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Phänomenologie der kulturellen Praxis
ОглавлениеDie folgenden Studien sind einem moderaten Kulturalismus verpflichtet. Kulturalistisch ist der hier vertretene Ansatz insofern, als er in der Kultur eine notwendige, unhintergehbare Bedingung von Objektivität identifiziert. Menschen humanisieren ihre Umwelt von Bedeutsamkeiten zu einer Welt von Bedeutungen durch spezifisch menschliche Tätigkeiten wie Arbeit, Kultus, künstlerische Produktion, sprachliche Begriffsbildung, wissenschaftliche Erkenntnis und vieles mehr. Die Kategorie der Bedeutsamkeit verweist auf den Vitalbereich der unmittelbaren Lebensbewältigung, Bedeutung setzt dagegen die geistige Aktivität des Abstandnehmens durch symbolische Repräsentation voraus. Nahrung ist bedeutsam für jedes Lebewesen, die Repräsentation von Nahrungsmitteln auf einem Einkaufszettel, in einer Kalorientabelle oder in einer Koch-Show vermittelt Bedeutungen von etwas als etwas für jemanden. Kultur ist nicht nur die Welt dieser Bedeutungen, sondern auch und zumal der Praktiken, die Bedeutungen zwischen Menschen verbreiten. Die Inter-Subjektivität solcher symbolischer Tauschprozesse ermöglicht erst Objektivität. Es gibt keine andere Objektivität von Aussagen über die Wirklichkeit als Intersubjektivität (und Transsubjektivität, wie wir noch sehen werden). Objektive Geltung kann nur eine Behauptung für sich beanspruchen, die der Prüfung durch andere standzuhalten vermag.
Freilich entscheidet intersubjektive Anschlussfähigkeit allein, systemtheoretisch ausgedrückt: die erfolgreiche Anschlusskommunikation, nicht über berechtigte Geltungsansprüche. Die Wirklichkeit muss sich unsere Grillen auch gefallen lassen – sie ist nicht einfach ein gesellschaftliches Konstrukt. In Abgrenzung vom Kulturrelativismus wird im Weiteren von einem moderaten Kulturalismus ausgegangen. Moderat ist dieser insofern zu nennen, als er die Kultur nicht für eine hinreichende Bedingung von Objektivität hält. Menschliche Aktivitäten vollziehen sich nicht nur in einem geistigen, sondern auch in einem Horizont natürlicher Vorgegebenheiten. Ein sinnfälliges Beispiel für diese Außengrenze kultureller Praxis liefert die Technik. So mögen die Zwecke, zu denen Werkzeuge erfunden werden, kulturell und historisch variieren – die Erfolgsbedingungen für ihre Funktionalität tun es nicht: Das Wozu ihres Einsatzes verweist auf Gründe, das Warum ihrer Wirksamkeit auf Ursachen, die in der Natur beschlossen liegen. Die kulturübergreifende Kumulativität technischen Know-hows ist ein starkes Argument gegen den Kulturrelativismus.69 Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden, und spätestens in der Moderne machen technische Errungenschaften schnell die Runde um den Globus. Die Ubiquität von Technologie ist so stark, dass die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen den Kulturen, in denen sie Verwendung findet, nur allzu leicht übersehen werden.
Mit Platon könnte man die beiden Aspekte, die der moderate Kulturalismus als konstitutive Faktoren menschlichen Handelns anerkennt, Gründe (aitiai, wörtlich: Ursachen) und Ursachen (synaitiai, wörtlich: Mitursachen) nennen. Letztere sind genau jene Wirkmechanismen, ohne die Erstere keine Ursachen sein können. Dort, wo man sich eines Mittels bedient, um etwas zu tun, muss dieses Mittel auch wirksam sein. Platon dehnt diese Zweckrationalität sogar auf den menschlichen Körper aus: Aus welchen Gründen ich auch immer handele, das Gelingen der Handlung hängt auch davon ab, ob ich bestimmte körperliche Bewegungen oder Leistungen auszuführen in der Lage bin. Es ist jedoch absurd zu behaupten, Sokrates sitze im Kerker, weil sein Körper die Zelle nicht verlassen habe; so wie es ebenfalls absurd wäre zu meinen, ich befinde mich im Kino, weil meine Beine mich dorthin geführt hätten.70 Dieser Absurdität macht sich der Naturalismus schuldig. Die zentrale These des moderaten Kulturalismus könnte man auch auf den Satz zuspitzen: Gründe sind nicht aus Ursachen ableitbar. Die Anerkennung des Eigensinns natürlicher Mitursachen setzt dagegen einem starken Kulturalismus Grenzen, dem zufolge die Welt des Menschen ausschließlich durch Bedeutungen verfasst sei.
Methodisch versteht sich der skizzierte moderate Kulturalismus als Kulturphänomenologie71 und orientiert sich konkret an den genealogischen Überlegungen, die Husserl Mitte der 1930er Jahre zur Geometrie angestellt hat, ohne ihnen dogmatisch zu folgen. Gemäß dem leitenden Erkenntnisinteresse werde ich die Kulturphänomenologie mit Blick auf die Wissenschaften als eine Phänomenologie kultureller Praxis darstellen. Wissenschaft ist eine menschliche Tätigkeit zur Humanisierung der Welt, die wie jede andere Praxisform ein teleologisches Profil aufweist und gemeinsam mit anderen Praxisformen in die Kultur als humanisierte Welt eingebettet ist.
Unter einer Phänomenologie kultureller Praxis verstehe ich eine Kulturphilosophie, die wenigstens diese fünf Bedingungen erfüllt: Sie folgt, erstens, dem Intentionalitätsparadigma. Die kulturstiftenden Leistungen und Tätigkeiten sind intentionale Akte, die einen Richtungssinn haben. Erfahrung ist keine bloß passive Aufnahme eines An-sich-Gegebenen, sondern ein interessegeleitetes Tätigsein: »Alles Erfahren als ein Tätigsein ist interessiert, ist Tun in Interessen, auf Ziele, unmittelbare oder mittelbare, hin.« Insofern ist die »objektive Erfahrungswelt« eine »Welt der Praxis«. Auch Wissenschaft ist stets von Erkenntnisinteressen geleitet, die Theorie selbst eine »eigenartige wissenschaftliche Praxis«.72 Die Bezugnahme (z. B. Erfahren) hat den systematischen Vorrang vor den Bezogenen. Intentionalität ist keine statische Struktur, sondern ein zeitlicher sowie geschichtlicher Vollzug; die Tradition bestimmt den Vollzugssinn mit. Deshalb wird die Wissenschaftsgeschichte für die folgenden Untersuchungen immer wieder eine wichtige Rolle spielen.
Die Phänomenologie kultureller Praxis betreibt, zweitens, Konstitutionsanalyse, die die Kultur als Welt des Menschen aus Leistungen und Tätigkeiten rekonstruiert. Dementsprechend leitet Husserl die naturwissenschaftliche Theorie aus der Messpraxis und aus der Idealisierung der Maße ab; Objektivität ist eine Erkenntnisleistung, die Methoden voraussetzt.73 Die Konstitution von Kultur zu analysieren, heißt, die Humanisierung der Welt schrittweise gedanklich abzubauen (Reduktion) und anschließend wieder aufzubauen (Rekonstruktion). Wenn der Horizont der Kultur durch tätiges Leben aufgespannt wird, dann impliziert der Lebensbegriff immer auch die biotisch-naturale Seite jener vitalen Bedeutsamkeiten und materiellen Mitursachen (synaitiai), von denen bereits die Rede war.
Die Phänomenologie kultureller Praxis geht, drittens, vom Korrelationsapriori zwischen Gegenstand und Gegebenheitsweise aus. Zum »Aufbau einer humanen Umwelt« gehört je schon (a priori) »die Korrelation der Humanisierung und der humanisierenden Subjektivität«, die ihre humane Umwelt tätig konstituiert.74 Dieses wechselseitige Aufeinander-verwiesen-Sein von Erfahrungsgegenstand und Erfahrungsgegebenheit ist unhintergehbar und kann weder einseitig auf die Objekt- noch auf die Subjektseite reduziert werden (Objektivismus bzw. Subjektivismus). Das Korrelationsapriori ist letztlich eine Explikation jenes Vorrangs der Beziehung vor den Bezogenen und fungiert zugleich als Korrektiv gegen einen Platonismus, der die Welt in die beiden Sphären des Subjektiv-Relativen und des Objektiv-an-sich-Seienden aufteilt. »Objektivierung ist Sache der Methode, fundiert in vorwissenschaftlichen Erfahrungsgegebenheiten. Mathematische Methode ›konstruiert‹ aus anschaulicher Vorstellung ideale Gegenständlichkeiten und lehrt, diese operativ und systematisch zu behandeln. […] Ideen entspringen durch eine eigenartige Geistesleistung: durch Idealisierung.«75 Auch die Ideenwelt entgeht dem Korrelationsapriori nicht.
Die Phänomenologie kultureller Praxis erkennt, viertens, die Abhängigkeit eines jeden »objektiven Apriori« von einem entsprechenden »lebensweltlichen Apriori« an.76 Jeder theoretische Geltungsanspruch wird in Handlungen eingelöst (oder nicht), die nicht in der Welt des reinen Raums der Geometrie oder der reinen Kausalgesetze der Physik stattfinden, sondern in der kulturellen Lebenswelt. Anschaulicher formuliert: Der Physiker liest seine Messgeräte nicht in einem n-dimensionalen Vektorraum ab, sondern in dem Labor, das ihm von seiner Universität zur Verfügung gestellt wird, in dem er einen Teil seiner Berufszeit verbringt und bemüht ist, sogenannte Artefakte (unbeabsichtigt verfälschte Messergebnisse) zu vermeiden usw.
Die Phänomenologie kultureller Praxis operiert, fünftens, in kritischer Einstellung gegen den Verlust des Ursprungssinns der Produkte tätigen Lebens. Ihr Anliegen ist es, eine Rationalität zur Vernunft zu bringen, die hinter den von Menschen hervorgebrachten Erzeugnissen eben jene Menschen mit ihren Interessen und Zielen ausblendet. In jeder Tatsache steckt eine Tat, und diese darf nicht zugunsten bloßer Funktionalität und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Außerdem bleibt die Phänomenologie der arbeitenden Subjekte eingedenk, die sie selbst hervorbringen. Kritische Einstellung ist ohne kritische Reflexion des eigenen Standortes nicht zu haben.
In Erfahrung und Urteil bemerkt Husserl, »daß zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nichts von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so weit bestimmt vorgegeben, daß wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.«77 Wenn Kulturphänomenologie die Konstitution der humanisierten Welt rekonstruiert und die wissenschaftliche Weltauffassung zum Kernbestand der neuzeitlich-europäischen Kultur gehört, dann wird die Wissenschaft nicht bloß als eine kulturelle Praxisform unter anderen zum Gegenstand der Kulturphänomenologie, sondern weil sie die für unsere Kultur charakteristische »Horizontvorzeichnung«78 von Erkenntnisgegenständen überhaupt darstellt. Eine Phänomenologie kultureller Praxis kommt nicht umhin, die »gefährliche[n] Sinnverschiebungen«79 zu reflektieren, die mit einer Ontologisierung wissenschaftlicher Methoden verbunden sind. Mit Husserl ist daran zu erinnern, dass auch die Theorie eine Praxis ist, die sich in einem Interessenhorizont vollzieht. Die beschriebene Sinnverschiebung von einer Welt-für-Menschen hin zu einer Welt-an-sich macht aus einer »Welt als Horizont« eine »Welt als Gegenstand« naturwissenschaftlicher Forschung.80
Genau hier setzt Husserls (unfertig gebliebenes) Krisis-Werk an. »Die mathematische Naturwissenschaft ist eine wundervolle Technik, um Induktionen von einer Leistungsfähigkeit, von einer Wahrscheinlichkeit, Genauigkeit, Berechenbarkeit zu machen, die früher nicht einmal geahnt werden konnten.« Es ist aber genau diese Leistungsfähigkeit der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die dazu führt, dass der Wissenschaftler als »arbeitende[s] Subjekt« vergessen wird, dessen Empirie wie jede Erfahrung interessegeleitet ist.81 Die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode hat den Zweck, die innerhalb der vorwissenschaftlichen Erfahrung bloß möglichen »rohen Voraussichten […] zu verbessern« und mittels mathematischer Formeln die Welt für uns Menschen »durch Konstruktion beherrschbar« zu machen.82 Wird das »Sinnesfundament« der Wissenschaft in der Lebenswelt vergessen, dann verliert Wissenschaft ihre »Lebensbedeutsamkeit«.83 Entkoppelt von den ursprünglichen Interessen, verselbständigt sie sich zu einer bloßen »Tatsachenwissenschaft«,84 die vermeintlich eine an sich bestimmte Wirklichkeit abbildet. Statt mit Mitteln, die zu vernünftigen Zwecken eingesetzt werden können, hat man es nur noch mit Sachzwängen zu tun, die die technisch errungenen Freiheiten einzuschränken und Verantwortung abzuschieben helfen.
Gegen die Logik von Sachzwängen hält die Kulturphänomenologie am Primat der Praxis vor der Theorie fest. Husserl zeigt am Beispiel der Geometrie, wie die mathematische Methode durch Idealisierung einer »realen Praxis«85 entstanden ist. Ihren Sitz im Leben hat die Geometrie dem Wortsinne nach in der empirischen Feldmesskunst und wurde beispielsweise im alten Ägypten eingesetzt, um nach dem regelmäßig wiederkehrenden Nilhochwasser die Felder neu auszumessen. Es lässt sich in einer genealogischen Erzählung mühelos verständlich machen, wie eine solche Messkunst durch die Festlegung von Maßen, die Erzeugung rechter Winkel und die Bestimmung von Längen und Flächen immer weiter verfeinert wird, bis als Ideale solcher Verbesserungen sogenannte »Limes-Gestalten«86 auftauchen: z. B. ein rechter Winkel, der nicht ›noch rechtwinklinger‹ sein kann, ein zwar praktisch unerreichbarer, aber die Messpraxis anleitender rechter Winkel von genau 90°. Im Interesse der Verfahrensverbesserung operiert man mit ›reinen Formen‹, hinter denen aber nicht etwa selbständige Objekte, sondern Vorschriften stehen: ›Wenn Du einen rechten Winkel erzeugen willst, dann mußt Du … tun‹. Durch »Idealisation und Konstruktion« werden aus den Limesgestalten schließlich »Idealgebilde«,87 denen die Unterstellung zugrunde liegt, dass das Herstellungsziel idealer Formen erreicht ist. Erst wenn der hypothetische Charakter dieser Idealitäten vergessen wird, entsteht das Selbstmissverständnis einer zweckfreien Wissenschaft.88