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Qualitätsunterschiede

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Philosophie ist das Studium von Qualitätsunterschieden. Tatsachenfeststellungen haben eine andere Beschaffenheit (lat. qualitas) als ästhetische oder ethische Urteile, die ihrerseits durchaus verschieden beschaffen sind. Sätze in einem Roman und Sätze in einem Physik-Lehrbuch mögen die gleiche syntaktische Struktur haben, aber wer würde leugnen, dass sie anders geartet sind? Einen Gegenstand mit den Sinnen wahrzunehmen, ist etwas anderes, als ihn sich bloß vorzustellen; Farben haben eine ganz andere sinnliche Qualität als Töne oder Gerüche. Mensch und Affe unterscheiden sich genetisch nur geringfügig, und dennoch besteht zwischen ihren Lebensformen nicht bloß eine quantitative, sondern eine qualitative Differenz. Politische Entscheidungen sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Demokratische Gemeinwesen sind anders beschaffen als autoritäre. Die Liste dieser Beispiele aus der philosophischen Unterscheidungspraxis ließe sich beliebig verlängern. Gemeinsam ist ihnen nicht nur (1) die Form ›X ist anders beschaffen/geartet/bestimmt als Y‹, sondern darüber hinaus (2) die Begründung der Andersartigkeit durch inhaltliche Kriterien und (3) die Widersinnigkeit einer Übersetzung dieser Andersartigkeit in Zahlenverhältnisse. Demokratien sind von Diktaturen nicht durch die Anzahl von Gesetzen, Institutionen oder politischen Gewalten unterschieden; ethisch richtige Handlungen lassen sich, entgegen den Verheißungen des Utilitarismus, nicht durch Berechnung ermitteln; die ästhetische Qualität eines Kunstwerks ist nicht durch seinen Marktwert messbar usw.

Qualitätsunterschiede wie die genannten sind nicht sinnvoll quantifizierbar. Und das nicht bloß noch nicht, sondern gar nicht. Die Frage, was für eine Sache etwas ist (lat. qualis?), hat eine andere kategoriale Beschaffenheit als die Frage, wie groß etwas ist (lat. quantus?). Die Differenz zwischen Qualität und Quantität ist mithin selbst ein Qualitätsunterschied, der nicht sinnvoll quantifiziert werden kann. Außerdem sind je nach qualitativer Beschaffenheit eines Gegenstandes verschiedene Arten von Größe zu differenzieren: So können nach Kants berühmter Unterscheidung intensiver und extensiver Größen2 räumliche bzw. zeitliche Ausdehnungen in gleiche Teile zerlegt werden, während dies bei der Stärke von Sinnesqualitäten nicht möglich ist. Ein 100 Meter hoher Turm ist doppelt so hoch wie ein 50 Meter hoher Turm, eine einstündige Vorlesung ist nur halb so lang wie eine zweistündige; aber Königsblau ist nicht doppelt so blau wie Himmelblau, und Eiscreme ist nicht halb so warm wie Tee. Erst die Übersetzung intensiver in extensive Größen, durch die räumliche Ausdehnung einer Quecksilbersäule oder der Wellenlänge in einem Cartesischen Koordinatensystem, macht die Intensität von Wärme/Kälte oder Farbe messbar. Das Gleiche gilt für Lautstärke oder Schärfe (einer Speise). Weil sie sich nicht unmittelbar in eine zählbare Menge von Teilen zerlegen lassen, sondern erst sekundär, eben durch Übertragung in die Extension von Messgeräten, werden sie in der Tradition missverständlich als sekundäre Qualitäten bezeichnet. Die Differenz von primär und sekundär bezieht sich jedoch nicht auf eine natürliche Rangordnung, so dass Intensitäten aus Extensionen abgeleitet wären (ein weit verbreiteter Irrtum), sondern auf eine Reihenfolge von Handlungen: Weil man, anders als bei Strecken, an Wärme kein Metermaß anlegen kann, muß Wärme zuerst in die Ausdehnung einer Quecksilbersäule überführt werden, die dann vermessen wird. Was gemessen wird, ist jedoch die mittelbar konstruierte Temperatur und nicht die unmittelbar gegebene Wärme. Es bleibt dabei, dass intensive Größen als Intensitäten einen Grad haben, der nicht in zählbare Teile zerlegt werden kann.

Absolute Grenzen der Quantifizierung sind eine Zumutung für eine Zeit, die im Messen und Berechnen die Wissen schaffenden und Objektivität stiftenden Handlungen schlechthin sieht. Was sich nicht in Zahlen und Zahlverhältnissen ausdrücken lässt, das scheint es nicht zu geben, zumindest nicht als Gegenstand der Wissenschaft. Vielleicht hat es die Philosophie deshalb so schwer, sich als Wissenschaft nicht sinnvoll quantifizierbarer begrifflicher Qualitätsunterschiede zu behaupten. Wenn es um die spezifische Beschaffenheit unserer Gegenwart und deren qualitative Differenz zur Vergangenheit geht, so hat sie das Feld weitgehend der Soziologie überlassen. Freilich hat es auch eine Soziologie, die ihre Gegenwartsdiagnose nicht auf Zahlen und Statistiken stützt, ihrerseits nicht leicht.

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