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Das Internat

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Marc hasste es, mit dem Zug zu fahren. Allein diese ungewollte Ansammlung von Menschen, die sich nichts zu sagen hatten und dennoch unentwegt in ihre Handys quasselten. Auch nervten ihn all die dicken, schwitzenden Menschen, die sich durch die schmalen Gänge auf der Suche nach den ebenso beengten Plätzen schoben, wo Privatsphäre ein ungeträumter Traum blieb. Am Schlimmsten allerdings waren für ihn Mütter mit Kleinkindern, deren ständiges Brabbeln oder Schreien an seinen Nerven zerrte.

Entsprechend schlecht gelaunt stieg Marc am Bahnhof aus und sah sich nach seiner Familie um. Doch weder seine Mutter noch sein Stiefvater waren zu sehen. So vertraute er deren Anrufbeantworter an, wie sehr er sich freue, so willkommen zu sein und sich, da gerade kein Zug zurückgehe, ein Taxi nähme. Als er den Taxistand erreichte, bog der Mini-Van seines Stiefvaters in die Parkschleife vor dem Bahnhof, und Marc bereute, sich heute Morgen überhaupt in den Zug gesetzt zu haben. Doch nun war es zu spät und mit einem bemühten Lachen beglückwünschte er seine herbeieilende Mutter zu deren Geburtstag, schüttelte die dargereichte Hand von Mathis, seinem Stiefvater, und fuhr über den Blondschopf seines Halbbruders Ben, der sich genervt wieder auf die Rückbank des Vans verzog.

»Trish konnte nicht mitkommen, sie hat Hausarrest und wartet daheim«, beantwortete seine Mutter die nicht gestellt Frage.

Was wohl die größere Strafe gewesen wäre, dachte Marc und wuchtete seine Reisetasche in den Kofferraum.

»Lässt man heute nicht lieber das Handy sperren oder bezahlt die Pille nicht mehr?« Doch keiner im Auto lachte.

»Das hätte uns gerade noch gefehlt«, ersparte Mathis seiner Frau die Antwort.

Kaum, dass sie zuhause ankamen und Marc seine Sachen im Gästezimmer verstaut hatte, rief seine Mutter auch schon zum Essen. Als er so auf der Bettkante saß und sie rufen hörte, fühlte er sich um Jahre zurückversetzt und sah sich als Fünfzehnjährigen in diesem Zimmer, das damals noch seins war. Unten warteten zahllose Gäste, die meisten hatte er noch nie gesehen, doch ihm war nicht nach Essen zumute. Vor einer Stunde hatten sie seinen Bruder beerdigt. Wie konnte seine Mutter ausgerechnet jetzt ans Essen denken? In zehn Tagen wäre sein Bruder siebzehn geworden. Nun lag er zwei Meter unter der Erde und ließ ihn allein, allein mit einem Stiefvater, dessen Tochter und der Frau, die seinen Vater für einen Franzosen verließ, den sie in einem Abendkurs der Volkshochschule kennen gelernt hatte. Er hasste sein Leben, seine Eltern und seinen Bruder, der ihn zurückgelassen hatte.

»Marc kommst du?«, klopfte seine Mutter an die Tür, und er schrak hoch.

»Ja, gleich.«

Trish saß bereits am Tisch und Ben nebenan vor dem Fernseher. Er hatte die Beiden seit dem letzten Geburtstag nicht mehr gesehen und war überrascht, wie sich Trish verändert hatte. Das kleine Mädchen vom letzten Jahr war ein richtiger Teenager geworden. Die einst blonden Haare waren ebenso schwarz gefärbt wie das bunte Kleidchen von damals, und wo früher noch Tintenflecke waren, trug sie heute schwarz lackierte Fingernägel. Aber auch Ben war für seine neun Jahre auffällig groß und erreichte bald seine Schwester.

Marc begrüßte Trish. Sie starrte auf ihren Teller und reagierte kaum, als Marcs Mutter mit dem Essen kam.

»Fräulein, du kannst dich gern nützlich machen, statt hier nur rumzusitzen. Draußen steht noch mehr, was auf den Tisch muss«, forderte sie Trish auf. Diese verdrehte die Augen und zeigte ins Nachbarzimmer.

»Solange der dort fernsehen darf, kann ich hier sitzen.«

»Das entscheide immer noch ich, und ich sage dir, du holst jetzt die Servietten und die Gläser.«

»Lass nur Mum, ich mach das«, kam Marc einer Antwort zuvor und legte kurz die Hand auf die Schulter seiner Schwester, bevor er in die Küche ging.

»Das Kind macht sie noch wahnsinnig«, sagte Mathis zu Marc, als dieser nach den Gläsern suchte.

»Sie ist ein Teenager, was habt ihr erwartet?«

»Sie hat der Teufel gesehen, aber das soll dir deine Mutter erzählen.«

Nach einigem Hin und Her, weil Ben noch seine Sendung fertig sehen wollte, saßen endlich alle fünf am Tisch. Es gab Schweinemedaillons, Kartoffelpüree und Gemüse, und Trish stocherte lieblos in ihren Erbsen herum, bis es ihrer Mutter zuviel wurde.

»Ich habe es dir schon tausend Mal gesagt, spiel nicht mit dem Essen, sondern iss es.«

»Ich hasse Fleisch.«

»Seit wann?«

»Schon immer, das ist Mord, und ihr seid Mörder.«

»Fein, dann lass es liegen und iss den Rest, aber stochere nicht nur auf deinem Teller herum.«

»Ich habe keinen Hunger. Ist ja auch kein Wunder, wenn der hier wie ein Schwein frisst«, wies sie mit ihrem Messer auf Ben, der nur mit einer Gabel in der rechten Hand über seinen Teller gebeugt das Essen in sich hineinschaufelte.

»Man zeigt nicht mit seinem Messer auf andere und Ben, setz dich gerade hin und nimm das Messer«, reagierte Marcs Mutter.

»Blöde Kuh«, maulte dieser seine Schwester an, rückte aber etwas im Stuhl empor und griff unmotiviert nach dem Messer.

»Willkommen daheim, Marc«, seufzte seine Mutter und schaute ihren Mann müde an.

»Ich bin nur Gast hier, das weißt du«, antwortete Marc und beobachtete seine Schwester. Sie hatte sich wirklich verändert. Sie war hübscher geworden. Ihr früheres Kindergesicht war nun schmaler und feiner, was ihr zusammen mit den dunklen, wachen Augen und den schwarz gefärbten Haaren eine fast erotische Strenge verlieh. Doch sie war erst dreizehn.

»Wie ist es in der Schule, Trish?«, fragte er sie und biss sich auf die Zunge. Eine dümmere Frage konnte man einem Teenager kaum stellen. Entsprechend war auch der Blick, den sie ihm zuwarf, und statt ihrer antwortete seine Mutter.

»Trish muss die Schule wechseln.«

»Das geht ihn nichts an«, fauchte Trish ihre Mutter an, und Marc sah überrascht auf.

»Das sind in der Tat Neuigkeiten, was ist vorgefallen?«

»Mutter!«, versuchte Trish, diese abermals daran zu hindern, weiter zu erzählen, doch vergebens.

»Wir wurden vergangene Woche ins Direktorat der Schule bestellt, weil Trish einen Mitschüler verprügelt hatte.« Marc sah sie amüsiert an. Wie hätte ein so zierliches Mädchen einem gleichaltrigen Mitschüler gefährlich werden können? Trish kaute an ihren Nägeln und hatte das Essen gänzlich eingestellt.

»Der Arsch wollte mich erpressen«, rechtfertigte sie sich.

»Schlimm genug, dass es dafür Gründe gab«, antworte Mathis finster.

»Kleine Kinder, kleine Sorgen…«, schmunzelte Marc, aber seiner Mutter war nicht zum Lachen zumute.

»Ben, wenn du fertig mit Essen bist, geh auf dein Zimmer«, forderte sie ihren Sohn auf, der ahnte, dass es jetzt spannend werden würde und nur widerwillig das Zimmer verließ.

»Ich hab auch noch was vor«, versuchte sich Trish ihrerseits vor dem Gespräch zu drücken.

»Du hast Hausarrest und gehst maximal auf dein Zimmer, mein Fräulein«, antwortete ihre Mutter, und Trish zuckte nur mit den Schultern, bevor sie grußlos den Raum verließ.

»Jetzt bin ich aber gespannt.« Marc verschränkte die Hände hinter dem Nacken und lehnte sich zurück.

»Ich weiß nicht, was mit dem Mädchen los ist. Seit ein paar Monaten trägt sie diese Totengräberklamotten, hört Musik, dass ich dachte, sie wird depressiv, und letztens habe ich Zigaretten in ihrem Rucksack gefunden. Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine Ausrede zu erfinden.«

»Sie ist in der Pubertät, und jetzt zählen nur noch Klamotten, Styling und Jungs, ist doch normal.«

»Ja, das wäre normal, doch dafür würde sie nicht von der Schule fliegen.«

»Ok, wieso hat sie den Mitschüler verprügelt?«

»Genau wissen wir das nicht. Bekannt ist nur, dass dieser sie mit ihrem Referendarlehrer erwischt hatte und damit unter Druck setzte.«

»Mit wem?«, rief Marc überrascht aus.

»Einem Referendar, der gerade sein praktisches Jahr an ihrer Schule absolvierte«, mischte sich Mathis ins Gespräch ein.

»Und wobei hat man sie erwischt?« Marc ahnte, dass es nicht um Nachhilfeunterricht ging.

»Wobei schon? Auf der Schülertoilette während des Unterrichts, als besagter Mitschüler sich zum Rauchen dort verstecken wollte.«

»Sie schläft mit ihrem Lehrer?«

»Zumindest hat er sie nicht vergewaltigt.«

Marc schüttelte fassungslos den Kopf. »Das dürfte dennoch strafbar sein, sie ist erst dreizehn, oder?«

»Das war auch der Grund, weshalb der Lehrer eine Anzeige bekam und die Schule verlassen musste. Nun soll auch Trish gehen, der Direktor will die Verantwortung nach der Schlägerei im Pausenhof nicht länger übernehmen.«

»Wo soll sie hin?«

»Wir haben einen Internatsplatz in einem katholischen Mädchenstift. Allerdings müsste sie baldmöglichst dort anfangen, denn das Schuljahr läuft bereits.«

»Und wo ist das Problem?«, fragte Marc, dem das Bild seiner kleinen Schwester mit einem erwachsenen Mann nicht aus dem Kopf ging.

»Sie kann unmöglich hier in der Stadt bleiben, die Geschichte geht rum wie ein Lauffeuer. Deshalb haben wir gedacht, sie könnte bei dir in Gottesacker auf eine Klosterschule für Mädchen gehen. Denn genau dort hätten wir einen Platz für sie.«

»Und ich soll mich um sie kümmern?« Marc schien wenig begeistert.

»Nein, sie wird dort betreut. Einzig, wenn du sie vielleicht mitnehmen und dort abgeben könntest. Wir wissen uns keinen Rat mehr«, seufzte seine Mutter.

»Was sagt Trish dazu?«

»Ihr scheint alles egal zu sein. Sie redet kaum noch mit uns seit dem Vorfall. Wir haben auch schon überlegt, einen Psychologen einzuschalten, aber das Jugendamt meint, sie müsse erst einmal raus aus der problematischen Umgebung.« Marc nickte. Er selbst hätte in Trishs Alter ein Internat dem Leben in dieser Familie vorgezogen und fühlte sich seiner Stiefschwester näher, als diese ahnte.

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