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EINS

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(Heute)

Das Telefon hatte den halleschen Kriminalhauptkommissar aus dem Schlaf gerissen. Er fühlte sich zu schwach, die Melodie, Highway to Hell, zu stoppen. Dabei war es der Hitze wegen ohnehin ein sehr ruheloser Schlaf gewesen. Draußen herrschten hochsommerliche Temperaturen, auch wenn es noch nicht einmal Pfingsten war.

Erst konnte er am Abend kaum einschlafen und dann hatte er sich nur unruhig hin und her gewälzt, wirres Zeug geträumt und war schließlich vom Telefonklingeln erlöst worden. Das Handy lag neben einer leeren Flasche auf der Schreibtischecke. Nein, ein Trinker war er gewiss nicht, aber er liebte das Samstagabend-Bier vor dem Fernseher, seine Ruhe, das Alleinsein. Niemand, der ihm sagte, was er zu tun oder zu lassen hatte. Keiner, der ihn von A nach B schickte und über seinen Tagesablauf bestimmte. Es war Sonntag, somit hatte Kriminalhauptkommissar Richard Störmer heute frei, eigentlich.

Die Nummer auf dem Display jedoch verriet nichts Gutes.

»Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Süd, Halle, guten Morgen, Herr Störmer.«

»Morgen.«

»Entschuldigen Sie, aber im Mansfelder Land wurden in einem Waldstück die Überreste einer Leiche gefunden. Die genauen Daten zum Fundort sende ich Ihnen gleich auf Ihr Handy. Ein Beamter wartet vor Ort auf Sie.«

»… weil …«

»Hm, Sie ahnen es, es ist von Fremdverschulden auszugehen. Es ist uns sowieso lieber, wenn gleich jemand dabei ist, na, Sie wissen schon …«

Kriminalhauptkommissar Richard Störmer war es in diesem Moment fast egal, ob Spuren aus Sorglosigkeit verwischt oder beschädigt wurden. Fakt war allein, dass es wieder jemandem gelungen war, über ihn zu bestimmen.

»Okay, rufen Sie ein Team der Spurensicherung, ich komme. In einer halben Stunde bin ich unterwegs.«

»Danke Ihnen, gute Fahrt und viel Erfolg.«

Die Antwort blieb er schuldig, sein Fluch ging in ein Brummen über, nachdem er aufgelegt hatte. Trotzdem nahm Störmer sich Zeit, um zu duschen. Dann also auf ins Mansfelder Land.

Störmer warf einen Blick auf die angekündigte SMS, griff seine kleine Kühltasche für die obligatorische Cola und fingerte die Autoschlüssel vom Haken. Behutsam zog er die Tür ins Schloss. Seine Laune hatte sich längst gebessert. Zum Glück wusste niemand, dass er eigentlich gar nichts für diesen Tag vorgehabt hatte.

Während der Autofahrt versank er in Gedanken. Die morgendlichen Straßen waren nahezu leer. Ab und zu dämpfte eine vorüberziehende Wolke das tiefgelbe Sonnenlicht. Das Thermometer zeigte bereits über zwanzig Grad. Die Kurznachrichten des mitteldeutschen Inforadios hatten ihn mit allem versorgt, was er wissen musste. Ansonsten genoss er die Stille der voraussichtlich gut einstündigen Fahrt und mied die monotone, zweispurige B 80. Er nahm lieber die kurvige Nebenstrecke, die Straße »über die Dörfer«.

Wehmütig dachte er an seine letzten Touren mit dem Motorrad zurück. Endlos lange schien das her zu sein. Mehr als ein guter Grund, das Bike bei nächster Gelegenheit wieder aus der Garage zu holen. Der regnerische Winter war in diesem Jahr außergewöhnlich lang gewesen. Außer einigen kurzen Einführungsrunden zum Saisonstart hatte Störmer kaum Straße unter die zwei Räder bekommen. Das musste sich unbedingt ändern! Schließlich war bald Pfingsten. Und damit lag ein hoffentlich arbeitsfreies Wochenende vor ihm und somit die Gelegenheit für eine längere Ausfahrt.

Die Automatik des silbergrauen Dienstwagens legte für ihn stets den richtigen Gang ein. Störmer schätzte das sehr, seiner Meinung nach war der Daimler mit seinen Bequemlichkeiten genauso solide und zurückhaltend wie er selbst. Umso leichter, sich auf die Landschaft zu konzentrieren, auf die scheinbare Trostlosigkeit des Mansfelder Lands. Brachen inmitten riesiger Schlacke- und Abraumhalden, von der Jugend verlassene Orte mit deutlich sichtbarem sozialen Abstieg. Überall waren Reste früheren Bergbaus zu sehen. Ansonsten Feld an Feld, deren graubraunes Getreide mit dem Alter der Traktoren zu wetteifern schien. Gekrönt wurde die mitteldeutsche Armut durch den Abgasgestank von Autos aus der Vorwendezeit. Gelegentlich gesellte sich schwarzer und dicker Qualm historischer Dampfloks dazu. Der bergige Vorharz war bereits zu erahnen. Wenn der Wind wehte, brachte er den Staub der Schieferberge und einstigen Hüttenbetriebe in die Wäscheleinen der Dörfer. Störmer musste schmunzeln, denn er mochte die Gegend. Er freute sich, hier zu ermitteln, und auf die Aussicht einer bodenständigen, regionalen Bergarbeiterküche.

Die viel zu seltenen Fahrten hierher empfand er wie eine kleine Zeitreise. Schließlich war er hier aufgewachsen. Für ihn fühlte es sich an, als käme er nach Hause. Seine Stimmung wurde besser, ohne dass er es zugegeben hätte.

Direkt hinter Halle waren nur wenige Windräder zu sehen. Dann wurden es mehr. Wenn sie sich über den Waldrändern drehten, sah es aus, als zerhackten sie die Landschaft in gleichmäßige Stücke. Auch wenn sich die Rotoren langsam bewegten, so überholte ihr Schatten doch gelegentlich die Autofahrer.

Daneben fielen die zahlreichen Rapsfelder auf. An vielen Stellen auf der linken Seite war alles komplett gelb. Es schien deshalb so, als würde das linke Auge mehr Farbe vertragen müssen. Irgendwann wechselte dann das Sonnenbrillenlicht wieder ins fast ausschließlich Grüne. Er kam Mansfeld näher. Es war an der Zeit, intensiver über die bevorstehende Arbeit nachzudenken und den Kollegen vor Ort über seine Ankunft zu informieren.

Die Temperatur war hier im Vergleich zu der von Halle immer um zwei bis drei Grad kälter. Eigentlich war das ungerecht, zumindest früher, da mussten die armen Leute auf dem Land länger warten, bis ihre Ernte reif war. Heute spielte das sicherlich keine große Rolle mehr.

Der Kriminalhauptkommissar drückte die Wahlwiederholungstaste. Vorhin war besetzt gewesen. Nun kam er sofort durch, kaum, dass er ein Rufzeichen gehört hatte.

»Siebenhühner.«

»Ah, guten Morgen, grüß Sie, Herr Kollege, hier ist Störmer, Halle. Ich bin in gut zehn Minuten bei Ihnen. Sind Sie noch in der Siedlung?«

Die Pause bis zu Antwort erschien länger als erforderlich.

»Schön, dass Sie endlich da sind, Kollege Störmer.« Die Stimme klang gereizt. »Selbstverständlich bin ich am Fundort. Bitte fahren Sie im Ort einfach geradeaus über die Hauptstraße und biegen Sie am Ortsausgangsschild rechts ab. Wenn die geteerte Straße endet, sehen Sie den Sportplatz. Aber seien Sie vorsichtig, damit Sie auf dem Waldweg nicht mit dem Unterboden aufsetzen.«

Nun ließ sich auch Störmer mit der Antwort bewusst mehr Zeit. Er musste schmunzeln.

»Danke, Kollege Siebenhühner, lassen Sie ruhig, ich kenne mich hier aus, nochmals danke, bis gleich.«

In der Zwischenzeit war er schon fast an der Kreuzung angelangt, die er geradewegs passieren sollte. Hinter ihm lag Eisleben, rechts Hettstedt und links Sangerhausen, alles ehemalige DDR-Kreisstädte, jeweils 15 Kilometer entfernt. Das Dorf befand sich als Verkehrsknotenpunkt mitten darin. Den Einwohnern verdarb der Schwerlastverkehr gehörig die Laune. Selbst Störmer brauchte mehrere Minuten, ehe er die Chance hatte, die Hauptstraße zu überqueren.

Er passierte den Eingang zum alten Steinbruch. Störmer öffnete die beiden vorderen Fenster und atmete tief ein. Würde der Fund, der ihn gleich erwartete, sein neuer Fall werden?

Vor den rot-weißen Absperrbändern stoppte er seinen Wagen. Es dauerte einen Moment, bis sich der Staub gesetzt hatte. Da sah er auch schon Siebenhühner, der im Schatten eines Baumes lehnte.

»Guten Morgen noch mal.«

Siebenhühner drehte sich sehr langsam zu ihm um und gab ihm die Hand.

Störmers Blick fiel auf die Decke und die Blutflecke.

»Was ist passiert?«

»Ein Liebes-Trio hat sich hier vergnügt. Der Mann, besser gesagt der Jüngling, wurde dabei durch einen extremen Stich am Rücken verletzt. Das ist der Grund für das viele Blut. Er ist in Eisleben im Krankenhaus.«

»Okay, wann war das?«

»Vorgestern Nacht, kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Der Rest des Trios besteht aus zwei Damen, die die Rettung gerufen haben.«

»Vorgestern schon?«

»Genau, dem Notarzt kamen die Wunden seltsam vor, deshalb hat er mich gestern Abend angerufen. Ich bin heute früh hierher gefahren, um die Stelle zu sichern, und habe dabei das hier gefunden.« Er überreichte Störmer eine Plastiktüte mit einem länglichen Gegenstand.

»Da ist doch ein Knochen, oder?«

»Genau, dieses zerbrochene Skelettteil hat die Verletzung hervorgerufen, es ist ziemlich spitz. Da vorn ist noch Blut vom Jüngling dran. Die restlichen Knochenstücke aus der Stichwunde heben sie im Krankenhaus für uns auf.«

»Ein Teenager?«

»Genau, knapp 16. Die beiden Damen haben mehr als das Doppelte an Jahresringen auf der Uhr.«

»Hm, interessant. Egal, warum auch immer die sich ausgerechnet hier mit Liebesspielen vergnügt haben, wir sind schließlich nicht von der Sitte. Sollen die sich darum kümmern.« Störmer betrachtete den Knochen, um ihn anschließend mit dem Handy zu fotografieren.

»Gibt es mehr davon?«

Siebenhühner zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Am Wochenende ist das so eine Sache mit der Spurensicherung.«

Störmer nahm sich zwei Gummihandschuhe. Er fotografierte aus verschiedenen Perspektiven, schob die Picknickdecke zur Seite und fing an, mit den Händen zu graben. Es dauerte nicht lange und er hatte weitere Knochenreste gefunden.

»Das sieht komisch aus, ich schicke die Fotos mal einer Kollegin. Meine letzte Forensikstunde ist etwas länger her. Aber für ein vollständiges menschliches Skelett scheinen es mir zu wenig Knochen.«

Er grub weiter.

»Wo sind die beiden Damen jetzt?«

»Zu Hause, nehme ich an. Ihre Personalien habe ich notiert.«

Siebenhühner zog ebenfalls Handschuhe über und beteiligte sich am Graben. »Also, entweder ist der Rest der Leiche woanders, oder …«

»Oder?«

»Es sind eben keine menschlichen Knochen.«

In diesem Moment klingelte Störmers Handy. Er war froh, aus der gebückten Haltung aufstehen zu können. »Hallo Elena, schön, dass du anrufst.« Störmer klopfte Staub von der Hose, als er zuhörte. Er sah seinen Kollegen an. »Sie können aufhören. Wenn uns nicht alles täuscht, sind das die Knochen einer Katze. Genau kann unsere Kollegin das erst sagen, nachdem sie alles auf dem Tisch hat.«

»Na prima, dann darf wenigstens die Spurensicherung das Wochenende genießen.« Siebenhühner trat wütend in das Erdloch. Man sah ihm irgendwie an, dass es ihm peinlich war, Verstärkung aus Halle gerufen zu haben.

Störmer winkte ab und griff ihn plötzlich am Arm. »Moment, warten Sie.«

Er zeigte auf eine Stelle im Boden, die wie Messing glänzte, bückte sich und grub weiter. Kurze Zeit später hatte er ein Grablicht freigelegt.

»Voll mit Erde, wer weiß, wie lange das hier schon liegt.«

Unmittelbar darauf hielt er die Reste einer Gürtelschnalle sowie einen Schuhabsatz nach oben.

»Jetzt wird es wirklich spannend. Manche Dinge verrotten nämlich viel langsamer, als die Leute denken. Wir bestellen die Spusi nicht ab, die sollen sich das ruhig ansehen.« Er hob den Metalldeckel an und blickte in das Innere des geschmiedeten Grablichtes. »Das ist keine Erde.«

»Nein? Was könnte das sonst sein?«

»Asche, Herr Kollege. Sehen Sie?«

Auf dem grauweißen Inhalt lagen zwei Haarspangen, ein Ring sowie eine Kette. Siebenhühner wurde blass. »So eine Scheiße.«

Wortlos ging Störmer zum Kofferraum und holte zwei Cola aus der Kühltasche. Dann fotografierte er die Seiten aus Siebenhühners Notizbuch mit den Personenangaben der drei Zeugen. »Ich fahre zuerst zu den Damen, später ins Krankenhaus. Viel bringen wird es nicht. Wer weiß, wie lange die Überreste hier schon liegen. Würden Sie auf die Spusi warten? Die müssten bald kommen.«

Er setzte sich ins Auto.

(Vor dreißig Jahren)

Er wollte nicht böse sein.

Im Moment konnte er kaum unterscheiden, was schlimmer war: das Zittern seiner Hände oder die Hungerkrämpfe. Vorsichtig öffnete er die massive Holztür mit der altdeutschen Aufschrift »Luftschutzkeller, geeignet für vier Personen«.

Gierig sog der Junge die Sommerhitze ein, würgte die Vorahnung herunter. Nasskalter Moder umfing ihn schon auf der obersten Treppenstufe, ein fürchterlicher Gestank in einer zähen Mischung aus Früher und Heute. Rasch zog er die Tür hinter sich zu, damit ihm die Fliegen nicht folgten. Sein Rucksack mit der gestern gekauften Desinfektionsmittelflasche war leicht. Für Lebensmittel hatte das Geld nicht mehr gereicht. Der Monatsscheck war noch nicht in der Post gewesen.

Er folgte den ausgetretenen Sandsteinstufen und genoss die Stille des Ortes. Im flackernden Halbdunkel einer fast verbrannten Kerze konnte er ihre Gestalt auf der Liege ausmachen. Bevor er herantrat, stellte er den Rucksack mit der Flasche auf ein Regal. Dann beugte er sich hinab, um zu prüfen, ob sie atmete. Erschrocken zuckte er zurück, als sie die Augen öffnete und ihn gleichzeitig ein Schwall grün-galliger Speichelmasse nur knapp verfehlte. Geduldig wartete er das Ende eines Hustenanfalls ab und rollte ihre fleckige Wolldecke zurück.

Es wird gleich wehtun, dachte er bei sich.

Er nahm seinen alten Walkman, stülpte die Kopfhörer über und schob die Lautstärke fast auf Anschlag. Schließlich drehte er die Flasche mit dem Desinfektionsmittel auf und tränkte ein Geschirrtuch. Dann löste er die Fessel an ihrer linken Hand. Routiniert wischte er in einer schnellen Bewegung unter dem Lederriemen durch. Die klapprige Frau schrie auf. Dank der Musik sah er nur ihr verzerrtes Gesicht. Anschließend befreite er die rechte Hand. Ein Wisch mit dem Geschirrtuch ließ sie erneut das Gesicht verzerren. Jetzt erst sah er, dass sie weinte.

Mit einer Ecke des Tuches tupfte er ihr die Schweißperlen von der Stirn. Zufrieden bemerkte er, dass ihr Fieber gesunken war. Er wischte weiter, schließlich unter der Kleidung, darauf bedacht, jederzeit ausweichen zu können. Einmal, erinnerte er sich, hatte sie ihn mit ihren zahnlosen Kiefern gepackt und mit der Kraft eines Schraubstockes zugebissen, sodass das Fleisch an seinem Arm fast bis zum Knochen zerquetscht wurde. Von da an war er vorsichtig.

Er sah nicht hin, als er ihren Unterleib entblößte. Für einen kurzen Moment hörte er auf zu atmen. Dann griff er mit beiden Händen in die eklige, breiige Masse, die aus aufgequollenen Papier- und Stofffetzen bestand. Hastig stopfte er alles in eine Mülltüte. Mit dem Geschirrtuch wischte er gründlich nach, auch an den Stellen, wo er Entzündungen vermutete. Sie wimmerte. Wenn er wieder Geld hätte, würde er vielleicht richtige Windeln kaufen. Jetzt musste genügen, was da war.

Die Musik wummerte weiter in seinen Ohren, als er die mageren Beine säuberte. Damit sie nicht von der Liege fiel, beließ er die Fesseln an den Fußgelenken, umwischte sie nur mit einem Schwall Desinfektionsmittel. Zum Schluss faltete er das Tuch zu einer provisorischen Windel. Den letzten Rest aus der Flasche brauchte er, um seine eigenen Hände zu reinigen. Manchmal träumte er davon, sich Handschuhe zu kaufen.

Zufrieden schob er den Walkman in den Rucksack zurück.

Körperpflege war wichtig. Außerdem musste sie bei Kräften bleiben. Deshalb griff er nach einem angebrochenen Glas Babynahrung. Er warf zwei Beruhigungstabletten hinein und bückte sich nach der Blechschüssel, mit der er das von den Wänden laufende Wasser aufgefangen hatte. Es war genug Wasser da, um die Babynahrung zu verdünnen.

Er schüttelte das Glas, bis sich eine lockere Masse gebildet hatte. Sie versuchte, ihren Mund geschlossen zu halten. Aber dazu war sie inzwischen zu schwach. Ein kurzer Druck auf ihr Kinn genügte. Schnell schüttete er den Brei hinein, presste seine Hand auf ihren Mund und rieb ihre Kehle so lange, bis sie schluckte.

Später hörte sie auf zu weinen und sah ihn an. Die graugelbe Haut bildete einen scharfen Kontrast zum irren Glanz ihrer Augen, der dem bläulichen Flügelschlag einer schillernden Schmeißfliege ähnelte. Ihm schauderte.

Der Arzt hatte vor einiger Zeit gemeint, dass sie sich in wenigen Tagen erholen würde. Irgendwann verging jeder Anfall, das wusste er. Er hatte Angst um sie und wünschte sich sehr, sie bald wieder mit nach oben zu nehmen. Dann würde er auch wieder für sie tanzen. Er würde ihre lachenden Augen sehen, wenn er die blanken Elektrodrähte zwischen die eigenen Zehen steckte, um sich zuckend im Strom zu bewegen. Dass er danach Turnschuhe statt Sandalen tragen musste, störte ihn nicht. Wichtiger war, dass die anderen Kinder die schwarzen Brandstellen an seinen Füßen nicht sahen.

Er legte seine Stirn an die ihre: Alles wird gut. Du musst gesund werden, ja? Und ich werde tanzen.

Vorsichtig schob er ihre Hände zurück unter die Lederfesseln, sie ließ es geschehen. Kurz strich ihre aufgequollene Zunge über die rissigen Lippen. Ihr Atem wurde gleichmäßiger, sie schlief.

Zuletzt legte er die Wolldecke wieder über den fiebrigen Körper, griff seinen Rucksack, erneuerte die Kerze und stieg nach oben.

Auf der letzten Stufe bekreuzigte er sich. Dann betete er leise zur Mutter Gottes.

Ich schenke dir den Tod

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