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ZWEI

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Alles scheint durchwoben wie ein rotgraues Nebelnetz. Dunkelheit drückt wie ein zähes Gelee auf die Augen. Für Erinnerungen ist es viel zu früh, ihr Gehirn ist noch nicht bereit dazu. In Bruchstücken kommen und gehen erste Gedanken und Geräusche, Geschmack und Duft. Wie in einer Disco-Show: da, weg, da, weg …

Die Momente der Klarheit werden länger. Einzelne Szenen reichen schon über Sekunden hinweg. Sie verbinden sich zu Anfängen von Gedanken, auch wenn sie noch nicht greifbar sind. Atmen. Heftig und tief, ohne Pause. Aus einem Instinkt heraus. Denn da ist sonst nichts. Weder ein Geräusch noch eine Bewegung, absolut nichts, noch nicht mal ein Blitz. Völlige Dunkelheit und Stille.

Sie schläft fast die ganze Zeit.

Erst später dann die ersten Empfindungen. Ein leichter, undefinierbarer Geschmack nach Wald, Erde und Moos. Schlucken geht nicht, keine Kraft. Alles geschwollen. Die Augen sind zu, der Mund ebenso. Hätte sie es beschreiben können, dann hätte sie es Wollwärme genannt. Es ist fast so, als wenn es brennt, in ihrem Hals, im Kopf, überall. Wie eine alles umhüllende Fiebertemperatur. In einem der kurzen Momente, in denen sie nicht bewusstlos ist, erinnert sie sich in Bruchstücken an den Rest ihres Körpers, versucht etwas zu spüren. Aber keine ihrer Mühen wird belohnt, keine einzige Bewegung gemacht. Dumpf hämmert der Schmerz. Dann döst sie weg, viel zu schwach, um Träume zu sehen.

Etliche Stunden darauf ist der Kampf entschieden. Sie lebt. Auch wenn ihr noch alles fehlt, ihre Erinnerungen, Bewegungen und Gefühle. Vorerst hat sie nur ihre Instinkte. Ihren Kopf kann sie nicht drehen und auch keine Hände oder Füße bewegen. Etwas hält sie fest. Mit aller Kraft versucht sie, die Augen aufzureißen. Vergebens. Der Schmerz bleibt dabei gleich, egal was sie tut. Verzweifelt testet sie, den Mund zu öffnen, immer wieder, es will ihr nicht gelingen. Als sie dann einen Laut im Hals formt, weiß sie nicht, ob sie es sich doch nur wieder eingebildet hat. Auf die Idee, zu weinen, kommt sie nicht. Noch nicht. Später ist es wie ein kleiner Erfolg, als sie ihren Atem bewusst steuern kann. Sie riecht den Moder der Erde und die Wolle, die ihr Gesicht umhüllt. Zeit aber spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie hat das Erlebte verdrängt. Unbewusst träumt sie sich weg. Jeder andere Ort ist besser als hier.

»Nicht schon morgen, aber bald, mein Kind, weißt du, wer du bist und wie du heißt. Schlaf dich aus, denn du wirst deine Kraft noch brauchen. Ganz bestimmt … und nun gute Nacht, schlaf schön …«

Durch die geschlossenen Lider sieht sie ein sanftes Licht, das zuerst auf das linke und dann auf das rechte Auge fällt. Sie bemerkt nicht, dass es der Schein einer Taschenlampe ist. Erneut versucht sie, die Augen zu öffnen. Etwas streicht sanft über ihr Gesicht, ohne sie wirklich zu berühren. Wie ein leichter Stoff oder auch nur wie ein Windhauch.

Ihre Schmerzen spürt sie nur leicht. Irgendwann entsteht das Gefühl, als würde sie sich zur Seite drehen. Die Zeit bis zum Einschlafen reicht nicht, um den kurzen Druck in beiden Armen zu bemerken. Viel lieber gibt sie sich wieder der Müdigkeit hin.

Etwas hat sie geweckt, ohne dass sie es hätte beschreiben können. Der Schlaf hat nichts Erholsames gehabt. Er hatte sie nur ein weiteres Mal alles vergessen lassen. Sie weiß nicht, wer sie ist. Sie dämmert nur. Die Wachphasen werden länger. Bewegungen sind noch nicht möglich, sie empfindet nichts. Sie starrt stumpfsinnig in die tiefschwarze Dunkelheit. Irgendwann bemerkt sie wieder einen spitzen Druck an beiden Armen, der jedoch schnell verschwindet.

Wieder ein Hauch über ihrer Haut, ein Luftzug wie ein unabsichtliches Vorbeistreicheln. In grauen Schatten zeichnen sich Konturen ab. Was sie verschwommen sieht, ist die hohe Decke eines Raumes. Es ist angenehm, mehr als Nichts zu sehen. Und dieses Gefühl gibt ihr die Gelegenheit, beruhigt einzuschlafen. Im schwachen Licht, das für einen Moment auf sie fällt, streicht jemand den Stoff neben ihr glatt.

»So ist es gut, mein braves Kind, schlaf dich aus, sammle Kraft und werd gesund. Nachher habe ich mehr Zeit für dich. Ich werde dir helfen. Ganz vorsichtig, das verspreche ich dir. Gute Nacht, mein Kind …«

Ich schenke dir den Tod

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