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Gegenwartsdiagnostik
ОглавлениеMit Blick auf das ausgehende 20. Jahrhundert und unter dem Eindruck des Reaktorunfalls in Tschernobyl wählt Ulrich Beck 1986 für die in den 1970er Jahren einsetzende zweite Moderne den Ausdruck reflexive Modernisierung. Dabei handelt es sich um eine »Rationalisierung zweiter Stufe«: Haben Wissenschaft und Technik »religiöse Weltbilder« entzaubert, »so werden heute das Wissenschafts- und Technikverständnis der klassischen Industriegesellschaft entzaubert«.3 Die Entzauberung von Wissenschaft und Technik kommt nicht von außen, sondern ist durch deren eigene Fortschritte motiviert. Sind sie im 19. Jahrhundert vor allem die Motoren der Produktion von Reichtum, so treten Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert zunehmend als Produktivkräfte von Risiken auf. Als der Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl am 26. April 1986 explodiert, hat Beck die Arbeit an seinem Buch Risikogesellschaft bereits abgeschlossen. Doch bereits vor dem größten anzunehmenden nukleartechnischen Unfall gab es genügend Anschauungsmaterial für die Risiken und Nebenwirkungen moderner Industrieproduktion.
Die Grenze wissenschaftlicher Rationalität zeigt sich gerade dort, wo die Risiken solcher Unfälle in Form von Wahrscheinlichkeiten quantifiziert werden sollen. Die Kernenergie eignet sich besonders dazu, diese Grenze zu verdeutlichen: Denn auch »eine noch so gering gehaltene Unfallwahrscheinlichkeit ist dort zu hoch, wo ein Unfall die Vernichtung bedeutet«. In Risikodiskussionen werden, so Beck, daher »Risse und Gräben zwischen wissenschaftlicher und sozialer Rationalität im Umgang mit zivilisatorischen Gefährdungspotentialen deutlich«.4 Freilich müssen auch Kernenergiegegner auf wissenschaftliche Expertise zurückgreifen, deshalb haben wir es mit einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis unterschiedlicher Rationalitätsformen zu tun: »Wissenschaftliche ohne soziale Rationalität bleibt leer, soziale ohne wissenschaftliche Rationalität blind.«5 Überdies macht die quantifizierende Risikoforschung bereits von qualitativer sozialer Rationalität durch die Definition von Risiken Gebrauch: Risiken bleiben »selbst dort, wo sie wortlos in Zahlen und Formeln gekleidet einherkommen, prinzipiell standortgebunden, mathematische Verdichtungen verletzter Vorstellungen vom lebenswerten Leben. […] Trotz aller Unkenntlichkeit kann dieser normative Horizont, in dem erst das Risikohafte des Risikos anschaubar wird, letztlich nicht wegmathematisiert oder wegexperimentiert werden. Hinter allen Versachlichungen tritt früher oder später die Frage nach der Akzeptanz hervor und damit die alte neue Frage, wie wollen wir leben? Was ist das Menschliche am Menschen, das Natürliche an der Natur, das es zu bewahren gilt?«6 In die statistische Berechnung von Risiken gehen ethische, anthropologische und politische Unterscheidungen zwischen dem Wünschenswerten und dem zu Verhindernden ein, die nicht ihrerseits statistisch erhoben oder begründet werden können.
Der von Beck eingeführte Begriff reflexiver Modernisierung bezeichnet den Selbstbezug der Moderne auf ihre eigenen Bedingungen und Effekte. Charakteristisch für die zweite Moderne ist daher auch die reflexive Verwissenschaftlichung: »Die industrielle Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse schafft nicht nur Probleme, die Wissenschaft stellt auch die Mittel – die Kategorien und das Erkenntnisrüstzeug – zur Verfügung, um die Probleme überhaupt als Probleme erkennen und darstellen zu können (bzw. erscheinen zu lassen) oder eben nicht. Schließlich stellt die Wissenschaft auch noch die Voraussetzungen für die ›Bewältigung‹ der selbstverschuldeten Gefährdungen zur Verfügung.«7 So führt auch in Fragen des unsere Zeit so sehr beschäftigenden Klimawandels an Wissenschaft und Technik kein Weg vorbei – weder epistemisch, z. B. durch die Erhebung von Daten und die Modellierung von Szenarien, noch strategisch, z. B. durch die Entwicklung neuer Antriebstechnologien oder Verfahren zur Speicherung atmosphärischen Kohlenstoffs.
Während Gefahren für das eigene Leben in Form von Risikoversicherungen externalisiert werden, besitzen Risikoabschätzungen auch eine »Internalisierungsmacht«.8 Das pränataldiagnostisch berechnete Risiko schwerer Erkrankungen setzt werdende Eltern unter den Entscheidungsdruck, die Schwangerschaft gegebenenfalls abzubrechen; das Risiko einer erblich bedingten Krebserkrankung hat die Schauspielerin Angelina Jolie dazu veranlasst, sich vorsorglich beide Brüste entfernen zu lassen; das Risiko irreversibler intensivmedizinischer Versorgung motiviert die Absicherung des rechtzeitigen Todes in Patientenverfügungen usw. Wir haben die Parameter der Risikogesellschaft so erfolgreich internalisiert, dass jeder als verantwortungslos gilt, der sich nicht nur nicht gegen Risiken durch entsprechende Policen absichert, sondern auch nicht durch die angemessene Lebensführung vorsorgt, d. h. sich ausgewogen ernährt, hinreichend bewegt, tief genug schläft usw. Dies ist der Hintergrund für die Figur des quantifizierten Selbst, das sich in seiner Bemühung der optimierten Lebensweise durch elektronische Schrittzähler, Puls- und Blutdruckmesser, Schlaf-Apps und vieles mehr helfen lässt. Dieser individuelle »Quantifizierungskult« ist freilich nur Symptom einer »umfassenden Quantifizierung des Sozialen«, die Steffen Mau in seinem Buch Das metrische Wir (2017) beschreibt.9
Das »Regime der Quantifizierung«10 transformiert »qualitative Unterschiede in quantitative Ungleichheiten« und verändert dadurch »unsere Ungleichheitsordnung, weil bislang Unvergleichbares miteinander vergleichbar gemacht und in ein hierarchisches Verhältnis gebracht wird«.11 Mau führt als Beispiele des Ungleichheiten produzierenden Quantifizierungsregimes Ratings und Rankings an, Scorings und Screenings, Noten für Produkte, Dienstleistungen oder Personen und nicht zuletzt im Bereich der Wissenschaft die leistungsorientierte Mittelvergabe. »Alles kann, soll oder muss vermessen werden – ohne Zahlen geht nichts mehr. Die gesellschaftliche Semantik, verstanden als die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft selbst beobachtet und beschreibt, bezieht sich zunehmend auf die messbare Seite der Welt und des Lebens.«12 Was nicht unmittelbar messbar ist, wird messbar gemacht, so dass das Inkommensurable kommensurabel wird. Das Paradigma dieser Funktion ist Geld, das qualitatives Anderssein in ein quantitatives Mehr- oder Wenigersein transformiert. Das Gleiche leisten Punkte in einem Ranking oder arithmetisch gemittelte Bewertungen eines Hotels. Nach Maus Einschätzung befinden wir uns auf dem Weg »zu einer datengetriebenen Prüf-, Kontroll- und Bewertungsgesellschaft, die nur noch das glaubt, was in Zahlen vorliegt.«13 Dabei werden »Vergleichbarkeitsfiktionen in Bezug auf Sachverhalte« geschaffen, »die eigentlich unvergleichbar sind«.14
Im gesellschaftlichen Raum sind Zahlen nicht neutral, sondern implementieren politische Agenden. Ihre Funktion als Steuerungsinstrumente untersucht der Philosoph Oliver Schlaudt in seiner Studie Die politischen Zahlen (2018). Schlaudt erinnert an den historischen Ursprung der Zahlen und der Mathematik in Verwaltung und politischer Steuerung. »Als erste Zahlzeichen identifizierten Forscher Marken auf Lehmtafeln, die im Mesopotamien des vierten vorchristlichen Jahrtausends wohl ökonomische Transaktionen verbrieften«. Die im 17. Jahrhundert entwickelte Wahrscheinlichkeitsrechnung, »deren Anwendung ein entscheidender Schritt in der Umwandlung von ›Gefahren‹ in ›Risiken‹ darstellt, entstammt […] dem Versuch, den geschäftsmäßigen Umgang mit Gefahren durch die Entwicklung einer universellen Methode zu rationalisieren und zu ›domestizieren‹«.15 Das in der Neuzeit aufkommende Versicherungswesen ist darauf angewiesen, Gefahren als Risiken zu quantifizieren, und die Stochastik liefert dafür die Methodik. Mathematische Verfahren sind von Menschen für bestimmte Zwecke ersonnene Techniken. Auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wissenschaft und Technik, das dem weit verbreiteten Irrtum entgegensteht, Technik sei bloß angewandte Wissenschaft, wird mit Blick auf die Naturwissenschaften noch zurückzukommen sein. In Hinsicht auf ›politische Zahlen‹ steht dagegen die »›Soziotechnik‹ des Verwaltens und Regierens«16 im Mittelpunkt.
In der Covid-19-Pandemie 2020 konnte man die Dialektik politischer Zahlen gut beobachten. Einerseits waren alle Regierungen gut beraten, die frühzeitig den Rat von Epidemiologen und Virologen eingeholt haben, um möglichst schnell Maßnahmen gegen die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 zu ergreifen. Andererseits erfolgte ebenso schnell eine politische Fetischisierung epidemiologischer Bezugsgrößen – wie Verdopplungszeit, Basisreproduktionszahl (»R Null«), die relative Zahl der Neuinfektionen pro Zeit oder die Kapazität verfügbarer Intensivbetten – mit zeitlich wechselnder Relevanz. Gelegentlich sahen sich medial besonders präsente Virologen genötigt, die Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass Wissenschaftler keine politischen Entscheidungen fällen, sondern lediglich Grundlagen für dieselben bereitstellen. So boten die Wochen, in denen eine ganze Bevölkerung gebannt auf ›die neuen Zahlen‹ wartete, nicht nur eine Möglichkeit, etwas über die Logik wissenschaftlicher Forschung und die ihr inhärente epistemische Produktivität von Irrtümern zu lernen, sondern auch, sich den Qualitätsunterschied zwischen wissenschaftlichen und politischen Fragen klarzumachen. Spätestens die Mahnung des Bundestagspräsidenten, dem Lebensschutz nicht alles andere unterzuordnen, eröffnete eine Debatte über genuin politische Ziele, die nicht sinnvoll mit Zahlen geführt werden kann.
Qualitätsunterschiede spielen auch in den neuesten Gegenwartsdiagnosen von Hartmut Rosa (2018) und Andreas Reckwitz (2019) eine bedeutende Rolle. Nach Rosa ist der moderne Mensch darum bemüht, die Welt beständig in Reichweite zu bringen und in einem vierfachen Sinne verfügbar zu machen: Das Unsichtbare soll sichtbar, das Unzugängliche erreichbar, das Unbeherrschbare beherrschbar und das Natürliche nutzbar werden. Beherrschen und Berechnen verwendet Rosa durchweg als Hendiadyoin: »Verfügbarmachung der Welt bedeutet, sie berechenbar und beherrschbar zu machen«.17 Die »Effekte« einer Resonanzbeziehung, für Rosa Ausdruck eines gelingenden Selbst- und Weltverhältnisses, lassen sich dagegen »weder berechnen noch beherrschen«.18 Dieselben Mittel, die der moderne Mensch einsetzt, um sich in der Welt einzurichten, verhindern daher, dass er dieses Ziel erreicht, wenn die Mittel an die Stelle der Zwecke treten.
Für Reckwitz ist die Spätmoderne durch Singularisierung charakterisiert: »Während die industrielle Moderne […] auf der Reproduktion von Standards […] basierte und man von einer ›Herrschaft des Allgemeinen‹ sprechen konnte, ist die spätmoderne Gesellschaft an der Verfertigung von Besonderheiten und Einzigartigkeiten, sie ist an der Prämierung von qualitativen Differenzen, Individualität, Partikularität und dem Außergewöhnlichen orientiert.«19 Reckwitz zeigt damit, dass nicht nur Zahlen, sondern auch Qualitätsunterschiede einen Fetischcharakter annehmen können. Man denke nur an die Bedeutung der ›feinen Unterschiede‹ (Bourdieu) von Produkten und Ereignissen, Reisen und Wohnungseinrichtungen, Ess- und Trinkgewohnheiten, Kleidungsstilen, Film- und Musikgeschmäckern und was sie über Personen aussagen, die sich darüber unterscheiden wollen, indem sie jeweils das Besondere, Einzigartige und Außergewöhnliche suchen. Nicht selten werden aber gerade auch die solcherart zu Scheinsingularitäten fetischisierten Qualitätsunterschiede in Zahlen gemessen: sei es der höhere Preis, den man für ein Tablet auszugeben bereit ist, sei es die niedrigere Zahl der Individualreisenden im Gegensatz zur Masse der Pauschaltouristen oder sei es der Unikatstatus eines maßgeschreinerten Möbelstücks.
In seiner »Theorie der digitalen Gesellschaft« (2019)20 leitet Armin Nassehi die Quantifizierung aus einer fundamentalen Digitalisierung ab. Die Digitalisierung lässt er nicht erst mit dem Einsatz von Computertechnologie beginnen: »Nicht der Computer hat die Datenverarbeitung hervorgebracht, sondern die Zentralisierung von Herrschaft in Nationalstaaten, die Stadtplanung und der Betrieb von Städten, der Bedarf für die schnelle Bereitstellung von Waren für eine abstrakte Anzahl von Betrieben, Verbrauchern und Städten/Regionen.«21 Deshalb verortet Nassehi den Beginn der Digitalisierung der Gesellschaft in der »Frühzeit der Moderne« und sieht das »Bezugsproblem für die Entstehung einer digitaltechnischen Verarbeitung von Informationen […] weniger in dem quantitativen Aspekt einer Erhöhung von Berechnungsbedarf«, sondern »eher in der qualitativen Veränderung gesellschaftlicher Komplexitätslagen«.22 Unter Komplexität versteht Nassehi »die Musterhaftigkeit des Verhältnisses von Merkmalen zueinander«.23 Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine Steigerung solcher Merkmalsbeziehungen (in Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Recht, Politik, Arbeit usw.) aus, deren Muster durch Digitaltechniken wie Sozialstatistik allererst freigelegt werden müssen, um sie steuern zu können.
Nassehi macht quantifizierende Verfahren von der Digitalisierung der Gesellschaft abhängig und nicht umgekehrt. »Die digitale, statistische Entdeckung der Gesellschaft findet die quantifizierbare Form der Gesellschaft nicht einfach vor, sondern muss diese Quantifizierungen durch Kategorien erst zählbar machen.«24 Für Maus Kritik am ›metrischen Wir‹ hat Nassehi folglich nicht viel übrig: »[E]s ist ein großes Missverständnis, unter der Digitalisierung schlicht nur die Zählbarkeit und die Quantifizierung des Sozialen zu verstehen.«25 Mit anderen Worten: das ›Quantifizierungsregime‹ ist selbst ein Effekt eines tieferliegenden Qualitätsunterschieds zwischen modernen, digitalen und vormodernen, analogen Gesellschaften.