Читать книгу Die letzte gute Tat - Ralf Peter Paul - Страница 9
ОглавлениеManouch
Ein solcher Mensch war Manouch, die mit bürgerlichem Namen Greta Berger hieß. Eine ältere Juwelierswitwe aus der Schweiz, die schon viele Jahre im Rollstuhl saß. Trotz der Decken auf ihren Beinen und dem eleganten Poncho über Schulter und Rücken konnte man eine große, schlanke Figur vermuten. Den Geschichten nach zu urteilen, die sie Bekannten und Freunden erzählte, muss sich ihre Sturm-und-Drang-Zeit in den 80er-Jahren abgespielt haben. Ihr wahres Alter würde sie wahrscheinlich nicht einmal unter Drogen verraten.
Sie kam zwei bis drei Mal in der Woche und wurde immer von ihren Bediensteten begleitet. Meistens waren es ihre Haushälterin Lucia und deren 16-jähriger Sohn Fabio.
Sie bestellte ein Gericht, welches sie nie ganz aufaß. Je mehr sie trank, desto unterhaltsamer wurde sie. Dabei übertönte ihre Stimme die ohnehin sehr lauten Gespräche der Spanier. Sie entschuldigte sich mehrfach am Abend, spendierte Wein und Brandy sowie die letzte Runde vor Lokalschluss.
Eines Abends, als es mal wieder nicht so viel in der Küche zu tun gab, brachte Behrens den Gästen das Essen. Als er an den Tisch von Manouch kam, sprach sie ihn auf Schwyzerdeutsch an: „Ich glaube, ich habe Sie hier noch nie gesehen, sind Sie neu? Verstehen Sie mich überhaupt?“
Bevor Behrens antworten konnte, eilte Nando hinter dem Tresen hervor und sagte: „Das ist Flo, mein Neffe aus Deutschland, der Sohn meiner Schwester. Er hilft mir ein wenig in der Saison aus.“
„Da hast du mir ja die ganze Zeit einen feinen jungen Mann verschwiegen. Sind Sie das erste Mal in Calpe, Flo?“, fragte Manouch interessiert und schaute dabei mit einem Lächeln im Gesicht an Behrens hoch.
„Meine Freunde nennen mich Max, bitte. Nein, ich war schon einige Male im Urlaub hier“, gab Behrens artig zur Antwort.
„Dann will ich dich jetzt auch Max nennen. Bitte bring mir noch einen Vino tinto; für Lucia und Fabio ein Wasser sin gas und eine Cola light.“
Sichtlich verärgert ging Behrens zu Nando, der inzwischen wieder hinter dem Tresen stand.
„Onkel, ich möchte dich nochmals bitten, mich vor anderen nicht Flo zu nennen. Du weißt, dass ich diese Abkürzung schon in der Schule nicht mochte.“
Nando hörte gelassen zu, füllte die Gläser und brummte leise: „Bueno und nun bring die Bestellung an den Tisch, Florian.“
In den nächsten zwei Wochen wiederholte sich dieser Ablauf noch einige Male: Manouch kam mit ihrem Gefolge, bestellte Essen und Trinken sowie die letzte Runde vor Lokalschluss. Lediglich die Gespräche zwischen ihr und Behrens wurden länger und intensiver.
Sie erzählte ihm aus ihrem Leben und schwärmte von der aufregenden Zeit mit ihrem Mann, einem der namhaftesten Juweliere in Zürich, vielleicht sogar der ganzen Schweiz.
Sie reisten mit eigenem Jet und fertigten Schmuck nur für die beste Gesellschaft. Dabei nannte sie bekannte Namen aus dem Film- und Musikgeschäft. Bei all den Geschichten und Anekdoten hing Behrens ihr an den Lippen. Er konnte davon nicht genug bekommen und war von der älteren Dame und deren „Lebensbeichte“ stark beeindruckt.
Sie hingegen genoss es, in Behrens einen echten Bewunderer gefunden zu haben und sparte nicht mit pikanten Details aus der Welt der Schönen und Reichen.
Am Ende einer dieser langen Abende im Restaurant bat Manouch Behrens, sie am nächsten Tag in ihrem Haus zu besuchen. Sie hätte etwas mit ihm zu besprechen und wolle ihm einen Vorschlag machen.
„Das klingt nicht gerade nach einem Date, zumal die Behinderung und das Alter …“, überlegte Behrens und holte sich Rat bei Nando.
„Manouch ist eine wohlhabende Frau und, soweit ich weiß, ohne Nachkommen. Vielleicht hat sie sich in dich verguckt und will dich als Erben einsetzen“, scherzte Nando und schob noch nach: „Morgen ist eh Sonntag und das Lokal geschlossen. Du hast also frei.“
Am nächsten Tag, pünktlich um 19 Uhr, klingelte Behrens an der mit Holzschnitzereien verzierten Haustür, die nach wenigen Augenblicken von Lucia geöffnet wurde.
„Hola, mi señor, Manouch esta esperando.“
Behrens verstand die Worte nicht, entnahm aber dem Lächeln von Lucia, dass er willkommen sei und trat ein.
Die Villa von Manouch war ein großer Bungalow und nur wenige Gehminuten von dem Haus seines Onkels entfernt. Behrens hatte sich bereits vor einigen Tagen das Anwesen von außen angeschaut und im Geheimen gewünscht, einmal in diesem Prachtbau Gast sein zu dürfen.
Das Haus verfügte über eine Doppelgarage, einen Pool, der in den Abendstunden beleuchtet war und eine große Terrasse, an die sich ein gepflegter Zierrasen anschloss. Des Weiteren ein überdachter Grillplatz mit einer hochwertigen Sitzgruppe für sechs bis acht Personen.
„Wie und wann will sie das nur alles nutzen?“, ging es Behrens schon beim ersten Betrachten durch den Kopf.
Manouch saß in ihrem Rollstuhl in der Nähe des Kamins. Sie bot ihm einen Platz an und fragte, was er trinken möchte. Sie hätte alles da, er solle sich ruhig trauen.
„Wir sind ja jetzt privat und hinterher kommt auch keine Rechnung. Du bist ein gut erzogener junger Mann. Das habe ich bereits bei unserer ersten Begegnung bemerkt, lieber Max.“
Sie schmeichelte ihm und beim Klang seines Namens wich seine Nervosität. Er fühlte sich merkbar wohl in Gegenwart der älteren Lady.
„Dann nehme ich das gleiche Getränk, das bei Ihnen auf dem Kaminsims steht. Was ist es eigentlich?“
„Rum mit Cola und eine Scheibe Zitrone. Nicht unbedingt spanisch und mein Arzt hat es mir auch verboten, doch genau das Richtige für den letzten Tag der Woche. Nando hat ja heute leider geschlossen“, bedauerte Manouch und gab ihrer Bediensteten ein kurzes Handzeichen.
Wenige Augenblicke später brachte Lucia das Getränk. Es war auch ihr letzter Dienst, danach verabschiedete sie sich mit „Hasta mañana“ und verließ das Haus.
„Kennen Sie meinen Onkel schon lange?“, wollte Behrens wissen.
„Ja, schon recht lange. Als er vor vielen Jahren nach Calpe kam, war es nicht leicht für ihn. Es ist nie einfach für einen Ausländer, hier ein Gewerbe zu betreiben. Touristen sind immer herzlich willkommen, die bringen Geld. Doch wenn du hier Geld verdienen willst, nimmst du es möglicherweise einem Spanier weg, so denken manche Behörden heute noch. Mein verstorbener Mann war deinem Onkel sehr behilflich. Er hatte die Kontakte und wenn es sein musste, auch das nötige Kleingeld. Du verstehst, was ich damit meine.“
Behrens verstand nicht, was Manouch damit meinte, doch er folgte mit Spannung ihren Worten, als wenn er zum ersten Mal Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte hören würde.
„Ich darf behaupten, dass dein Onkel ohne die Hilfe meines Mannes nicht da wäre, wo er jetzt ist. Doch das ist lange her und mein Mann seit zwei Jahren tot. Im Übrigen ist das Konto inzwischen ausgeglichen“, erklärte Manouch.
„Was soll das heißen: Das Konto ist ausgeglichen?“, fragte Behrens interessiert.
„Mein lieber Max, das werde ich dir heute nicht erzählen und du fragst auch besser deinen Onkel nicht danach“, empfahl Manouch.
Nach einem Moment des Schweigens folgten wieder Geschichten aus dem aufregenden Leben der Gastgeberin, bis Behrens mit einem Schlag der Atem stockte.
Manouch stand aus ihrem Rollstuhl auf, bedächtig, mit leichtem Abstützen an der Wand, und ging in die Küche, um erst die Rum- und danach die Colaflasche ins Wohnzimmer zu bringen. Eine Hilfestellung von Behrens lehnte sie bereits im Ansatz ab und füllte die beiden Gläser nach.
Der Tonfall ihrer Stimme änderte sich. Es klang Verbitterung darin mit und eine tiefe Unzufriedenheit war zu spüren.
„Man ist hier nur so gut wie sein Geld. Sollen sie doch alle glauben, dass ich ein Krüppel bin und nicht merke, wenn sie mich bestehlen. Aber was soll ich machen? Für die meisten Erledigungen brauche ich ihre Hilfe und die erhalte ich nur aus Mitleid und vor allem wegen der Bezahlung. Du solltest am Sonntagmittag herkommen, da tummelt sich hier die ganze Familie von Lucia . Lucia kauft von meinem Geld ein und die ganze Bande verbringt ihren ‚Heiligen Sonntag‘ auf meinem Grundstück. Heute habe ich es ihnen untersagt, weil du zu Besuch gekommen bist.“
„Gibt es denn niemand anderen, der die Besorgungen für Sie erledigen kann?“, fragte Behrens mitleidig.
„Gab es, ein deutsches Pärchen. Ich hatte es im Restaurant deines Onkels kennengelernt. Am Anfang schien alles in Ordnung zu sein. Die Frau war fleißig im Haus und konnte auch ein wenig kochen. Er hat sich um den Garten gekümmert und mir alle notwendigen Sachen aus der Stadt besorgt.“
Mit jedem Satz steigerte sich Manouchs Aufregung. Ihre Stimme zitterte und die Kräfte ließen nach. Sie musste sich wieder in ihren Rollstuhl setzen.
„Was ist passiert? Wo sind die beiden jetzt?“
„Das Pärchen erhielt einen Brief aus Estepona. Das ist an der Costa del Sol. Sie haben mir sogar den Text vorgelesen. Es ging darum, einer Freundin zu helfen. Sie versprachen mir, in zwei bis drei Wochen wieder zurück zu sein. Das war vor sechs Monaten. Die kommen nicht mehr zurück!“, stellte Manouch nüchtern fest.
„Warum sind Sie sich da so sicher? Vielleicht ist nur etwas dazwischengekommen und hat ihre Rückkehr verzögert.“
„Ich bin mir sicher, weil sie mich bestohlen haben.“ Manouch bekam feuchte Augen. „Mehrere wertvolle Ringe und Armbänder haben sie mitgenommen, diese Verbrecher.“
Für Behrens, der bisher nie mit kriminellen Dingen zu tun gehabt hatte, war dies ein Schock. „Wie kann man nur eine behinderte Frau bestehlen und sie dann ihrem Schicksal überlassen?“ Diese Frage blockierte ihn und erstickte jeglichen möglichen Kommentar im Keim. Er war einfach nur erschrocken über so viel Heimtücke.
Manouch hatte sich mit einem großen Schluck aus ihrem Glas beruhigt und ging in die Offensive über.
„Die werden sich noch wundern“, drohte sie mit erhobenem Zeigefinger. „Als der Brief auf dem kleinen Garderobentisch lag, habe ich mir die Adresse des Absenders aufgeschrieben. Irgendwie hatte ich eine Vorahnung, dass ich diese einmal brauchen werde. Jetzt fehlt es mir nur an jemandem, der dort hinfährt und mir die Sachen zurückholt. Jemandem mit Mut und Durchsetzungsvermögen. Einem Menschen, dem ich voll vertrauen kann.“
Das hatte gesessen. Man konnte es Behrens’ Gesicht ablesen, wie er sich in der Rolle des „Gerechten“ sah, dem Max aus seinem Film, dessen Familie getötet wurde und die er dann gnadenlos rächte. Zuerst wollte er aber noch eine andere Möglichkeit prüfen.
„Was ist mit der spanischen Polizei? Wäre die nicht dafür zuständig? Könnten die das Paar nicht ausfindig machen und festnehmen?“
„Man merkt, dass du immer nur im Urlaub hier warst. Die Polizei macht gar nichts für uns Ausländer. Wir sollen gefälligst unsere Angelegenheiten untereinander regeln“, belehrte ihn Manouch und fügte noch hinzu: „Erst wenn du halbtot am Straßenrand liegst, werden sie vielleicht ein Protokoll aufnehmen. Mehr darfst du nicht erwarten. Solange du deine Steuern zahlst und keiner spanischen Behörde in den Weg kommst, lassen sie dich hier wohnen. Du bringst ja schließlich auch Geld in das Land, genau wie die Touristen.“
Behrens war fassungslos. Das hätte er von den Spaniern nie gedacht. Nun war er entschlossen, dieser hilflosen Frau zur Seite zu stehen und machte ihr ein Angebot.
„Wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken, dann fahre ich dorthin und versuche mein Bestes. Nur wenn es unterwegs irgendein Problem gibt, mein Spanisch ist nicht besonders …“, gab Behrens zu bedenken.
Manouch beugte sich in ihrem Rollstuhl weit nach vorne, als wollte sie Behrens etwas ins Ohr flüstern.
„Würdest du das wirklich für mich tun? Natürlich habe ich Vertrauen zu dir, außerdem bist du der Neffe deines Onkels. Du sollst auch nicht alleine reisen. Ich hatte schon vor einigen Tagen mit Lucias Sohn Fabio gesprochen, er würde gerne einmal nach Südspanien fahren und dich sicher begleiten. Gleich morgen kann ich mit ihm darüber reden. Selbstverständlich übernehme ich alle Kosten und eine Belohnung gibt es obendrauf.“
Beide Gesichter strahlten, als hätten sie den Hauptgewinn in der „Sorteo de Navidad“, der spanischen Weihnachtslotterie, geholt.
„Max, jetzt möchte ich noch etwas wissen: Warum hat dich dein Onkel als Flo vorgestellt?“
Diese Frage machte Behrens verlegen. Er musste sie schon einige Male beantworten, denn auch sein Vater rief ihn gelegentlich so. Natürlich wollte er gegenüber Manouch nicht unhöflich sein und offenbarte sich.
„Ich heiße eigentlich Florian, aber schon in der Schule haben sie mich wegen meiner geringen Größe Flo, nach dem Tier mit ‚h‘, genannt. Das wollte ich nicht mehr und deshalb sage ich allen Menschen, die ich kennenlerne, mein Name sei Max.“
„Und warum gerade Max?“, fragte Manouch weiter.
„Max ist kurz und gut zu merken. Außerdem gab es einmal einen Filmhelden, der gegen richtig böse Menschen kämpfen musste, nachdem diese seine Familie ermordet hatten. Er hat sie gerächt und alle getötet“, erzählte Behrens mit leuchtenden Augen.
„Jetzt bist du mein Held und rächst mich. Das werde ich dir nie vergessen. Lass uns darauf trinken und bitte sag nicht mehr ‚Sie‘ zu mir, wir sind doch jetzt enge Verbündete!“, bot Manouch Behrens an und reichte ihm die Hand.
Sie saßen noch bis weit nach Mitternacht zusammen, schmiedeten Pläne und verwarfen diese im nächsten Moment wieder. Sie mussten feststellen, dass der Alkohol keinen klaren Gedanken mehr zuließ und verabredeten sich für den nächsten Abend. Bis dahin würde Behrens auch mit seinem Onkel gesprochen haben und Manouch mit Lucia und Fabio.