Читать книгу Ich schenke dir den Tod - Ralf Gebhardt - Страница 13
NEUN
ОглавлениеMit extrem schlechter Laune startete Störmer in den Tag. Kopf- und Magenschmerzen vermischten sich mit Selbstmitleid. Die ganze Nacht hatte er kaum Schlaf gefunden. Trotzdem versuchte er, es sich mit einer Tasse Kaffee gegenüber der Glaswand gemütlich zu machen. In Gedanken ging er die Fakten immer und immer wieder durch.
Kurz nach halb neun erschien Frau Achenbach zum Dienst, gut gelaunt wie immer.
»Guten Morgen, Chef.«
»Guten Morgen, Sabine. Schön, dass du da bist.«
»Chef?« Sie sah ihn an.
»Ich brauche dich.«
Aha, daher wehte der Wind.
»Und ich brauche erst mal Kaffee.«
Sie zog sich einen Bürostuhl neben Störmer, nippte ab und zu an dem Becher und sah ansonsten wie er zu den Fotos und Artikeln an der Glaswand.
»Hm. Was haben wir übersehen?«
»Ich weiß nicht, Chef, was denkst du?«
»Ich muss mit jemanden über die Sache reden, und das dringend. Also los, lass uns anfangen.«
»Chef, so geht das nicht, ich bin zu alt für sowas.«
Störmer lächelte. Er hatte sich schon früher in schwierigen Situationen gern mit ihr ausgetauscht.
Sie liefen bereits das zweite Mal auf dem Bürgersteig eine Runde um das nahegelegene Autohaus.
»Hör zu, Sabine, mir lässt das keine Ruhe. Also, zusammenfasst würde ich wie in einem Kreuzworträtsel sagen: Katze – Asche – Schmuck – fünf Jahre. Mehr weiß ich nicht, egal, wie sehr ich mir den Kopf zerbreche.«
»Wir haben den Hintergrund zur Lehrerin, Frau Hesse.«
»Stimmt, aber sie ist verschwunden.«
»Hinweise?«
»Nur die, die du kennst.«
»Und der Schmuck?«
»Kein einfacher Modeschmuck, nicht billig, aber in jedem größeren Einkaufspark zu haben. Keine Chance.« Er winkte ab.
»Es sei denn, du findest erneut was durch Zufall.«
Die Anspielung auf die Ermittlungsergebnisse saß. Sie gingen schweigend weiter.
»Ich vermute mal, dass die Katze und das Grablicht auch nicht weiterhelfen?«
»Du hättest Polizistin werden sollen und keine Assistentin.«
»Gut, was ist mit den Postkarten?«
»Absenderangaben und die jeweiligen Zeiten stehen fest, mehr nicht. Vom Inhalt her können wir das vergessen, reine Urlaubskarten, Grüße, allgemein.«
»Die armen Eltern müssen sehr gelitten haben.«
Störmer seufzte. »Sie leiden heute noch, so sehr, dass sie noch nicht mal eine Vermisstenanzeige aufgegeben haben. Mehr verkraften die nicht.«
»Dann sollten wir das tun. Und, was wissen wir über Andrea Hesse sonst noch?«
»Ich hoffe, dass ich nachher eine Zusammenstellung bekomme.«
»Was meinst du, warum verschwindet ein Mensch?« Sabine versuchte, ihn länger nachdenken zu lassen.
»Dafür gibt es viele Gründe. Willst du dafür jetzt von mir eine wissenschaftliche Studie?«
»Nein. Es gibt bei einem Verschwinden grundsätzlich Leben davor, während des Verschwindens und später, zumindest später für die Verwandten, wenn ich das mal so sagen darf. Früher und das direkte Verschwinden gehören oft zusammen, das habe ich gelesen.«
»Stimmt, weiter.«
»Hm, sie, sprich Andrea Hesse, hatte eine besondere Beziehung zum Zeitpunkt des Verschwindens.«
»Wie meinst du das?« Störmer blieb stehen.
»Ich denke, Entführungsopfer gibt es, weil jemand Geld will oder so. Oder weil jemand böse und eifersüchtig ist. Weil es etwas zu vertuschen gibt. Wenn wir den Zufall mal außen vor lassen.«
»Du denkst, das war kein Zufall?« Er wußte nicht, ob ihm der Gedanke gefiel.
»Ja, das denke ich.«
»Wer braucht und entführt eine Lehrerin? Und warum genau diese Lehrerin?«
»Weiß nicht.«
»Na, sie war damals jung und hübsch. Vielleicht hat sich einer der Kerle in sie verliebt. Bei allem Respekt, Chef, die Kerle waren jung, fast noch Kinder. Und sie eine sehr spezielle Lehrerin.«
»Wir wissen zu wenig über sie.«
»Noch mal zurück, denn wir wissen mehr.«
»Das wäre?« Er sah zu ihr herüber.
»Denk mal an die Zeit, in der sie tätig war. Was fällt dir dazu ein?«
»Staatsbürgerkunde, DDR, Wende …«
»Richtig. DDR. Wie wurde man denn Staatsbürgerkundelehrer?«
»Na, ab zur Hochschule, lernen … Mensch!« Störmer griff sich zuerst an den Kopf und dann zum Telefon. Aus seiner Ausbildungszeit kannte er noch einige Leute beim LKA, auch die, die jetzt seine Anfragen bearbeiteten.
»Hallo Ronny, sag mal, würdest du mir einen Gefallen tun? Wegen Frau Hesse … Ja, ich weiß, dass das dauert … Also, war sie auf der Bezirksparteischule? … Ich warte … Danke, du hast mir sehr geholfen.«
»Volltreffer!« Er sah Sabine Achenbach begeistert an.
»Hm?«
»Wenn ich dich nicht hätte, danke, eine brillante Idee. Sie war Kader der Republik.«
»Parteischule.«
»Genau. Ich muss kurz raus nach Halle-Neustadt, vielleicht haben sie ja Unterlagen in der Außenstelle der Gauck-Behörde oder können mir die besorgen.«
»Bestimmt findest du was, Chef. Die Kommunisten hatten in der Wendezeit drei Möglichkeiten: schweigen, die eigenen Leute schützen oder ausliefern.«
»Ausgeliefert wurde sie nicht, dann hätten wir sie.«
»Schweigen auch nicht, dann würde sie jetzt noch da sein und irgendwas anderes machen.«
»Bleibt die mittlere Möglichkeit. Schützen. Man kann sagen, was man will, aber die haben sich als Stasi, als Organisation stets um ihre Leute gekümmert.«
»Die Lehrerin hatte einen Bildungsauftrag.«
»Bestimmt auch mehr, da bin ich mir sicher. Ich fahre raus, wir sehen uns im Büro. Und Sabine, du bist definitiv nicht zu alt für sowas.«
»Schade, Chef, ich könnte einen Vorruhestand gut gebrauchen.«
Ihr zufriedenes Gesicht und ihr stolzer Gang widersprachen ihren eigenen Worten.