Zeichen auf Computermonitoren ab. Gerade die Physik – zu denken wäre etwa an den Nachweis von Gravitationswellen durch Laserinterferometer – macht deutlich, in welch hohem Maße die moderne naturwissenschaftliche Empirie von der Ingenieurskunst abhängig geworden ist. Wer über die moderne Naturwissenschaft spricht, darf über Ingenieurswissenschaft nicht schweigen. Man könnte diesen Transformationsprozess auch als ein zunehmendes Blackboxing (Bruno Latour) der technischen Mittel beschreiben, die in empirischen Wissenschaften zum Einsatz kommen. In gewisser Hinsicht wandert die Erfahrung selbst in die Black Box der Mess- bzw. Simulationsapparatur. Die wissenschaftsgeschichtliche Fortentwicklung des »Galileischen Erfahrungsbegriffs« lässt damit fragwürdig erscheinen, wieweit in der Moderne überhaupt noch sinnvoll von Empirie als Erfahrung gesprochen werden kann.58

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