Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 10

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6. Februar 1933

»Den haust du windelweich!« Simons aufmunternde Worte erreichten Jacob kaum. In seinen Augen lag Ferne. Volle Konzentration. Die Boxhandschuhe umschlossen seine Fäuste, und Schweißtropfen perlten über seine Stirn. Mit dem Unterarm wischte Jacob über seine blutende Nase. Mehr als einmal hatte sein Gegner harte Treffer gelandet. Schmerz pulsierte durch seinen Körper. Simon setzte ihm eine Trinkflasche an die aufgesprungenen Lippen und flößte ihm beinahe gewaltsam ein paar Tropfen Wasser ein. Seine Kehle war rau und trocken, sodass er husten musste.

»Der ist doch viel zu fett. Schau ihn dir an, der pfeift schon aus dem letzten Loch. Lass ihn noch ein bisschen tanzen und dann hau voll zu.« Simons Zuversicht rührte ihn. Sein Bruder, immer auf seiner Seite. Immer glaubte er an ihn. Noch nie hatte Simon ihn im Stich gelassen. Er war nicht nur der Beste im Armdrücken, sondern auch ein hervorragender Boxer, der ihn noch dazu selbst trainierte.

»Er ist zwei Jahre älter als ich«, begann Jacob, doch Simon fasste sein Gesicht mit beiden Händen und rüttelte ihn. Dabei blickte ihm sein Bruder tief in die Augen und endlich drangen seine Sätze zu ihm durch.

»Jeder ist zu schlagen. Denk an David gegen Goliath. Man muss nur wissen wie. Der Junge hat einen Schlag, wenn der dich kalt erwischt, gehst du schlafen. Aber du hast blitzschnelle Beine und eine Lunge wie ein Rennpferd. Mach ihn müde.« Simon hatte recht. Er musste recht haben, wenn er den Kampf gewinnen wollte. Die Glocke ertönte zur nächsten Runde und Simon zog ihn auf die Beine. Zitterten diese etwa schon? Seine Knie schienen aus Gummi, sodass sie jeden Augenblick wegzuknicken drohten.

Sein Gegner wippte schon in der Mitte des Boxringes umher, die Fäuste schützend vor seinem Gesicht. Herbert Bauer. Das Los hatte angeblich entschieden, dass er gegen ihn kämpfen sollte, doch Jacob bezweifelte dies. Fakt war, dass Herbert zwei Jahre älter war, einen Kopf größer und bestimmt zehn Kilo mehr auf die Waage brachte als er selbst. Ein würdiger Gegner für seinen Bruder. Simon hatte die Wahrheit gesagt. Ein ungleicher Kampf. David gegen Goliath. Jude gegen Vorzeigedeutschen. Ein ausgeklügelter Plan, damit Herbert stolz die Schärpe über den Kopf ziehen und die Fäuste nach oben reißen konnte, während er selbst mit dem Gesicht auf dem Boden lag und den Schweißgeruch, der sich dort festgesetzt hatte, einatmen musste.

Mach ihn müde. Wie ein Echo hallten Simons Worte durch seinen Kopf. Beinarbeit. Technik. Geschwindigkeit. Der Schiedsrichter gab den Kampf frei und Herbert stürzte wie ein hungriger Wolf nach vorne. Keuchend bleckte er die Zähne. Sein nackter Oberkörper glänzte vom Schweiß. Die ersten Schläge wirbelten durch die Luft, ohne ein Ziel zu treffen, da sich Jacob unter seinen Fäusten pfeilschnell wegduckte. Rechts. Links. Runter. Ein paar Schritte zurück. Ein paar Schritte nach vorn. Herbert war Linkshänder. Das wusste Jacob von der Schule, doch auch spätestens, nachdem er ihn hart im Gesicht erwischt hatte. Mit der rechten Hand schlug Herbert viel langsamer zu. Als der Riesenkerl ausholte und ins Leere taumelte, machte Jacob einen Satz nach vorne und rammte ihm seine Faust mit voller Wucht leicht seitlich in den Bauch. Volltreffer. Er hatte den Schlag unterhalb von Herberts Brust platziert. Direkt in die Leber. Herbert jaulte laut auf und ließ sich zu Boden sinken. War der Kampf schon vorbei? Der Riese krümmte sich unter Schmerzen und der Schiedsrichter begann laut anzuzählen. Simon jubelte aus den Rängen. Dann war Herbert plötzlich wieder auf den Beinen. Ein harter Knochen. Die Glocke ertönte und die beiden Kämpfer gingen in ihre Ecke.

»Die Pause ist viel zu früh«, maulte Simon. »Das hat der mit Absicht gemacht, damit er sich erholen kann. Ein richtig guter Schlag!«, lobte er und klopfte seinem Bruder anerkennend auf den Rücken.

»Ich hab ihn richtig erwischt. Man konnte es regelrecht spüren. Wie du es mir beim Training gesagt hast.«

»Schau ihn dir an! Er ist schon ganz bleich und kann kaum aufrecht sitzen. Sein Kreislauf verabschiedet sich bald. Ein Leberhaken ist tückisch.«

Simon war ein sehr guter Trainer. Er war in der Lage, die Körpersprache seines Gegenübers zu lesen und hatte sein Wissen an seinen kleinen Bruder weitergegeben. Als Kinder hatten sie viel gerauft und ihre Kräfte gemessen, doch einen ernsten Boxkampf würde es zwischen ihnen niemals geben.

Die Glocke schrillte erneut und Jacob stand auf einmal leichtfüßig auf. Ein Treffer, und jetzt schien auch sein Kopf wieder voll bei der Sache zu sein. Er glaubte wieder ans Gewinnen.

Herberts Augen flackerten verdächtig, so als würde er Mühe haben, wach zu bleiben, doch mechanisch holte er immer wieder zum Schlag aus. Sein Trainer rief wie wild Ratschläge in den Ring. Jacob täuschte mit links an und ließ seine rechte Faust gegen Herberts Kiefer prallen. Dieser zog seinen Gegner jetzt kräftig an sich heran und klammerte sich fest. Jacob versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien, doch plötzlich durchzuckte ihn ein alles betäubender Schmerz. Herberts Faust hatte ihn mit voller Wucht unterhalb der Gürtellinie getroffen. Jacob zog die Luft ein wie ein Karpfen auf dem Trockenen, krümmte sich am Boden und wollte den Schmerz herausschreien. In Wellen pulsierte er durch seinen Körper und er hatte das Gefühl, sich sofort übergeben zu müssen.

»Er hat ihn unter der Gürtellinie getroffen! Das ist ein Foul!«, schrie Simon zornig, doch der Schiedsrichter reagierte nicht.

»Steh auf, du dreckiger, kleiner Jude und kämpfe anständig!«

Herberts Worte prasselten wie Nägel auf ihn herab. Verletzend. Zerstörend. Er war ihnen schutzlos ausgeliefert und sie taten mehr weh als alle Schläge zuvor. Jude. Das Wort schmeckte bitter auf seiner Zunge, als er es wisperte.

Das Publikum brach in Beifall aus und Herbert riss die Hände in Siegerpose nach oben. Nein. So einfach konnte er es ihm nicht machen. David gegen Goliath. David gegen Goliath.

Jacob biss die Zähne zusammen und rappelte sich unter den Zurufen seines Bruders auf. Nach Anzahl der Treffer konnte er nicht mehr gewinnen. Außerdem war das Ganze ein ausgemachtes Spiel, wenn der Schiedsrichter nicht einmal bei einem Tiefschlag einschritt. Ein K.O. war alles, was zählte. Jacob wollte seine Fäuste in Herberts grinsender Fratze versenken. Er wollte, dass sein arrogantes Lachen verstummte. Er wollte respektiert werden. Beweisen, dass auch ein Jude kämpfen konnte. Jacob nickte dem Schiedsrichter zu, der überrascht die Augenbrauen hob.

»Brechen Sie den Kampf ab. Sehen Sie nicht, dass der kleine Jude schon völlig am Ende ist«, rief Herberts Trainer hinein, doch der Schiedsrichter gab die neue Runde frei.

Der Riese hatte Kraft getankt, während er selbst am Boden wie ein Wurm herumgekrochen war. Jacob spürte aber, dass Herbert nicht mehr Herr seiner Emotionen war. Blanker Hass sprang aus seinen Augen. Er drosch blind vor Wut drauflos, ohne auf seine Technik zu achten. Da. Keine Deckung. Mit der Rechten holte Jacob aus und erwischte Herbert hart an der Schläfe. Wie ein Mehlsack fiel er um. Unkontrolliert. Bewusstlos.

»Eins. Zwei. Drei …«, begann der Schiedsrichter, und Simon sprang bei Zehn in den Ring und hob Jacob vor Freude schreiend nach oben. Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht und erst da wurde Jacob bewusst, dass er gewonnen hatte. Der Kampf war zu Ende. Herbert hatte das Bewusstsein zurückerlangt und rappelte sich benommen auf.

»Das ist ungerecht«, beschwerte sich sein Trainer und rannte wild gestikulierend auf den Schiedsrichter zu. »Der war doch schon am Boden, der Kampf war schon längst zu Ende.« Mit seinem Wurstfinger deutete er auf Jacob, das Gesicht feuerrot.

Der Schiedsrichter schüttelte aber entschlossen den Kopf, ging auf Jacob zu und riss dessen Hand nach oben. Ein K.O. war schließlich ein K.O. Daran gab es nichts zu rütteln.

Glücksgefühle strömten wie Quellwasser durch Jacobs Körper. Er hatte tatsächlich Herbert Bauer besiegt. Dieser stampfte wie ein Kleinkind auf und schimpfte vor sich hin. Sein Trainer versuchte ihn zu beruhigen. Endlich trat er einen Schritt auf Jacob zu, der dachte, dass Herbert ihm gratulieren wollte. Stattdessen starrte er ihn hasserfüllt an.

»Das wirst du bereuen, du verdammter Jude! Du hast gerade dein Todesurteil unterschrieben. Ich mache dich fertig.« Im Vorbeigehen funkelte er Simon an, der spöttisch grinsend die Arme vor der Brust verschränkte und Herbert frech in die Augen sah.

»Dann viel Glück. Du musst es wohl gegen uns beide aufnehmen, aber jetzt hast du schon einmal gegen meinen kleinen Bruder verloren.«

Herbert schnaubte wie ein Rhinozeros und war kurz davor, Simon zu schlagen. Er hatte bereits die Boxhandschuhe achtlos auf den Boden geworfen und knackte mit den Fingerknöcheln. Die Fäuste geballt, ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander getrennt.

Auf einmal entschied sich Herbert aber gegen einen Kampf und verließ zornig den Boxring. Als sein Trainer ihn berühren wollte, schlug er dessen Hand von seiner Schulter. Simon hob Jacob in die Luft und setzte ihn auf seine Schultern.

»Du hast gewonnen. Du hast gewonnen!«

Mit einem Mal war die Euphorie, die eben noch vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte, wie weggeblasen. Herbert hatte seine Worte ernst gemeint. Eine schreckliche Wahrheit. Er würde alles daransetzen, ihm ab sofort das Leben zur Hölle zu machen. In der Schule. Im Schulhof. Auf dem Heimweg. Überall. Jacob wusste, dass Herbert nicht alleine war, er hatte Rückendeckung. Jacobs Herz rutschte ihm in die Hose. Er fühlte sich nicht wie ein Gewinner. Er fühlte sich klein und schwach. Wie ein ängstliches Rehkitz, das dem Rudel Wölfe schutzlos ausgeliefert ist. Während der Schiedsrichter ihm die Siegesschärpe über den Kopf zog, fühlte er sich wie der größte Verlierer aller Zeiten.

Winter beäugte sich im Spiegel, als er sich für die Siegesfeier der Nationalsozialisten ankleidete. Seine hellbraunen Haare klebten ihm aus unerfindlichen Gründen an der Stirn und ließen sich nicht bezähmen. Langsam verlor er die Geduld. Unter den Fransen blickten ihn hellgrüne Augen an. Winter war nicht besonders groß gewachsen und seine Beine formten sich zu einem leichten O. Obwohl er seinen schmalen, schmächtigen Körperbau verabscheute, liebte er nichts mehr als seinen Anblick in der SS-Uniform. Wenn sein Vater ihn doch nur so sehen könnte. Sobald sich die Uniform an seinen Körper schmiegte, fühlte er sich viel größer, stärker und mächtiger. Er war jemand. Eine Persönlichkeit. Das Hakenkreuz zierte seinen linken Oberarm. Winters Frau Helene tauchte im Spiegelbild auf, und ihr Atem kitzelte ihn im Nacken.

»Du weißt, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du dich so anschleichst.«

»Du siehst einfach fabelhaft aus, Erich. Beeindruckend!«, raunte sie voller Ehrfurcht und er nickte ihr zu. Seit gestern schien es mit ihr wieder etwas bergauf zu gehen. Endlich war sie wieder in der Lage Treppen zu steigen, denn das ewige Rauf und Runter, wenn sie etwas benötigte, ging ihm gehörig auf die Nerven.

»Diese Uniform«, schwärmte sie weiter, »sie macht dich zu einem Helden.« Lächelnd küsste sie ihn auf die Wange. Ihre Lippen kratzten leicht über seine Haut.

»Ich muss los, Helene. Überanstrenge dich bitte nicht.« Er küsste sie flüchtig, befestigte dann noch seinen Schlagstock am Gürtel und verließ das Haus. Er fuhr mit dem Auto zur Kanzlei und stellte es auf dem Parkplatz davor ab. Erwin Holzer erwartete ihn bereits, auch er trug seine SS-Uniform.

Zu Fuß machten sich die beiden Männer auf den Weg zur Wirtschaft. Vor dem Gasthaus blähte sich die nationalsozialistische Flagge im Wind. Winter und Holzer salutierten zackig und betraten dann den Keller. Die anderen Parteimitglieder, die bereits anwesend waren, begrüßten sie mit einem lauten »Heil Hitler«. Winter und Holzer nahmen am Stammtisch Platz und der Wirt reichte ihnen sofort einen vollen Bierkrug.

»Die Sozis und die Kommunisten haben ihre Reichsbanner auf dem Max-Josefs-Platz aufgestellt. Genau da geht unser Siegeszug durch«, rief einer der Männer und Winter knallte seinen Krug auf den Tisch. Schon wieder wollten diese Volksverräter alles ruinieren.

»Wir gehen auf der Stelle los!« Holzer erhob sich. »Lieber reagieren wir sofort und mit aller Härte, bevor sie noch einen Aufstand anzetteln. Und noch einen. Und noch einen. Diesen Tag lasse ich mir von denen nicht kaputt machen und wenn ich ihnen eigenhändig mit dem Schlagstock die leere Rübe einschlage!«

Das Lachen der Parteimitglieder erfüllte den Keller, einige stimmten zu. Die Männer ließen ihre halbvollen Maßkrüge stehen und machten sich sofort auf den Weg.

Die Straße des Siegeszugs quoll über vor Menschen. Viele waren gekommen, um ihren Triumph zu feiern, die anderen waren hier, um ihn mit allen Mitteln zu zerstören. Winter führte zusammen mit Holzer die erstere Gruppierung an. Als sie die Riederstraße passierten, stellten sich ihnen einige kommunistische Anhänger demonstrativ in den Weg.

»Hier könnt ihr nicht durch«, begann der Erste, doch kaum waren diese Worte über seine Lippen gekrochen, brannten bei Winter die Sicherungen durch. Er packte seinen Schlagstock und schlug zu. Er traf den Mann an der Schulter, der entsetzt aufschrie und das Weite suchte. Seine Freunde rissen vor Schreck die Augen auf, doch Winter war schneller. Bevor sie abhauen konnten, drosch er noch ein paarmal auf ihre Rücken ein. Jeder Schlag fühlte sich besser an. Richtig. Befreiend.

Als er wieder ausholte, wurde er plötzlich selbst von den Beinen gerissen. Etwas Hartes hatte ihn am Kopf getroffen und er sackte zusammen. Dann durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, und als er nach seinem rechten Oberarm tastete, färbte sich seine Hand rot. Blut. Plötzlich sah er erneut die Klinge vor ihm auftauchen. Bevor sie ihm eine weitere Verletzung zufügen konnte, hatte einer seiner Männer die Situation erkannt und den Angreifer zu Boden gestreckt.

»Abführen!«, schrie Winter zornig. »Abführen!« Der Mann wurde hochgezerrt und weggebracht.

Winter rappelte sich auf. Schwindel. Nein, das hier war sein Tag. Sein Siegeszug. Er ließ sich das sicher nicht wegen eines kleinen Kratzers verderben.

»Du blutest.« Holzer hatte sich durch die aufgebrachte Menge einen Weg zu ihm gebahnt und besah seinen Oberarm. »Die Uniform ist aufgerissen und du hast eine ziemliche Wunde.« Die Uniform! Das durfte nicht sein. Erst wenige Male hatte er sie getragen und schon jetzt war sie zu seinem wertvollsten Schatz geworden.

»Du musst sofort ins Krankenhaus.« Winter schüttelte den Kopf. Er würde sicher nicht weggehen und seine Feier versäumen. Doch der Arm begann langsam zu schmerzen und wieder wurde ihm schwindelig.

»Also schön. Ich gehe zu Sedlmayr. Seine Praxis ist nicht weit von hier.«

»Ich begleite dich. Du solltest jetzt nicht alleine gehen«, bot Holzer an.

Winter winkte ab und setzte sich in Bewegung. Als er an einem der Kommunisten vorbeiging, spuckte dieser ihm abschätzig vor die Füße. Genug war genug. Winter rief seine Männer zusammen, die ihre Schulterriemen abschnallten, sie als Peitschen verwendeten und mit roher Gewalt auf die Parteigegner losgingen. Jetzt machte sich auch endlich die Polizei nützlich und unterstützte sie nach Kräften mit ihren Gummiknüppeln. Nach wenigen Minuten war der gesamte Platz geräumt, zurück blieb Chaos. Zeitungen lagen zerfetzt auf dem Asphalt, kaputte Flaschen breiteten sich aus, in ihren Scherben glitzerte die Sonne.

Wenn er sich beeilte und in der Praxis sofort drankam, konnte er noch an der Feier teilnehmen. So schnell es seine Beine erlaubten, marschierte Winter über den Platz, schlängelte sich durch ein paar Straßen und erreichte die Arztpraxis von Dr. Sedlmayr. Ohne sich anzumelden oder im Wartezimmer Platz zu nehmen, riss er die Tür zum Behandlungszimmer auf. Sedlmayr fuhr erschrocken herum.

»Was zum Teufel …«, begann er.

»Ich brauche eine Behandlung«, herrschte Winter ihn an. Das Kind, das auf dem Behandlungstisch saß und aus einer Wunde am Kopf blutete, blickte ihn mit angsterfüllten Augen an. Auch seiner Mutter stand der Schrecken im Gesicht, und sie legte den Arm um den kleinen Jungen.

»Ich bin verletzt. Eine Stichwunde.« Winters Stimme überschlug sich beinahe vor Zorn. Noch wütender machte es ihn, dass Sedlmayr in völliger Gelassenheit aufstand und zu ihm ging. Mit hochgezogenen Augenbrauen besah er seine Wunde.

»Das ist nichts Lebensbedrohliches. Warten Sie einen Moment vor der Tür. Ich bin gleich für Sie da.«

Wie bitte! Er hatte als Mitglied der SS wohl das Recht, vor einem Kind an die Reihe zu kommen. Winter wollte protestieren, doch Sedlmayr schob ihn vor die Tür. Nach wenigen Minuten öffnete sich diese wieder und die Mutter trug ihren Sohn auf dem Arm heraus. Als sie an Winter vorbeihuschte, beschleunigte sie ihre Schritte.

»Was erlauben Sie sich!«, rief Winter, doch der Doktor hob nur die Hand und brachte ihn so zum Schweigen.

»Ich dachte, Sie sind schwer verletzt. Dann schreien Sie gefälligst nicht so herum. Das Wartezimmer ist voll und nicht jeder braucht Ihren Auftritt mitzubekommen.«

Fassungslos über diese Frechheit ließ sich Winter auf den Behandlungstisch fallen, zog die Uniformjacke aus und legte seine blutende Wunde frei.

»Was ist passiert?«, wollte Dr. Sedlmayr wissen.

»Kommunisten«, sagte Winter, als wäre dies die Antwort auf Sedlmayrs Frage. »Sie haben mich beim Siegeszug überfallen und wollten mich abstechen. Ich habe mich aber gewehrt und so haben sie mich nur am Arm erwischt.«

Erneut zog Sedlmayr die Augenbrauen nach oben, schwieg aber. Er reinigte die Wunde und nahm sie genauer unter die Lupe.

»Das muss genäht werden«, stellte er trocken fest. Er drehte sich um, ging zu seinem Arzneischrank und zog mit der Spritze eine Flüssigkeit auf. Nachdem er sie Winter injiziert hatte, begann er mit der Arbeit. Zehn Stiche waren notwendig. Argwöhnisch drehte er den Kopf und musterte seinen Oberarm.

»Bleiben da Narben zurück?«

»Gewiss. Aber Sie können sicherlich stolz darauf sein.«

Winter lächelte breit und mit einem Mal war seine Wut verblasst. Der Tag hatte sich doch als Glückstag entpuppt. Immerhin hatte er eine Stichverletzung erlitten, die von einem Kommunisten stammte. Der Täter war leicht dranzubekommen Er konnte sich auch an die Zeitung wenden, die über den Vorfall berichten würde. Außerdem konnte Helene ihn für seinen Mut bewundern. Sie würde vor Dankbarkeit, dass er überlebt hatte, auf die Knie sinken.

Sedlmayr war gerade dabei, den Oberarm mit geübten Händen zu verbinden. Als er fertig war, zog Winter sein Hemd über den Kopf, stand auf und schüttelte dem Arzt die Hand.

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten. Ich weiß das zu schätzen.«

Sedlmayr kramte in seinem Schrank herum und wandte ihm den Rücken zu. »Ich hoffe, Ihrer Frau geht es inzwischen besser.«

»Sie fühlt sich deutlich kräftiger und kann schon etwas mehr im Haus herumlaufen.«

»Freut mich zu hören.«

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor.«

»Auf Wiedersehen, Herr Winter.« Er war sich sicher, dass Sedlmayr mit Absicht verweigerte, ihn bei seinem Dienstgrad zu nennen. Als würde ein einfaches Herr Winter bei ihm ausreichen.

Winter verließ die Praxis und schlenderte durch die geräumten Straßen. Die SA hatte die Oberhand behalten, so wie es sein sollte. Auf dem Weg zurück zur Kanzlei traf er auf Holzer.

»Wie geht es dir, Erich? Ist alles in Ordnung?« Die Besorgnis war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. Winter hasste es, wenn er diese Art von Aufmerksamkeit erhielt. Sorge. Mitleid.

»Alles gut.« Er winkte ab. »Wie ist die Feier gelaufen?«

»Die SA ist gerade dabei, ein paar Wohnungen zu durchsuchen. So können wir die Kommunisten entlarven. Stell dir vor, der Bürgermeister ist auf uns zugekommen, um sich zu beschweren.« Dicke Flocken wirbelten vom Himmel und setzten sich auf Winters Hut und seine Uniform. »Er war völlig außer sich und war doch tatsächlich der Meinung, dass wir zu hart vorgegangen wären.« Winter konnte nicht anders. Er brach in schallendes Gelächter aus und verstummte erst, als der Schmerz in seinem Oberarm zu groß wurde.

»Du machst Witze!«

»Nein. Er hat auch gesagt, dass es Aufgabe der Polizei sei, Aufstände zu kontrollieren, und nicht die der Partei. Er hat wohl Tomaten auf den Augen. Ich habe ihm zwar versichert, dass wir in Notwehr handeln mussten, aber wir lassen uns sicher nicht von den Kommunisten angreifen. Der Bürgermeister sollte mal deinen Arm sehen.«

Winter nickte zustimmend. »Angeblich wurden auch Schaulustige und Passanten verletzt.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Es wird schon die Richtigen mit dem Knüppel erwischt haben.« Er schnippte ein paar lästige Flocken von seiner Uniform.

»Dieser Herr Bürgermeister klang ja nicht unbedingt begeistert.«

Holzer schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es hat sich fast so angehört, als wäre er ein Gegner der Nationalsozialisten.«

»Den müssen wir loswerden.« Winters Stimme war leise, beinahe sanft wie der Schneefall. Holzer schien ganz Ohr.

»Wir brauchen noch mehr Stimmen. Es muss so aussehen, als wären die Kommunisten an allem schuld.«

»Waren sie doch auch. Sie haben den Aufstand angezettelt. Sie haben mir ein Messer in den Arm gerammt. Hätten wir uns nicht gewehrt, wäre ich vermutlich nicht mehr hier.«

»Ich werde mich sofort an die Pressestelle wenden. Die Bürger müssen schließlich erfahren, dass wir sie vor den Kommunisten beschützen wollten. Sie haben sich heute mehr denn je als Feinde des Reiches ausgesprochen.«

»Das spricht der Jurist, Erwin. Erstaunlich wie schnell du weiterdenkst. Wirklich beeindruckend. Wir müssen die Presse für uns gewinnen. Jeder idiotische Bauer, jeder Maurer und jeder Kanalarbeiter glaubt doch den Zeitungen, als würde das Wort Gottes gepredigt. Wenn wir die Presse auf unsere Seite ziehen, dann gewinnen wir die ganze Stadt.«

Holzer klopfte ihm väterlich auf die Schulter. »Genau so machen wir es. Ich wende mich sofort an die Pressemitarbeiter, damit sie von den heutigen Angriffen der Kommunisten berichten. Nicht, dass die am Ende schneller auf der Matte stehen als wir.«

Die beiden Männer verabschiedeten sich. Holzer machte sich auf den Weg zur Pressestelle, während Winter nach Hause wollte, zu Helene. Ihre Augen würden aufleuchten, wenn er ihr die Verletzung zeigte. Er hatte schließlich eine Messerattacke überlebt. Winter konnte es kaum erwarten, von seiner Heldentat zu berichten. Er musste wieder zu Kräften kommen. Nicht nur sein Arm war getroffen worden, sondern auch sein Selbstbewusstsein. Zu Hause konnte er seine Wunden lecken und sich von Helene bestaunen lassen.

Von Liebe und Hoffnung

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