Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 9
Оглавление1. Februar 1933
Erich Winter zählte nach der Machtübernahme Hitlers zu jenen Männern, die ihre Chance in der deutschen Politik gekommen sahen. Sein Hass galt den Sozialisten und Kommunisten, doch was er am meisten verabscheute, waren die Juden. Sie waren aus seiner Sicht Christusmörder, resistentes Ungeziefer, das sich in der Stadt eingenistet hatte wie Ratten im unterirdischen Kanalsystem. Verlogene Kaufmänner, die den anständigen Deutschen das Geld aus der Tasche ziehen wollten und den Bürgern die Arbeitsplätze stahlen. Großen Stolz empfand er, da kein Tropfen jüdisches Blut durch seine Adern pulsierte. Auch die Blutlinie seiner Frau Helene hatte er genau unter die Lupe genommen, bevor er um ihre Hand angehalten hatte. Besser gesagt sein Vater. Er verfügte über die nötigen Kontakte, die es dazu brauchte, und saß am richtigen Schalter, wenn es darum ging, die Mühlräder zum Laufen zu bringen.
Dieter Winter. Ein bedeutender Mann. Ein hohes Tier in der Politik. Ihm verdankte er selbstverständlich seine Position in der fremden Stadt im Süden von Deutschland. Er verdankte ihm seinen Platz im Jurastudium, das er nur mit seiner Hilfe geschafft hatte, er verdankte ihm seine Intelligenz, seinen scharfen Verstand. Natürlich erinnerte ihn sein Vater bei jeder einzelnen Begegnung daran, dass er noch nichts selbstständig erreicht hatte. Ein fremder Sohn. Ein Taugenichts. Ohne Führungsqualität. Ohne Durchblick. Ohne Macht. Er brauchte seinen Vater wie die Luft zum Atmen. Obwohl dieser mittlerweile den größten Teil seiner Zeit auf dem Familienwohnsitz in Preußen verbrachte, edle Rennferde züchtete und einmal die Woche auf die Jagd ging, so war er doch über all die Kilometer, die zwischen ihnen lagen, allgegenwärtig. Allgegenwärtig in seinen Entscheidungen, in seinen Gedanken, in seinen Taten. Als läge ein dunkler Schatten über ihm, als säße eine Marionette auf seiner Schulter, die ihn steuerte. Manipulierte. Aber war das nicht gut so? Hatte sein Vater nicht nur richtige Entscheidungen getroffen?
Der Einfluss seines Vaters schickte ihn über Berlin und München in die kleine Provinz, in diese elendige Kleinstadt. Hier unten sollte er Fuß fassen, angeblich, um Macht zu erlangen. Dieter Winter bezeichnete den Ort stets als die kleine Schwester Münchens. Eine Perle im Import und Export von Gütern, Knotenpunkt für das benachbarte Österreich. In München war der Nationalsozialismus eingeschlagen wie eine Bombe. Auch dort rannten die Bürger nach der Machtübernahme auf die Straßen und hielten Fackeln in die Luft. Ihre Euphorie schien einfach zu entflammen zu sein, so leicht, als würde man Benzin auf ein kleines Feuer schütten. Er würde derjenige sein, der die Flammen nährte und kontrollierte. Das war er seinem Vater schuldig.
Aber Erich Winter befand sich nicht wie von ihm gewünscht in der Landeshauptstadt. In München wollte er groß werden, sich einen Namen machen. Stattdessen war er hier unten, tief im Süden, wo die Luft nach Kuhmist schmeckte, wo die Menschen in einer unprivilegierten Mundart sprachen, die unvertraut in seinen Ohren klang, in einer Stadt, die andere Bräuche und Traditionen pflegte. Alles fremd. Zumindest gelang es ihm, schnell Kontakte aufzubauen. Kontakte, die ihm sein Vater empfohlen hatte.
Erwin Holzer, einem Parteigenossen, der als Jurist tätig war und Winter in seiner Kanzlei angestellt hatte, fühlte er sich eng verbunden. Obwohl Winter erst sechsundzwanzig Jahre alt war, behandelte Holzer ihn nicht wie einen Jüngling, der gerade die erste Berufserfahrung sammelte; Holzer behandelte ihn ebenbürtig.
Die Machteroberung stieß bei der Bevölkerung hier im Süden auf Begeisterung. Ein großes Problem stellten die Kommunisten dar. Nur zwei Wochen zuvor waren sie zu einer Versammlung in eines der Wirtshäuser gekommen, bei der sich einige Kommunisten unter die Parteimitglieder gemischt hatten. Die Männer der SA hatten sie gewaltsam vor die Tür setzen müssen. Daraufhin hatte das Gesindel einen Fahnenmast mit der Parteiflagge umgesägt. Die Kommunisten waren es auch gewesen, die Winters Frau niedergetrampelt hatten. Am liebsten hätte er sie der Reihe nach an den Bäumen aufgehängt. Leider war das nicht möglich. Noch nicht.
Winter setzte seinen Hut auf und sah auf seine goldene Taschenuhr. Ein Geschenk seines Vaters. Er war eine halbe Stunde zu früh dran, also würde er pünktlich bei Holzer in der Kanzlei ankommen. Helene lag noch immer im Bett. Sie brauchte Ruhe. Wer wohl in der Zwischenzeit den Haushalt führte, wenn sie herumlag wie Falschgeld? Darüber konnte er sich später noch Gedanken machen. Bald würde er sich eine Haushälterin leisten können.
Er stieg in sein Auto und fuhr durch die verschneiten Straßen, bis er die Kanzlei erreichte. Rasant bog er auf den Parkplatz ein und sperrte den Wagen ab. Als er die Kanzlei betrat, begrüßte ihn Holzer mit dem Hitlergruß. Er überragte Winter um einen Kopf, seine Haare färbten sich an den Seiten bereits grau. Ebenso sein voller Schnauzbart.
»Hast du’s schon mitbekommen? Die verdammten Kommunisten machen Rabatz«, kam er sofort zum Punkt. »Die ganze Innenstadt ist voll von ihnen. Ich habe bei Heinzmann angerufen und den Schnarchnasen bei der Polizei etwas Druck gemacht. Die sollen sich beeilen und die nette Zusammenkunft schnellstmöglich zerstreuen. Erst musste ich ihnen erklären, dass es erlaubt ist, den Roten einen Gummiknüppel über die Rübe zu hauen!«
Winter nickte zustimmend. Mit ihnen ging man viel zu achtsam um. Sie waren schließlich nicht aus Zucker. Gewalt erforderte Gegengewalt. Nach diesem Prinzip lebten selbst die primitivsten Tiere.
»Wir müssen etwas unternehmen, Erich. Die Kommunisten und Sozialisten aus dem Stadtrat rausbringen. Sie dürfen keinen Einfluss mehr haben, so einfach ist das. Meiner Meinung nach gehören die allesamt an die Wand gestellt und erschossen.«
»Schade um die guten Kugeln. Ein einfacher Strick reicht auch.« Holzer lachte, als hätte Winter einen Witz gemacht, doch es war sein voller Ernst.
»Über kurz oder lang werden wir sie schon los. Ich habe gestern mit Göring telefoniert. Auch er ist guter Hoffnung, dass die Partei noch mehr an Macht gewinnt. Er muss es ja wissen, wo der doch direkt an der Quelle sitzt. In erster Linie müssen wir die führenden Rosenheimer auf unsere Seite ziehen. Bürger, die uns von Nutzen sind. Bürger, die Einfluss haben. Anwälte. Architekten. Selbstständige. Ärzte.«
Ärzte. Sofort dachte Winter an Dr. Georg Sedlmayr. Er schien eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt zu sein. Aber wie ließ er sich ködern? Winter bildete sich das Misstrauen, das er in seiner Praxis gespürt hatte, sicher nicht ein. Sedlmayr hatte seine Frau bestmöglich versorgt, dennoch hatte er sich selbst in seiner Gegenwart wie ein kleiner Schuljunge gefühlt. Unwissend. Neugierig. Unprofessionell. Gut, da wusste Sedlmayr noch nicht, dass er Mitglied der SA war. Sonst hätte er ihm gewiss anderen Respekt gezollt. Aber er gab Holzer recht. Sie mussten die hohen Tiere für ihre Sache gewinnen, dann würden die Schafe schon folgen.
»Wie steht Göring zu den Entwicklungen? Was hält er von den Juden?«
»Dasselbe wie wir auch«, bestätigte Holzer. »Sie besetzen unser ganzes Land wie blutsaugende Zecken und treiben es in den Ruin. Die Juden sind elende Ausbeuter, die nur auf ihren Gewinn aus sind und den Hals niemals vollbekommen können. Göring meint, dass sie an der Inflation schuld gewesen sind. Unsere Aufgabe ist es, dem deutschen Volk die Augen zu öffnen. Aufklärung. Berichte in den Zeitungen. Woher sollen sie es auch wissen, wenn wir sie nicht informieren.«
Winter lauschte aufmerksam, sichtlich zufrieden damit, dass Holzer genau das aussprach, was auch in seinem Kopf vor sich ging. Sie mussten nun als Parteimitglieder die Verantwortung übernehmen, Aufklärung in den Schulen betreiben, Artikel für die Zeitungen schreiben. Am besten machten sie sich sofort an die Arbeit. Alle Geheimnisse entlarven und an die Öffentlichkeit bringen. Die ganze Stadt, das ganze Land, nein, ganz Europa sollte erfahren, wer die Juden wirklich sind.
»Am 6. Februar findet unsere Siegesfeier zu Ehren Hitlers statt. Wir müssen Stillschweigen bewahren, nicht dass plötzlich Kommunisten auftauchen und einen Aufstand machen.«
»Das wird wohl durchzuführen sein.«
»Genauso schlimm wie die Kommunisten sind diese Katholiken. Pfarrer Resch und Chorregent Pfaffenhuber. Ich habe die beiden eingeladen, doch sie wollen nichts davon hören. Machen einen auf unpolitisch. Glaub mir, die machen mir nichts vor. Sie verabscheuen die Partei. Sie verabscheuen Hitler.«
»Noch«, sagte Winter kalt. Jeder war kleinzukriegen. »Wie geht es deinen beiden Söhnen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln, da er spürte, wie die Wut unkontrollierbar in ihm aufkochte.
»Sehr gut, danke! Alfred ist jetzt Vorstand der Hitlerjugend. Er möchte wie ich Jura studieren. Ein Prachtbursche. Wie die Zeit vergeht, bald ist er achtzehn. Konrad eifert seinem Bruder nach. Er ist einer der sportlichsten Jungen in der Ortsgruppe.« Stolz schwang in Holzers Stimme mit.
»Das freut mich zu hören. Wenn Kinder von klein auf deutsch aufwachsen, dann werden sie auch anständige Deutsche. Schade, dass nicht jeder so denkt wie du, Erwin!«
Geschmeichelt fuhr sich der Anwalt durch den Schnauzbart und lächelte.
»Wie geht es Helene? Hat sie sich schon etwas erholt?«
»Wir waren gleich in der Nacht noch in der Praxis von Dr. Sedlmayr. Zwei Rippen sind gebrochen. Sonst zahlreiche Prellungen.«
Holzer schlug sich die Hand vor den Mund und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Du liebe Zeit! Du weißt hoffentlich, von wem Sedlmayr seine Medikamente bezieht, mit denen er deine Helene behandelt?«
»Nein«, sagte Winter.
»Er holt sie bei Hans Sternlicht. Diesem Juden mit der Apotheke in der Innenstadt.«
Plötzlich war Winters Hals staubtrocken und er hustete laut. Unfassbar. Wenn er das gewusst hätte, hätte er Helene woanders hingebracht. Doch genoss Sedlmayr nicht den besten Ruf?
Winter nahm sich fest vor, den Doktor direkt damit zu konfrontieren. Er konnte seine Medikamente schließlich auch in arischen Geschäften erwerben. Dafür musste er nicht bei einem Juden einkaufen.
»Erich, ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Lass uns in der Mittagspause weiterreden. Ich habe viele neue Fälle auf den Schreibtisch bekommen.«
Winter nickte und stand auf. Er glättete seine Uniform, riss den rechten Arm nach oben und verließ Holzers Büro, um in sein eigenes zu gehen. Auch er hatte viel Arbeit vor sich. Besser er fing gleich damit an.